REV-EX 22.03.2025

Il tempo del Futurismo

Galleria Nazionale d’Arte Moderna e Contemporanea GNAM(C), Rom, 02.12.2024–27.04.2025

Rezensiert von Lisa Hanstein, Larissa Maria Müller
Redaktion: Henry Kaap
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Selten hat eine Ausstellung im Vor- und Nachfeld zu so viel Diskussionen geführt, wie Il tempo del Futurismo (‚Die Zeit des Futurismus‘), die am 2. Dezember 2024 in der Galleria dell’Arte Moderna e Contemporanea, kurz GNAM(C) in Rom eröffnet wurde. Später als ursprünglich geplant, wurden zum achtzigsten Todestag von Filippo Tommaso Marinetti (1876–1944), dem Gründer des italienischen Futurismus, in insgesamt 26 Räumen des GNAM(C) Museums rund 350 Werke sämtlicher Phasen des Futurismus und darüber hinaus gezeigt.

Fast könnte man geneigt sein, die laute Polemik vorab als Werbestrategie im Stil des heroischen Futurismus zu deuten, wäre es doch durchaus im Sinne ihrer Akteure gewesen, durch viel Krawall auf ihre Programmatik aufmerksam zu machen. Schlägereien und das Bewerfen mit Nahrungsmitteln waren bekanntlich Teil des allseits beliebten Standardprogramms der sogenannten serate futuriste (‚Futuristischen Soirées‘). Öffentlich ausgetragene Kontroversen, ‚laute‘ Rhetorik und das Werfen von Flugblättern gehörten zur Methode der futuristischen Bewegung, die auch vor negativer Aufmerksamkeit nicht zurückschreckte, um ihre Ideen und Manifeste zu verbreiten. Dass allerdings während den Vorbereitungen einer retrospektiven Ausstellung zum italienischen Futurismus 2024/25 das wissenschaftliche Komitee von Expert:innen des Futurismus, die sich seit vielen Jahren erfolgreich dafür einsetzen, die Heterogenität der Bewegung aufzuarbeiten, durch eine organisatorische Kommission ersetzt wurde, deren Entscheidungen insbesondere von der Politik beeinflusst wurden, hätte sicher auch damals für Empörung gesorgt.

Hauptgrund für diese Polemik und das lawinenartige Auftreten negativer Kritik ist die Tatsache, dass diese Ausstellung von einem Minister und nicht etwa von einem wissenschaftlichen Gremium entwickelt wurde, wie ursprünglich vorgesehen war. Inmitten der zweijährigen Konzipierungsphase der Ausstellung kam es zu überraschenden, teils drastischen personellen Veränderungen, Kürzungen im Budget, sowie bei den Leihgaben und somit zu einer gänzlichen Umgestaltung des kuratorischen Programms. Die Berichterstattung hinsichtlich der Politisierung in der Vorbereitung dieser Kunstausstellung konfrontiert die Besucher:innen, rund hundert Jahre nach einer faschistischen Regierung in Italien und anderen Teilen Europas, mit beunruhigenden Fragen hinsichtlich der Instrumentalisierung von Kunst durch die Politik.[1]

Der Titel Il tempo del Futurismo verweist auf eines der Hauptthemen der futuristischen Ästhetik (Zeit im Sinne von Dynamik, Geschwindigkeit, Simultaneität) und impliziert die Vielfältigkeit dieses Konzeptes. Einerseits betont dieser Titel die lange Zeitspanne der futuristischen Bewegung von 1909–1944, im Sinne einer diachronen Entwicklung. In der Ausstellung wird dies durch den chronologischen Aufbau der Ausstellungskonzeption deutlich, die sich von den Vorläufern bis hin zu Beispielen eines kulturellen Erbes des Futurismus in der zeitgenössischen Kunst erstreckt. Andererseits reflektiert der Titel auch Zeitlichkeitskonzepte aus dem naturwissenschaftlichen und philosophischen Kontext des Futurismus. Besonders bedeutend waren hierbei Henri Bergsons Interpretation der longue durée, Albert Einsteins Relativitätstheorie sowie auch Benedetto Croces Zeitlichkeitsmodelle, um einige wenige Beispiele zu nennen. Zusammen mit den neuesten Entdeckungen der Röntgenstrahlen, der Telekommunikation und den Spekulationen zum Äther und zur Vierten Dimension, sollten sie zur Auflösung der bisher bekannten Vorstellungen von Zeit und Raum führen und in Kunst und Literatur ihre Spuren insbesondere durch ein verändertes Form- und Farbvokabular hinterlassen. Darauf scheinen sich der Kurator Gabriele Simongini und die Direktorin des Museums Renata Cristina Mazzantini zu beziehen, wenn sie Marinettis berühmte Worte aus dem Manifest L’Immaginazione senza fili in Erinnerung rufen, die „eine vollständige Erneuerung der menschlichen Sensibilität aufgrund der bahnbrechenden wissenschaftlichen Entdeckungen“[2] beschreiben.

Konträr zu diesen im Pressetext punktuell vorhandenen Hinweisen für den Futurismus relevanter Diskurse, fokussiert das kuratorische Konzept der Ausstellung hauptsächlich auf den technischen Aspekt des zeithistorischen Kontextes. Dessen Bedeutung machte die Ausstellung durch die Gegenüberstellung futuristischer Werke mit einigen der technologischen und technischen Errungenschaften der Epoche deutlich. Die zahlreichen Gemälde, Skulpturen, literarischen Publikationen und Manifeste werden mit ausgewählten Objekten und Geräten jener Zeit in einen Dialog gestellt: Diese sind beispielsweise zwei italienische Automobile von Fiat 1913 und Maserati 1934, eine Bogenlampe, ein Grammophon, ein Filmprojektor und ein lärmendes Wasserflugzeug mit der Bezeichnung Macchi Castoldi MC 72. Das den Raum und die Aufmerksamkeit einnehmende Flugzeug, dessen Propeller sich gelegentlich drehte, gab röhrende Geräusche von sich und wurde passenderweise neben futuristischen Werken der Aereopittura (‚Flugmalerei‘) platziert. Betont wird in der Ausstellung folglich vor allem die Geschwindigkeit als ein Teilaspekt der Zeit. Diese Gegenüberstellung gründet auf einer validen kuratorischen Entscheidung. Wünschenswert wären hierbei jedoch ausführlichere erläuternde Begleittexte in den Ausstellungsräumen gewesen, die die genannte Bedeutsamkeit der Exponate für die Kunst und Ästhetik des Futurismus aufzeigen und kontextualisieren. Die von den Futuristen genannte „neue Sensibilität“[3] und die transzendente Dimension dieser Strömung hätte anhand manch eines Objektes, wie etwa des Röntgenapparates, evident erläutert werden können.

So werden die Besucher:innen der einzelnen Sektionen weitgehend sich selbst überlassen. Die Zuordnung in Themenkomplexe wie ‚Vorläufer des Futurismus‘, ‚Analytischer und dynamischer Futurismus‘, ‚Rekonstruktion des Universums‘, ‚Mechanische Kunst‘, ‚Flugzeugkunst‘, ‚Kosmischer Idealismus und dessen Entwicklungen‘, ‚Erbe des Futurismus nach dem 2. Weltkrieg‘, ‚Religiöse Kunst‘, ‚Film‘, ‚Architektur‘ und ‚Telekommunikation‘ unterstützte geringfügig die Orientierung.

Beginnend mit den Vorläufern im Divisionismus bis hin zu den Auswirkungen in der Arte Povera und der zeitgenössischen Kunst wird auf einer beeindruckenden Ausstellungsfläche von über 3000 Quadratmetern ein nachvollziehbarer Bogen geschlagen. Ergebnis ist eine – futuristisch reizüberflutende – Fülle an Werken. Auch die Multidisziplinarität der futuristischen Strömung wird anschaulich abgebildet und erfüllt den didaktisch intendierten Anspruch des Kurators.

Neben bekannten und häufig ausgestellten Beispielen futuristischer Kunst fanden sich auch hochkarätige und in Italien seltener sichtbare Leihgaben, wie beispielsweise Ballas Lampada d’arco, dem berühmten Gemälde der Bogenlampe aus dem MoMA in New York und andere Hauptwerke des Futurismus wie Boccionis Idolo Moderno aus der Estorick Collection London. Selbst Marcel Duchamps Akt eine Treppe hinuntersteigend in der selteneren Version No. 1 aus dem Philadelphia Museum of Art wird den chronofotografisch anmutenden Gemälden Giacomo Ballas entgegengestellt. Die Bandbreite des Futurismus wird von Ballas farbenfrohen Herrenwesten und Möbelstücken, futuristischen Filmen wie Thaïs von Anton Giulio Bragaglia, den literarischen Texten Marinettis im Stile der futuristischen ‚parole in libertà‘ (‚Worte in Freiheit‘), den Werbegraphiken und Wandteppichen von Fortunato Depero bis hin zu den beindruckenden von Pietro Verardo nachgebildeten Intonarumori von Luigi Russolo – Vorläufer der heutigen elektronischen Musik – reflektiert. Besonderen Seltenheitswert hatten auch die ausgestellten Puppen von Enrico Prampolini, die teils berühmte Personen der 1920er karikieren, teils abstrakte Konzepte wie die Welt figurieren.

Umso mehr erstaunt es, dass die wichtigste futuristische Skulptur, Boccionis Forme uniche della continuità nello spazio, nicht im Original (São Paulo) und nicht als Bronzeabguss (Rom, Tokio, New York, Mailand, Mannheim, [u.a.]), sondern ‚nur‘ Roberto Bilottis Exemplar einer Surmoulage, also eine Kopie der Kopie ausgestellt wurde. Dieser Umstand und die Rücknahme der Leihgabe durch Bilotti nach nur 10 Tagen führte u.a. zu interessanten Fragen hinsichtlich des Wertes von Reproduktionen von Originalkunstwerken.[4] Des Weiteren wird der Kunstmarkt von kritischen Stimmen hinterfragt, da die Ausstellung vereinzelter Kunstwerke mit zweifelhafter Datierung den Wert ebendieser Exponate verändern können.[5]

Nichtsdestotrotz, die futuristischen Exponate im Original zu betrachten, haben den Besuch dieser Ausstellung des GNAM(C) in jedem Fall lohnend gemacht. Die Konzeption der Ausstellung hinterlässt allerdings offene Fragen. Wenngleich die Organisator:innen der Ausstellung ein eher junges Publikum als Zielgruppe ansprechen wollten,[6] erscheint das Resultat doch recht plakativ und unterstreicht das übliche Klischee eines eindimensionalen rein technikaffinen Futurismus – eine einerseits faszinierende Relevanz in Zeiten künstlicher Intelligenz und eine gleichzeitig so gefährliche Dynamik komplexer politischer Dimensionen, welche sich in zyklischen Zeitmodellen zu wiederholen und die Brisanz zu verflachen scheinen. Ist es bei einer Ausstellung mit dem Titel Die Zeit des Futurismus nicht an der Zeit die longue durée gewisser Narrative zu überwinden?

Die Euphorie, die bei Besucher:innen angesichts so vieler beeindruckender Werke ausgelöst werden kann, reduziert sich durch die Konzentration auf das übliche stereotype Bild der Bewegung. Während der Futurismus in den vergangenen Jahrzehnten wissenschaftlich zunehmend aufgearbeitet wurde, reflektierte die Ausstellung diese Erkenntnisse kaum. In Anbetracht dieser Perpetuierung des eindimensionalen Topos einer Technikverherrlichung erscheint die quantitative Reizüberflutung beinahe wie ein Ablenkungsmanöver von dieser problematischen kuratorischen Grundsatzentscheidung. Ebenso muss einen erstaunen, wie der Kurator die Verbindungen zwischen Futurismus und Faschismus aus der Präsentation ausgespart hat. Die Ergebnisse der Faschismusforschung und der Studien zu Futurismus und Politik wurden stark vernachlässigt. Hier hätte man sich mehr historische Reflexion und Geschichtsbewußtheit gewünscht. Weiter wurde der facettenreiche Futurismus in dieser Ausstellung auf seine italienischen männlichen Mitglieder reduziert: lediglich fünf Frauen waren mit Werken vertreten. Die kommentarlose Gegenüberstellung der futuristischen religiösen Kunst mit Renato Bartellis Büste des sogenannten Duce, löste des Weiteren nicht nur Verwunderung aus. Man hätte erwartet, dass die Forschungsergebnisse der zahlreichen (Kunst-)Historiker:innen, die seit Jahrzehnten daran arbeiten die Narrative einer misogynen, religionsverachtenden, nationalistischen und dem Faschismus zugewandten Bewegung aufzuarbeiten und zu überwinden, Eingang in eine Retrospektive dieser Dimension finden.

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[1] Ein kontinuierliches Update lieferte durch zahlreiche Artikel zum Thema Artribune: https://www.artribune.com/arti-visive/arte-contemporanea/2024/12/mostra-futurismo-roma-gnamc- (27.02.2025). Darüber hinaus sei an dieser Stelle für weiterführende Informationen insbesondere auf folgende Kommentare und Interviews verwiesen: Alberto Dambruoso: https://www.cusanomediaplay.it/puntata/1598/gli-stati-uniti-post-voto,-il-caso-pantaleoni-e-dambruoso (27.01.2025). Sowie die wesentlichen Einblicke von Günter Berghaus in die Hintergründe der Konzeptionsphase: https://www.ilgiornaledellarte.com/Articolo/Futurismo-alla-Gnam-Berghaus-Il-mio-nome-sarebbe-stato-una-foglia-di-fico-su-un-imbarazzante-disastro (27.02.2025). Ebenso der Beitrag von Giorgio Mottola, Report vom 27/10/2024, auf RAI 3: https://www.raiplay.it/video/2024/10/Boccia--Boccioni---Report-27102024-c3d02e94-d756-4813-a00c-dbc914820e1b.html (27.02.2025). Sehr erhellend hinsichtlich des Schicksals der Kommission ist auch ein Kommentar von Massimo Duranti: https://www.ilgiornaledellarte.com/Articolo/Io-Massimo-Duranti-fantasma-del-comitato-scientifico-che-non-ce-della-strana-mostra-sul-Futurismo-alla-Gnam (27.02.2025). Kritik an der Politik findet sich u.a. in The New York Times, s. Elisabetta Povoledos Beitrag https://www.nytimes.com/2024/12/13/world/europe/futurism-exhibition-rome.html (27.02.2025).

[2] “[C]ompleto rinnovamento della sensibilità umana avvenuto per effetto delle grandi scoperte scientifiche”, in: L' immaginazione senza fili e le parole in libertà. Manifesto futurista / F. T. Marinetti. Milano: Direzione del Movimento Futurista, 1913. Zitiert in den vorab veröffentlichten Pressetexten “Il Futurismo è oggi” des Kurators Gabriele Simongini und “Il Tempo del Futurismo” der Direktorin des GNAM(C) Museums Renata Christina Mazzantini (es handelt sich hierbei jeweils um Auszüge aus dem Ausstellungskatalog): https://media.cultura.gov.it/mibac/files/boards/be78e33bc8ca0c99bff70aa174035096/Comunicati/2024/Futurismo%20Mostra%20GNAM/documenti/4.%20Testo%20Gabriele%20Simongini.pdf (27.01.2025) sowie https://media.cultura.gov.it/mibac/files/boards/be78e33bc8ca0c99bff70aa174035096/Comunicati/2024/Futurismo%20Mostra%20GNAM/documenti/3.%20Testo%20Renata%20Cristina%20Mazzantini%20DEF.pdf (27.01.2025). Das Zitat befindet sich jeweils auf der ersten Seite, bei Marinetti, bei Simongini und Mazzantini.

[3] S. Zitat Marinetti, Fn. 2.

[4] Palmieri, Ludovica: La più importante scultura della mostra del Futurismo a Roma ritirata dal prestatore: ‘Preoccupato che la danneggiassero’. 20.12.2024. In: Artribune: https://www.artribune.com/arti-visive/arte-contemporanea/2024/12/mostra-futurismo-roma-gnamc-ritiro-opera-boccioni-bilotti/ (27.01.2025).

[5] Es fanden sich von Künstlern selbst vordatierte Werke, sowie unsichere Datierungen voriger Besitzer:innen. Dazu kommt die Unstimmigkeit der ausgestellten Werke mit den Listen der Exponate, s. Carpi, Giancarlo: La mostra sul Futurismo a Roma è piena di prestiti saltati e ‚presenze false‘ di opere. 16.02.2025. In: Artribune: https://www.artribune.com/arti-visive/arte-moderna/2025/02/incongruenze-mostra-futurismo-gnamc-roma/ (28.02.2025).

[6] Pressetexte, s. Fn. 2.

Simongini, Gabriele (Hrsg.): Il tempo del Futurismo., Rom: Treccani 2024
ISBN-13: 978-88-12-01229-9

Empfohlene Zitation:
Lisa Hanstein, Larissa Maria Müller: [Rezension zu:] Il tempo del Futurismo (Galleria Nazionale d’Arte Moderna e Contemporanea GNAM(C), Rom, 02.12.2024–27.04.2025). In: ArtHist.net, 22.03.2025. Letzter Zugriff 23.03.2025. <https://arthist.net/reviews/44831>.

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