Während in der Geschichtswissenschaft die Zeit des Nationalsozialismus ein intensiv erforschtes Thema ist, ist sie in der Kunstgeschichte eine Marginalie. Zwar kam dem Kunstraub des NS-Regimes in den letzten beiden Jahrzehnten viel Aufmerksamkeit zu. Untersuchungen zur Kunstproduktion während des Nationalsozialismus blieben hingegen rar – und sie widmeten sich hauptsächlich der dezidiert NS-konformen Kunst. Eine der wenigen Ausnahmen war das Kolloquium „Überbrückt. Ästhetische Moderne und Nationalsozialismus“ (1997), welches Künstler und Kunsthistoriker in den Blick nahm, die „keinen Widerspruch zwischen moderner Kunst und totalitärem Regime sahen“ (S. 10). Als dessen Nachfolgeveranstaltung verstand sich das Kolloquium „Unbewältigt? Ästhetische Moderne und Nationalsozialismus. Kunst, Kunsthandel, Ausstellungspraxis“, das als Kooperationsveranstaltung in Berlin stattfand [1]. Dessen Ergebnisse sind nun im gleichnamigen Tagungsband erschienen.
In sechs Kapiteln werden das Spannungsverhältnis zwischen der ästhetischen Moderne und dem Nationalsozialismus sowie das Nachkriegsnarrativ einer vermeintlichen „Unvereinbarkeit von Moderne und Diktatur“ (S. 11) verhandelt. Im Zentrum der Beiträge stehen dezidiert die Akteur/innen – aus den Bereichen Kunst, Kunsthandel, Kunstgeschichte und Kulturpolitik – sowie deren Handlungsspielräume und -strategien. In der Einleitung zieht Christoph Zuschlag eine Forschungsbilanz und konstatiert, dass trotz signifikanter Fortschritte „vieles […] noch eingehender zu untersuchen [sei], gerade in Hinblick auf die bisweilen ambivalente und auch widersprüchliche Haltung und Rolle moderner Künstler im NS-Staat und die Mechanismen und Nachwirkungen kunsthistorischer Kanonbildung nach 1945“ (S. 31).
Das erste Kapitel fokussiert die grundlegenden Termini und Kategorien des Diskurses. Olaf Peters widmet sich in seinem Beitrag der „offizielle[n] Kunst des Regimes“ (S. 39). Resümierend räumt er zwar ein, dass die Untersuchung einzelner Künstler und Werke sinnvoll sei, eine umfassende kunsthistorische Erforschung der NS-konformen Kunstproduktion jedoch Gefahr laufe, „im Positivismus zu enden und einen qualitativen Kunstbegriff zu suspendieren“ (S. 48). Es irritiert, dass für einen Überblickstext zum Thema ausgerechnet ein Forscher angefragt wurde, dessen Argumentation der Dichotomie „gute moderne Kunst“ versus „schlechte NS-Kunst“ verhaftet bleibt. Differenzierter hingegen diskutieren Andreas Hüneke und Janosch Steuwer in ihren Beiträgen die Begriffe „entartete Kunst“ und „Nationalsozialisten“. Hüneke verweist zwar auf die Notwendigkeit von Kategorien. Welche Stile, Künstler oder einzelne Schaffensphasen als „entartet“ gelten sollten, lässt sich, wie er an einigen Fallbeispielen darlegt, jedoch nicht pauschal erfassen. Der Autor resümiert: „Die Unschärfe des Begriffs „entartete“ Kunst ist […] Teil der Machtstrategie eines totalitären Staates“ (S. 60). Ähnlich argumentiert Steuwer: Anhand von Tagebuchaufzeichnungen „einfacher“ Bürger belegt der Autor eindrücklich, wie unterschiedlich diese den Begriff „nationalsozialistisch“ auslegten und sich selbst einen Platz im neuen politischen System zuwiesen. Die Unschärfen der von der NS-Elite vermittelten Kategorien waren dabei essentiell.
Im zweiten Kapitel widmen sich die Autoren den Handlungsspielräumen einzelner Künstler. Am Beispiel des Kunsthistorikers und Arztes Hans Prinzhorn und des Künstlers Franz Karl Bühler zeichnet Thomas Röske den Umgang mit der Kunst von Patienten psychiatrischer Anstalten nach. Michael Nungesser nimmt den expressionistischen Maler und NS-Kulturfunktionär Otto Andreas Schreiber in den Blick. Julius Redzinski kontextualisiert das Schaffen und Selbstverständnis des Kriegsmalers Franz Eichhorst. Während Bühler seiner künstlerischen Tätigkeit in einem sehr eng gesteckten Rahmen nachging und bei der „Aktion T4“ ermordet wurde, waren Schreiber und Eichhorst aktive Akteure der Kunstvermittlung bzw. -produktion. Am Beispiel des letzteren werden neben der künstlerischen Ausrichtung und politischen Einstellung auch die ökonomischen Rahmenbedingungen als Handlungsfaktoren einer Künstlerexistenz thematisiert.
Im dritten Kapitel beleuchten Sebastian Peters, Eugen Blume und Meike Hoffmann einzelne Akteur/innen des Kunsthandels und deren Agieren im Nationalsozialismus. Im Fokus stehen hierbei weniger die gehandelten Objekte, denn vielmehr „tiefer liegende Motivationsmuster und Kausalitäten von […] Geschäften“ (S. 160), wie es Meike Hoffmann in Bezug auf Hildebrand Gurlitt formuliert. Die Forschungsergebnisse offenbaren die scheinbar widersprüchlichen Handlungsstrategien der Protagonist/innen: Anna Caspari, die aufgrund der NS-Rassenideologie verfolgt wurde, bemühte sich bis zuletzt um Handelsaktivitäten; der Max Beckmann verehrende Erhard Göpel war zugleich für den „Sonderauftrag Linz“ tätig; Hildebrand Gurlitt war Teil eines Netzwerks, welches sich „der Reanimierung der modernen Kunst vom Standpunkt eines „nordischen“ Expressionismus aus“ (S. 174) verschrieben hatte.
Mit einem interdisziplinären Blick wird im vierten Kapitel die Wechselwirkung von Kunst, Nationalsozialismus und Öffentlichkeit behandelt: Wolfram Pyta thematisiert anhand der autobiografischen Selbstdarstellungen von Emil Nolde, Karl Leipold und Fritz Behn die „genuin literarischen Strategien genialischer Selbstzuschreibung bildender Künstler“ (S. 182). Gerhard Paul plädiert nachdrücklich – und mit Verweis auf zahlreiche Desiderate – für eine systematische Erforschung der Bilderwelten des Nationalsozialismus mit den Methoden der Visual History. Michael Tymkiw diskutiert die Konzept- und Formatentwicklung der von der NS-Organisation „Kraft durch Freude“ organisierten Fabrikausstellungen. Und Volker Weiß untersucht in seinem Beitrag die motivischen Anleihen der Neuen Rechten, die sich unter anderem bei den Autoren Ernst Jünger und Arthur Moeller van den Bruck bedienen.
Dem Konstrukt „Moderne“ im Nachkriegsdeutschland nähert sich das fünfte Kapitel. Gregor Langfeld problematisiert die Rollen der Kunsthistoriker Alfred H. Barr Jr. und Werner Haftmann im Prozess der politischen Instrumentalisierung der deutschen Moderne und der Kanonisierung des Expressionismus in der Nachkriegszeit. Bernhard Fulda untersucht die Ego-Dokumente von Emil Nolde und führt eindrücklich vor Augen, wie der Künstler sich trotz seiner nationalsozialistischen Überzeugungen als politisch Verfolgter in Szene setzte. Dabei zeigt der Autor auf, wie die „Vorstellung der Autonomie der Kunst Teil einer Rhetorik der selbstrehabilitierenden Abgrenzung vom Nationalsozialismus wurde“ (S. 260). In dem Beitrag von Dorothea Schöne stehen die Auslandsausstellungen der Bundesrepublik Deutschland – respektive die institutionelle Beteiligung des Auswärtigen Amts an der Propagierung des deutschen Expressionismus als Vorläufer der abstrakten Kunstformen nach 1945 – im Mittelpunkt. Schließlich zeigt Christina Rothenhäusler am Beispiel von Eberhard Hanfstaengl auf, dass nicht nur die Künstler des Expressionismus in der Nachkriegszeit pauschal zu Gegnern des Nationalsozialismus stilisiert wurden, sondern auch Kunsthistoriker und Museumsfachleute, die sich während des NS-Regimes für die ästhetische Moderne eingesetzt hatten. „Als Anti-NS-Kunst wurde der Expressionismus jedoch vor allem nach 1945 interpretiert“ (S. 288), schreibt die Autorin.
Das letzte Kapitel umfasst Beiträge von Aya Soika, Bernhard Fulda und Meike Hoffmann, die maßgeblich an den zeitgleich stattfindenden Ausstellungen über Emil Nolde und die Künstler der „Brücke“ im Nationalsozialismus beteiligt waren [2]. Sie reflektieren, wie sich die in der Nachkriegszeit etablierten Narrative auf die Ausstellungspraxis ausgewirkt haben und stellen die Erkenntnisse aus ihren Ausstellungsprojekten vor. Den Schlussakkord des Bandes bildet die transkribierte Podiumsdiskussion zwischen den Museumsleiter/innen Lisa Marei Schmidt (Brücke-Museum, Berlin), Joachim Jäger (Neue Nationalgalerie, Berlin), Dorothea Schöne (Kunsthaus Dahlem, Berlin) und Christian Ring (Stiftung Seebüll Ada und Emil Nolde) über die Konsequenzen der vorgestellten Forschungsergebnisse für die museale Arbeit bzw. Möglichkeiten derer Präsentation. Es ist das stärkste Kapitel der Publikation, da sich darin das Hauptthema des Kolloquiums in aller Schärfe herauskristallisiert: Eine Trennung in „ästhetische Moderne“ und „Nationalsozialismus“, wie es in der akademischen Forschung und der musealen Praxis meist geschieht, lässt Lebenswirklichkeiten und teils ganze Schaffensphasen von Künstler/innen außen vor. Daher ist die historische Kontextualisierung neben die formal-ästhetische Betrachtung zu stellen.
In seiner Fülle an Einzelaspekten ist dieser im Verbrecher Verlag, auch in einer englischsprachigen Ausgabe, erschienene und ansprechend ausgestattete Tagungsband eine überaus lohnende Lektüre. Neben Beiträgen, die auf früheren Veröffentlichungen der Autor/innen basieren oder bereits bekannte biografische Verflechtungen aufgreifen, bietet der Band auch erstmals publizierte Forschungsergebnisse und verdichtet die Forschungstendenzen der vergangenen Jahre. Die Schwerpunktsetzung auf die Kunst des Expressionismus ist nicht zuletzt aufgrund der beiden einbezogenen Ausstellungen konsequent und schlüssig. Diese sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Konstellationen im Hinblick auf die Komplexe Moderne und Nationalsozialismus noch weitaus vielschichtiger sind und es bleibt zu hoffen, dass auch künftig Foren für deren Erörterung geschaffen werden.
[1] Das Kolloquium wurde initiiert von der Ferdinand-Möller-Stiftung und durchgeführt in Kooperation mit der Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin sowie der Forschungsstelle „Entartete Kunst“ der Freien Universität Berlin im Mai 2019 im Berliner Brücke-Museum bzw. im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart. Die Aufzeichnung ist online abrufbar: <https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/nolde_kolloquium> (20.01.2021)
[2] Die Ausstellung „Emil Nolde. Eine deutsche Legende. Der Künstler im Nationalsozialismus“ war in Berlin im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart zu sehen, die Ausstellung „Flucht in die Bilder? Die Künstler der Brücke im Nationalsozialismus“ im Brücke-Museum und im Kunsthaus Dahlem. Das Kolloquium war konzeptionell darauf abgestimmt und fand während der Laufzeit statt.
Hoffmann, Meike; Scholz, Dieter (Hrsg.): Unbewältigt? Ästhetische Moderne und Nationalsozialismus. Kunst, Kunsthandel, Ausstellungspraxis, Berlin: Verbrecher Verlag 2020
ISBN-13: 978-3-9573245-2-8, 372, 29,00 €, Inhaltsverzeichnis
Recommended Citation:
Darja Jesse: [Review of:] Hoffmann, Meike; Scholz, Dieter (Hrsg.): Unbewältigt? Ästhetische Moderne und Nationalsozialismus. Kunst, Kunsthandel, Ausstellungspraxis, Berlin 2020. In: ArtHist.net, Jan 20, 2021 (accessed Oct 9, 2024), <https://arthist.net/reviews/23603>.
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