Ob als gemugelter Cabochon über Reliquien, exakt geschliffene Kugel in passgenauer Goldschmiedefassung oder bekrönender Zapfen mit spiralförmig gedrehten Rippen – Bergkristall tritt in der mittelalterlichen Kunst auf vielfältige Weise in Erscheinung. Die Qualitäten, Einsatzmöglichkeiten und Zuschreibungen dieser Quarz-Varietät wurden in einem Großprojekt des Museums Schnütgen beleuchtet, das ebenso facettenreich wie das Material selbst gestaltet wurde. Mit etwa 30 passenden Objekten und ergiebigen Ansätzen aus vorherigen Ausstellungen weist die Institution sich als geeigneter Schauplatz für dieses Vorhaben aus. Um eine erfolgreiche Durchführung des Bergkristallprojektes im Angesicht der Covid19-Pandemie zu gewährleisten, setzt sich das Unterfangen aus vier aufeinander aufbauenden, eigenständig abschließbaren Teilprojekten zusammen: Auf die internationale Summer School in Kooperation mit der Universität zu Köln (07.09.–14.09.2021) folgte eine Fachtagung (15.09.–17.09.2021), deren Referent:innen auch als Autor:innen einzelner Aufsätze im selbstständigen Begleitbuch zur Ausstellung mitgewirkt haben. Die umfangreiche Publikation steht hier mit ausgewählten Aufsätzen im Fokus, gefolgt von einem Einblick in die Ausstellung.
Der einleitende Text von Manuela Beer bietet den Leser:innen einen zugänglichen Einstieg in die behandelten Inhalte der Publikation. Der Überblick wird von Cynthia Hahn fortgesetzt, die bereits im Jahr 2020 einen Sammelband zur kulturgeschichtlichen Forschung über Bergkristall zusammen mit Avinoam Schalem herausgegeben hat[1], worauf sich das Kölner Bergkristallprojekt stützt. Die anschließenden Aufsätze mit interdisziplinärem Anspruch gliedern sich in vier Themenbereiche, welche sich mit Materialität, Umgang mit antikem Gedankengut, Anwendung und Wirkung sowie sensuell erfahrbaren Eigenschaften rund um das Mineral auseinandersetzen.
Im ersten Abschnitt setzt Silke Ingenhorst die anspruchsvolle Hartsteinbearbeitung des sog. „Steinschnitts“ in Perspektive, denn Bergkristall wurde in einem spanenden Schleifvorgang sukzessive geformt. Mit diesem Wissen lässt sich insbesondere die Virtuosität der dünnwandigen Gefäße mit flächigem Dekor wertschätzen. Derartige Kristallarbeiten werden aufgrund ihrer technischen Finesse häufig summarisch als „fatimidisch“ bezeichnet, was im Aufsatz von Marcus Pilz problematisiert wird. Er fächert die Herkunft handwerklich hervorragender Bergkristallarbeiten auf und erläutert konzise die technischen sowie dekorativen Differenzen zwischen abbasidischer Hofwerkstatt, der hoch spezialisierten Produktion am fatimidischen Hof und einer parallel existierenden Werkstatttradition von einfacher gestalteten Objekten, die allesamt im christlichen Europa geschätzt und weitergenutzt wurden. Gewiss ist es der vorhergehenden Tagung zu verdanken, dass die Aufsätze hervorragend aneinander anknüpfen: Die in der hochmittelalterlichen „Schedula diversarum artium“ beschriebenen Techniken (Silke Ingenhorst) werden in einem Abgleich mit den aussagekräftigen Grabungsfunden einer Bergkristallwerkstatt im Bereich der Kölner Domimmunität (Jens Berthold) durch erhaltene Werkzeuge, Halbfabrikate und Abfälle konkretisiert. Anna Pawlik veranschaulicht wiederum die vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten der Bergkristalle aus Kölner Produktion durch Schreine, Reliquiare und Buchdeckel aus dortigen Kirchen und Museen. Die Texte bestechen durch ihr präzises Vokabular, welche die zahlreichen Gestaltungsformen in Bergkristallartefakten differenziert wiedergeben.
Mit einer Fülle antiker Objekte wird die nächste Gruppe von Aufsätzen eingeleitet, wobei Dietrich Boschung die Grenzen des empfindlichen und spröden Materials mithilfe einer fragmentierten Venusstatuette aus Bergkristall (Abb. 173, Kat. Nr. 133) anschaulich darlegt. Genevra Kornbluth betont die Produktion gefasster Bergkristallkugeln und facettierter Spinnwirtel in der Merowingerzeit, welche nicht, wie häufig angenommen, aus dem byzantinischen Osten importiert wurden. Der Übergang zu den christlichen Bergkristallarbeiten der Karolingerzeit wird mit erstklassigen Abbildungen begleitet. Die Detailaufnahme eines fragmentarisch erhaltenen römischen Intaglios (Abb. 239, Kat. Nr. 178) macht sogar die eingeritzte Skizze einer Taube auf der geschliffenen Oberfläche sichtbar. Derart reich bebildert ist auch der Rest des Begleitbandes, häufig in ganzseitigen Abbildungen, welche die Transparenz des Bergkristalls ohne störende Spiegelungen wirkungsvoll einfängt. Mit der Kombination von Bergkristallartefakten unterschiedlicher Herkunft zu einem Objekt beschäftigt sich Hiltrud Westermann-Angerhausen, wobei sie das Spektrum ihrer heterogenen Wirkmacht anhand geeigneter Beispiele eröffnet. Diese vielfältigen Einsatzmöglichkeiten von Bergkristallen werden im darauffolgenden Beitrag zum Halberstädter Tafelreliquiar (Uta-Christiane Bergemann) im Rahmen einer fokussierten Fallstudie einbezogen. Dies ist ein Beispiel der vielen kurzen Objektanalysen, welche als passende Zäsuren die Erzählstruktur der Publikation unterbrechen, angeschnittene Themen werkgebunden weiterführen und mit neuen Impulsen anschließende Texte vorbereiten. Gleichzeitig werden die Objekte in den übrigen Aufsätzen, losgelöst vom Aufbau der Sonderausstellung, mehrfach aufgegriffen und jeweils plausibel eingebunden. So werden die kristallenen Elemente gemäß den thematischen Schwerpunkten der Aufsätze nach unterschiedlichen Kriterien beleuchtet.
Im dritten Themenblock stellt sich Anna Kurtze der bis heute verbreiteten Annahme, dass der klare Kristall an Reliquiaren den Gläubigen einen ungehinderten Blick auf die Reliquien im Sinne eines mittelalterlichen „Schaubedürfnisses“ biete. Die in vorherigen Aufsätzen bereits angeschnittenen Argumente werden von Kurtze zusammengetragen und überzeugend ausgeführt: Vielmehr lässt sich eine Art „Visionseffekt“ annehmen, bei welchem die virtus des Heiligen einer Lichtquelle gleich durch das transparente Material dringt. Dass Bergkristall eindrucksvoll mithilfe transparenter und lichtbrechender Lasuren in der Ölmalerei abgebildet werden kann, zeigt Svenja Trübenbach prägnant in Darstellungen von kristallenen Realien, fantastischen Möbelstücken und klaren Weltkugeln in der Hand Christi. Kirsten Lee Bierbaum geht der Rolle und Bedeutung von Bergkristallartefakten im höfischen Milieu nach. Ausgehend vom im Band häufig genannten Plinius d. Ä. (23/24–79), nach dessen Auffassung der Kristall aus reinem Schnee oder gefrorenem Regenwasser gebildet werde, schildert die Autorin plausibel die zugeschriebene kühlende Wirkung von Gefäßen und Besteck aus Bergkristall an der höfischen Tafel, wo die kostbaren Artefakte nach antikem Vorbild Reichtum sowie herrschaftliche Großzügigkeit paradierten.
Der letzte Themenbereich rundet den Band mit einer naturwissenschaftlichen Untersuchung der sog. Visby-Linsen aus dem 11. Jahrhundert ab. Bernd Lingelbach und Olaf Schmidt-Kiy schildern einsichtsvoll die faszinierenden Eigenschaften der Objekte, welche sich dank ihrer asphärischen Fläche bestens als Leselinsen eigenen – obwohl eine solche zeitgenössische Nutzung nicht nachgewiesen werden kann. Ein gehaltvoller Ausblick auf Bergkristall als Schutz- und Heilmittel mit semantischer Aufladung (Manuela Beer) sowie ein kurzer Katalogteil mit Werk- und Literaturangaben beschließen den Begleitband.
Die Sonderausstellung im Museum Schnütgen (25.11.2022–19.03.2023) mit dem gleichnamigen Titel eröffnete exemplarische Zugänge zum Verhältnis des Bergkristalls zum Menschen. Der Eingangsbereich war von einer langen Stellwand eingenommen, auf welche Fotos der Kristallgrotte in Gerstenegg projiziert waren. Ein leises Tropfgeräusch ließ sich aus dem Lautsprecher unter der Decke vernehmen, während man sich in dieser atmosphärischen Inszenierung einem Strahler (Kristallsucher) gleich dem ersten Objekt näherte: Eine fast ein Meter breite Bergkristallstufe aus Arkansas stand hell erleuchtet im Raum. Einer Präfiguration gleich fanden sich die sechseckigen Säulen der Kristallbasen in den hexagonalen Raumabschnitten der Ausstellung wieder, durch welche die Besucher:innen mithilfe eines handlichen Kurzführers geleitet wurden. In 14 Themenbereiche geordnet, welche denen des Begleitbandes ähnelten, konnten rund 130 Werke der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kristallschliff- und Goldschmiedekunst bewundert werden. Dank freistehender Vitrinen für einzelne Objekte und strategisch platzierter Lichtspots wurde das wechselhafte Lichtspiel der gemugelten, facettierten und glatt geschliffenen Hartsteine erfahrbar. So ließen sich etwa die Kristalle in und auf den Firstkämmen der Schreine aus St. Pantaleon in Köln aus nächster Nähe bewundern, deren genaue Betrachtung in der Kirche selbst so nicht möglich ist. Einzelne Cabochons und Bergkristallbecher luden zum eingehenden Vergleich gegenüber den gefassten Exemplaren ein, was die Zusammenarbeit der verschiedenen Handwerker eindringlich vor Augen führte. Im Kontext der Körpernähe bei Amuletten und Anhängern hätte ein taktil erfahrbares Exponat, wie etwa ein nach historischen Techniken bearbeiteter Bergkristall, die referierte haptische und temperierende Wirkung passend ergänzt – insbesondere für jüngere Besucher:innen.
Die gelungene Ausstellung erfährt durch den Begleitband eine inhaltliche Tiefe, welche durch den selbstständigen Charakter der Publikation und die Vorarbeit durch Summer School und Tagung ermöglicht wurde. Das Projekt „Bergkristall“ wiederlegt erfolgreich überholte Forschungsthesen, veranschaulicht die komplexe Rolle des Minerals in antiken, mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Objekten und erweitert die Bergkristallforschung um interdisziplinäre Ansätze, womit es sich als wegweisend für materialfokussierte Untersuchungen erweisen könnte.
[1] Cynthia Hahn, Avinoam Shalem (Hrsg.): Seeking transparency. Rock Crystals Across the Medieval Mediterranean, Berlin 2020.
Beer, Manuela (Hrsg.): Magie Bergkristall, München: Hirmer Verlag 2022
ISBN-13: 978-3-7774-4053-8, 447 S., 55.00 Euro, Inhaltsverzeichnis
Empfohlene Zitation:
Adeline Schwabauer: [Rezension zu:] Magie Bergkristall (Museum Schnütgen, Köln, 25.11.2022–19.03.2023). In: ArtHist.net, 20.04.2023. Letzter Zugriff 07.11.2024. <https://arthist.net/reviews/39086>.
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