Wissenschaftsjahr 2007
"Die Geisteswissenschaften in den deutschsprachigen Feuilletons" ist
eine wöchentliche Presseschau, die der Perlentaucher in Kooperation mit
dem Wissenschaftsjahr 2007 "Die Geisteswissenschaften. ABC der
Menscheit" herausgibt. H-ArtHist veröffentlicht als Medienpartner der
Initiative eine Auswahl der Beiträge.
Aus den Feuilletons vom 12. - 18. 9. 2007
Im Blickpunkt
Diskussion um die "Israel-Lobby" in den USA
In der taz unterhält sich Robert Misik mit dem Historiker Tony Judt über die
umstrittenen Thesen seiner Kollegen John Mearsheimer und Stephen M. Walt zum
vermeintlich übergroßen Einfluss der amerikanischen Israel-Lobby. Judt weist
den Verdacht des Antisemitismus entschieden zurück: "Ich glaube nicht, dass
wir den Antisemitismus fördern, wenn wir eine offene Debatte führen. Den
Antisemitismus fördern wir, wenn wir auf der einen Seite moralische
Imperative aufstellen und gleichzeitig eine kritische Debatte über die
israelische Politik unterdrücken, wenn wir ein künstliches Schweigen
erzwingen."
In der Süddeutschen dagegen hält der in Berlin lehrende Historiker Thomas
Risse das Buch für vor allem wissenschaftlich unseriös: "Die Aufsätze und
nun auch das Buch der beiden Autoren lassen Grundregeln wissenschaftlicher
Argumentation vermissen. Dazu gehört, die verwendeten Konzepte klar zu
definieren. Man sollte auch nicht nur die empirischen Belege anführen, die
die eigene Position unterstützen, sondern auch Gegenpositionen kritisch
beleuchten. An diese Regeln halten sich Mearsheimer und Walt nicht."
Ganz ähnlich argumentiert auch Micha Brumlik in seiner in der NZZ
veröffentlichten Rezension: "Es geht nicht um das Gerücht, das dem Buch 'Die
Israel-Lobby' von John Mearsheimer und Stephen Walt vorauseilt: Weder sind
seine Autoren, die dem konservativen Teil des politischen Spektrums
zugehören, Antisemiten, noch ist das Buch selbst antisemitisch. Eher
verdeckt der Antisemitismusvorwurf gegen die Streitschrift deren
wissenschaftliche Haltlosigkeit."
taz, 12.9.
http://www.taz.de/index.php?id=digitaz-artikel&ressort=me&dig=2007/09/12/a01
20&no_cache=1&src=GI
SZ, 18.9.
http://www.sueddeutsche.de/kultur/artikel/541/133293/
NZZ, 12.9.
[Geschichte, Zeitgeschichte]
Themen der Woche
Plädoyer für europäische Mehrsprachigkeit
Gerhard Leitner, Professor für englische Philologie in Berlin, fordert im
Tagesspiegel eine aktive Politik des Umgangs mit der englischen Sprache, die
nicht auf eine Unterordnung der lokalen unter die Weltsprache hinauslaufen
dürfe: "Sprachenpolitik muss sich diesen Themen öffnen, inhaltlich
kohärenter auf die Widersprüche zwischen dem, was man Spracheninnenpolitik,
und dem, was man Sprachenaußenpolitik nennt, reagieren. Wozu fördern
Auswärtiges Amt, Goethe-Institut und Deutscher Akademischer Austauschdienst
Deutsch, wenn Wirtschaft, Wissenschaft und Öffentlichkeit auf das Englische
setzen? Wozu fordert man von Migranten Deutsch, wenn ausländische
Wissenschaftler sich mit Englisch begnügen können? Die Lösung kann kein
Wettstreit mit dem Englischen, sondern eine europäische Mehrsprachigkeit
sein."
Tagesspiegel, 17.9.
http://www.tagesspiegel.de/magazin/wissen/Sprache;art304,2380998
[Linguistik]
Der Begriff der "Rasse" im Spätmittelalter
Jürgen Kaube referiert in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung einen
Aufsatz des Historikers Valentin Groebner, in dem dieser der Frage nachgeht,
ab wann in Europa über "Rasse" und "Rassismus" zum Thema werden: "Dabei geht
er auf das 13. Jahrhundert zurück, als es zwar nur sehr wenige Afrikaner in
Europa gab, der Gelehrte Albertus Magnus aber gleichwohl in seinem 'De
natura loci' sehr spezielle Befunde über die körperliche Hitze schwarzer
Frauen und ihre sexuellen Begierden mitteilte. In Wolfram von Eschenbachs
'Parzifal' ehelicht der Vater des Helden eine schwarze Prinzessin und hat
mit ihr den gefleckten Sohn Feirefiz. Andere Quellen erzählen von weiblichen
Abgesandten der Mohrenkönigin, die christlichen Rittern mit Sex das
Heidentum schmackhaft machen sollen."
FAS, 16.9.
[Geschichte]
Der Mythos von der "Rückkehr der weißen Götter"
Der in St. Gallen lehrende Altamerikanist Peter Hassler widmet sich in einem
ausführlichen Essay in der NZZ dem Mythos von der "Rückkehr der weißen
Götter", der Motecuçoma Niederlage mit dessen Glauben erklärt, die weißen
Eroberer seien in Wahrheit Götter, denen er gehorchen muss. Diese
Geschichte, so Hassler, ist Unfug: "Motecuçoma hatte wiederholt versucht,
die Spanier und ihre indianischen Verbündeten auf ihrem Marsch in die Stadt
zu stoppen und zur Umkehr zu bewegen. Nicht zuletzt waren die Spanier lange
vor der Ankunft von Cortés im Jahr 1519 den Maya und anderen Völkern
Mesoamerikas bekannt gewesen (...) 1518 begegnete Juan de Grijalva während
seiner Erkundungsfahrt entlang der mexikanischen Golfküste einem Abgesandten
von Motecuçoma. Schließlich herrschten zwischen den Völkern im yukatekischen
Tiefland und im mexikanischen Hochland, aber auch bis zu den Antillen rege
Handelsbeziehungen, mit denen auch der Austausch von Nachrichten verbunden
war. Die indianischen Völker Mesoamerikas haben die Spanier nicht als Götter
betrachtet. Die angebliche 'Rückkehr der weißen Götter' ist somit bloße
Fiktion der Geschichtsschreibung sowie ein Rechtfertigungsversuch der
europäischen Eroberer."
NZZ, 15.9.
http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/literatur_und_kunst/die_weissen_goetter
_1.555291.html
[Altamerikanistik, Geschichte]
Für den menschlichen Umgang mit Robotern
In einem Essay in der Welt hält der Wirtschafts- und Sozialhistoriker
Hans-Arthur Marsiske ein Plädoyer für den menschlicheren Umgang mit Robotern
in Zeiten, in denen diese immer stärker unsere Arbeits- und Lebenswelt
bestimmen: "Ja, es sind Werkzeuge. Aber es sind die komplexesten und
vielseitigsten Werkzeuge, die es je gab. Und sie werden immer intelligenter.
Ob es einen Grad der Intelligenz gibt, von dem an Roboter so etwas wie einen
eigenen Willen und Leidensfähigkeit entwickeln, kann heute niemand mit
Gewissheit sagen. Was vergeben wir uns, wenn wir den Roboter von vornherein
als einen empfindsamen Partner statt als seelenlose Maschine konzipieren?
Roboter sind letztlich Spiegelbilder des Menschen, die uns viel über uns
selbst lehren können. Dafür haben sie allemal Dank und Respekt verdient."
Welt, 13.9.
http://www.welt.de/welt_print/article1179647/Sklave_oder_Spielgefaehrte.html
[Zeitgeschichte]
Internationale geisteswissenschaftliche Kollegs in Berlin, Bochum und Weimar
Im Tagesspiegel meldet Amory Burchard die Vergabe großer Fördersummen nach
Berlin, Weimer und Bochum und stellt das Berliner Institut für
Theaterwissenschaft ausführlicher vor: "Berlin wird zu einem Zentrum der
Theater- und Tanzforschung, das Wissenschaftler aus aller Welt anziehen
soll. An der Freien Universität entsteht ein 'Internationales
geisteswissenschaftliches Kolleg' zur Verflechtung von Theaterkulturen'. Die
Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte und die Tanzwissenschaftlerin
Gabriele Brandstetter haben sich in einem bundesweiten Wettbewerb gegen die
Konkurrenz von 35 Projekten durchgesetzt und eines von drei durch das
Bundesforschungsministerium geförderten Kollegs nach Berlin geholt.
Erfolgreich waren auch ein Vorhaben der Bauhaus-Universität Weimar zur
Kulturtechnikforschung und eines von der Ruhr-Universität Bochum zur
Religionswissenschaft. Die Kollegs werden für zunächst sechs Jahre
eingerichtet und sind mit insgesamt 28 Millionen Euro finanziert."
Tagesspiegel, 13.9.
http://www.tagesspiegel.de/magazin/wissen/Kolleg;art304,2378307
[Theaterwissenschaft, Religionswissenschaft, Kulturwissenschaft,
Geisteswissenschaften]
Zum 100. Geburtstag des Literaturwissenschaftlers Karl Schmid
Anlässlich seines 100. Geburtstags erinnert Martin Meyer in der NZZ an den
Schweizer Literaturwissenschaftler Karl Schmid, der weit über die Grenzen
seines Faches hinaus Wirkung entfaltete: "Als nachdenklicher Germanist war
Schmid zunächst hervorgetreten, mit Arbeiten über Hermann Hesse und Thomas
Mann und über das Idyllische. Aber rasch wandte er sich auch politischen und
allgemein kulturellen Themen zu, die ihm der Zeitgeist zu diktieren schien
wobei er oftmals ebenso pointiert wie eigenwillig argumentierte. Karl Schmid
war Patriot. Das hatte damals, in den vierziger und fünfziger Jahren, nichts
Verdächtiges an sich. Zugleich dachte er europäisch, und er verstand es mit
Brillanz, die Erkenntnisse und Theorien der Sozialpsychologie für seine
Ideen zu nutzen."
NZZ, 18.9.
http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/aktuell/europa__und_die_schrift_im_spie
gelbild_1.556863.html
[Literaturwissenschaft]
Bücher und Rezensionen
Für geradezu unverzichtbar für die aktuellen Diskussionen um
Mohammed-Karikaturen und das Verhältnis des Islam zur bildlichen Darstellung
hält Stefan Weidner das Buch "Bilder und Bilderverbot im Islam. Vom Koran
bis zum Karikaturenstreit" der Islamwissenschaftlerin Silvia Naef: "Naef
wartet, Gott sei Dank, nicht mit einer eigenen Großtheorie auf, sondern geht
ad fontes, zu den islamischen Quellen. Das erste wichtige Resultat besteht
darin, mit der von der älteren Orientalistik aufgebrachten, mittlerweile
unser aller (auch der Muslime) Blick auf den Islam beherrschenden Meinung
aufzuräumen, es gebe so etwas wie eine 'semitische Abneigung' gegen das
Bild. Es gibt sie nicht. Was den Islam in ikonologischer Hinsicht vom
Christentum unterscheidet, ist die Ablehnung der Verwendung von Bildern als
Kultgegenstände. Wer dem Islam Bildfeindlichkeit vorwirft, setzt daher nur
den aus der eigenen religiösen Praxis vertrauten Umgang mit Bildern
unhinterfragt als selbstverständlich voraus."
SZ, 18.9.
[Islamwissenschaft]
[Bild]
Renommierte Forscher aus den USA und Europa haben zu dem vom US-Historiker
Robert Aldrich herausgegebenen Sammelband zur globalen Geschichte der
Homosexualität (Titel des Buches: "Gleich und anders") beigetragen. Wilhelm
Trapp lobt das alles andere als einfache Unternehmen: "Der üppig und
unzimperlich illustrierte Band überwältigt mit zahllosen Beispielen der
geduldeten, institutionalisierten und künstlerisch expressiven
Gleichgeschlechtlichkeit, vom effeminierten Mahoo Polynesiens bis zur
chinesischen Pornoliteratur, die schon im 17. Jahrhundert als Anthologie
erschien." Es werden die "Nöte einer Homosexualitätsgeschichte nicht
verschwiegen. Denn es ist eine Geschichte, die sich aus vergifteten Quellen
speist: Aus eifernden Pamphleten, aus schaudernd sprachlosen Reiseberichten,
aus Gerichtsakten. (...) Und weibliche Sexualität galt meist als so
unwichtig, dass sie nicht mal zum Skandal taugte - das Buch räumt den Frauen
einigermaßen erfolgreich Platz ein."
Zeit, 13.9.
[Geschichte]
Konferenzen und Tagungen
Tagung zum Siebenjährigen Krieg
Auf der Geisteswissenschaften-Seite der Zeitung informiert Andreas Kilb die
Leser der FAZ über eine Potsdamer Tagung zum Siebenjährigen Krieg - dessen
Bedeutung heute oft nicht richtig gesehen werde: "Den Historikern heute geht
es, nicht nur der zeitlichen Entfernung wegen, anders als Voltaire: Sie
unterschätzen die Bedeutung des Siebenjährigen Krieges erheblich. Dabei war
es der erste global ausgetragene Staatenkonflikt, der erste auch, bei dem,
wie Olaf Asbach (Augsburg) erklärte, Europa nicht nur Auslöser, sondern auch
Spielball ökonomischer Interessen war, über deren Durchsetzung auf anderen
Kontinenten entschieden wurde. Das vielgerühmte System des Gleichgewichts
der Mächte, das England in seinen Kriegen gegen das Frankreich Ludwigs XIV.
durchgesetzt hatte, wurde dabei gleich zu Beginn außer Kraft gesetzt. Die
Konvention von Westminster, die Friedrich II. im Januar 1756 mit den
Engländern schloss, um sich gegen ein österreichisch-russisches Bündnis
abzusichern, brüskierte seine französischen Verbündeten und brachte deren
Bündnisverhandlungen mit dem Erbfeind Österreich zu beschleunigtem
Abschluss."
FAZ, 12.9.
[Geschichte]
Die Rache der Philologen: Tagung in Heidelberg
Ebenfalls auf der Geisteswissenschaften-Seite der FAZ berichtet Friederike
Reents von einer hochkarätig besetzten Heidelberger Konferenz über die
Aktualität der Philologie. Insbesondere ein Vortrag hat sie fasziniert:
"Eine ideale Mischung von Begründungs- und Erfahrungswissen präsentierte der
beeindruckend schlagkräftige Vortrag von Karl Heinz Bohrer
(Bielefeld/Stanford), der in einer halben Stunde Hegel, Freud, Benjamin und
Heidegger vom philologischen Sockel stieß; anschließend stürzte er noch
weitere Säulenheilige wie Hans Robert Jauß, Stephen Greenblatt und Michel
Foucault. Die Berechtigung zu diesem Rundumschlag konnte man aus dem
ableiten, was Bohrer den Attackierten voraushat: zeigen statt behaupten.
Bohrer führte vor, wie philosophische (und psychoanalytische) Lektüre
Kunstwerke usurpatorisch als Bausteine für das eigene Werk benutzt und wie
reduktionistische Verfahren in den Literatur- und Kulturwissenschaften oft
unreflektiert Schule gemacht haben. Spätestens diese Kritik der
philologischen Urteilskraft zeigte, was in keinem wissenschaftlichen Diskurs
fehlen sollte: die Fähigkeit zur wenn auch bisweilen beunruhigenden
Selbstkritik."
FAZ, 12.9.
[Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft]
Quellennachweis:
WWW: Geisteswissenschaften in den Feuilletons (12-18 Sep 07). In: ArtHist.net, 19.09.2007. Letzter Zugriff 12.05.2025. <https://arthist.net/archive/29641>.