REV 13.01.2015

Charlotte Schreiter: Antike um jeden Preis

Rezensiert von Jan Mende
Redaktion: Livia Cárdenas
Click to enlarge

Eine bislang marginalisierte Objektgruppe wird mit dieser Publikation erstmals umfassend gewürdigt: Es sind die Gipsabgüsse und in „Alternativmaterialien“ (Gusseisen, Papiermaché, Ton) gefertigten Kopien antiker Skulpturen, die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts vor allem in Mitteldeutschland produziert und vermarktet wurden. Dass derartige Objekte einen eigenständigen Stellenwert haben und gar einen spezifischen Originalitätscharakter besitzen, ist keineswegs unumstritten. Charlotte Schreiter aber zeigt, dass gerade ihnen bei der Genese des deutschen Klassizismus eine besondere Rolle zukam. Preiswert und selbst bürgerlichen Kreisen erschwinglich, verhalfen nämlich erst sie der antiken Bildhauerkunst – die ja als künstlerische Paradedisziplin der „Alten“ galt – zu einer spürbaren Breitenwirkung. Zwar haben den Produzenten dieser Antikenkopien in den vergangenen 15 Jahren bereits Einzeluntersuchungen verschiedener Autoren gegolten, doch liegt mit „Antike um jeden Preis“ nun eine wahrhaft umfassende Überblicksdarstellung und eine an Details reiche Materialvorlage vor. In der Fokussierung auf die beteiligten Künstler, Produzenten und Händler, auf deren Sortimente und Verkaufsstrategien werden die Rahmenbedingungen für den Transformationsprozess antiker Kunst erkennbar, wobei das technisch Machbare, die verwendeten Werkstoffe und die verfügbaren Antiken den eigentlichen Spannungsbogen bilden.

Ausgangspunkt ist die Situation am Ende des Siebenjährigen Krieges: Denn in Deutschland stand der anschaulich-haptischen Überprüfbarkeit des von Winckelmann postulierten Schönheitsideals eine verschwindend geringe Präsenz antiker Skulptur entgegen – daher auch die Vorliebe dieser Zeit für die leichter zu beschaffenden Münzen, Korkmodelle und Gemmen bzw. deren Abdrücke. Originale Marmor- und Bronzebildwerke waren, sofern vorhanden, kaum öffentlich zugänglich, und selbst Gipsabgüsse besaßen Seltenheitswert. Dabei stieg der Bedarf außerordentlich an, weniger, wie Charlotte Schreiter ausführt, durch die Nachfrage akademischer und universitärer Studiensammlungen, als vielmehr durch den Wunsch einer erstarkenden Käuferschicht nach repräsentativen Stücken für Innenarchitektur und Gartenanlagen. Wie geschickte Unternehmer unterschiedlichster Couleur es verstanden, diesen Markt innerhalb kurzer Zeit überhaupt erst zu entwickeln und kommerziell zu bedienen, das ist Gegenstand dieser Publikation.

Aber woher kamen die Formen antiker Statuen und Büsten, die im späten 18. Jahrhundert in Deutschland gehandelt wurden? Manches aus Italien selbst, weniges auch aus England, vieles aus der Region. Doch erschwerten administrative Restriktionen und hohe Transportkosten den Zugriff auf den gesamten Kanon der antiken Skulptur. Ganze Generationen von Abgüssen gingen daher auf mitunter nur eine einzige Form oder sogar nur Adaption zurück; Formen, die direkt vom Original genommen worden waren, besaßen Seltenheitswert. Kaum zugänglich waren die – oft nur unbedeutenden – Antiken- und Gipssammlungen der deutschen Fürstenhöfe. Selbst der von Goethe und seinen Zeitgenossen viel bewunderte Mannheimer Antikensaal taugte als Formenreservoire nur sehr bedingt. Lediglich die Vorlagen für die dann umso beliebter werdenden Gruppen von Kaunus und Biblis (Fede-Gruppe) bzw. Castor und Pollux (Ildefonso-Gruppe) gingen auf Gipsabgüsse aus Mannheim zurück.

Bereits in den frühen 1760er Jahren bemühten sich aus Italien kommende Formatori, die steigende Nachfrage nach den „berühmtesten Statuen und Brustbildern“ zu bedienen. Ihre vor Ort von mitgeführten Formen angefertigten Gipskopien, so vom Apoll von Belvedere oder von Einzelfiguren der Laokoon-Gruppe, waren keineswegs immer formtreu, was aber zumeist kritiklos blieb, da es an Vergleichsstücken mangelte. 1778 stieg der umtriebige Leipziger Kunsthändler Carl Christian Heinrich Rost mit seiner „Kunstfabrick“ in dieses Geschäft ein. Wettbewerbsvorteile errang er 1782 mit der Abformung und Vermarktung der Hauptstücke der Dresdner Antikensammlung, darunter der Großen und der Kleinen Herkulanerin. Dieser allgemein für den damaligen Kunsthandel so erfreuliche Zuwachs verstärkte allerdings den mitteldeutschen Zuschnitt des Verfügbaren. Denn mangels Alternativen einigten sich Produzenten und Kunden auf eine „regionale Antike“ mit eigenen Verkaufsrennern, die keineswegs dem international gültigen Kanon entsprechen mussten – so wie die „Thalia“ oder auch die „Tanzende Bacchantin“, einer bereits im 17. Jahrhundert aus verschiedenen Fragmenten zusammengesetzten Kompositfigur.

Rost vertrieb zunächst Gipse, betrieb dann aber auch eine Werkstatt, die Antikenkopien in einer nicht näher verifizierbaren Tonmasse fertigte. Rosts Beispiel folgte ab 1789 auch der vom „Journal des Luxus und der Moden“ kräftig protegierte Weimarer Hofbildhauer Martin Gottlieb Klauer mit seiner Toreutica-Fabrik und schließlich auch Friedrich Wilhelm Doell in Gotha, ebenso ein Hofbildhauer, der im Zusammenwirken mit seinem Bruder, einem Altenburger Töpfer, Statuen aus gebranntem Ton produzierte. Hinzu kam die „Herzogliche Carton-Fabrik“ im – was den von der Autorin postulierten geographischen Bezugsrahmen Mitteldeutschland kräftig dehnt – mecklenburgischen Ludwigslust, von wo mit Statuen aus Papiermaché die leichtesten und preiswertesten Antikenkopien kamen. Am anderen Ende dieser Gewichts- und Preisskala rangierten die Erzeugnisse der Gräflich-Einsiedel‘schen Eisengießerei im heute brandenburgischen Lauchhammer. Jedem dieser Unternehmen widmet Charlotte Schreiter erschöpfend Raum, sie erläutert Betriebsstruktur, Technik, Preise, Marketingmaßnahmen sowie Kundenkreis und rekonstruiert soweit möglich sogar die einzelnen Sortimente und deren Besonderheiten – eine tiefgehende Bestandsaufnahme, der eine geradezu detektivische Recherche vorausgegangen sei muss. Die Sortimente weisen neben detailtreuen Antikenkopien, die die Kunstkritik zunehmend einforderte, auch zahlreiche Variationen auf, hervorgerufen durch Detailanpassungen (Armhaltung, Attribute), durch die man dem jeweils gewünschten Nutzungsprofil zu entsprechen strebte. Ergänzenden Charakter hatten klassizistische Neuschöpfungen, die oft Bedarfslücken schließen sollten, die sich dort auftaten, wo – bei Musengruppen beispielsweise – Antikes fehlte. Die damals recht populäre „Vestalin“ gehört dazu, modelliert von Doell nach einer Vorlage Houdons, der sich wiederum von antiken Vorlagen hat inspirieren lassen.

Nach 1798 änderten sich die Rahmenbedingungen: Die Einrichtung großer Gipsgießereien in Paris und Berlin, nicht zuletzt als Folge der napoleonische Umverteilung des europäischen Kulturgutes, schwemmte eine große Zahl neuer und vor allem formtreuer Gipskopien auf den Markt. Doell und andere Töpfereien, zu denen der Rezensent auch die Großtöpfereien von Johann Gottfried Höhler in Berlin und Heinrich Wagener in Magdeburg zählen möchte, „flüchteten“ sich um diese Zeit in die Produktion von „Nutzantiken“, Figurenaufsätzen zu Öfen beispielsweise, die sich noch heute vielfach in Museen und Schlössern finden lassen.

Den größten Gewinn dieses Buches bringt der 228 Positionen umfassende, reich bebilderte Katalog mit einer Zusammenschau der in Gips und Alternativmaterialien produzierten Statuen und Büsten. Neben der Herkunft der Formen erfährt der Leser, von welchem Hersteller dieses Kunstwerk vervielfältigt wurde – wobei sich zeigt, dass die Sortimentsschnittmengen zwischen den einzelnen Anbietern ungemein groß waren – , welche Abnehmer nachweisbar sind und in welcher Sammlung sich Exemplare dieses Modells bis heute erhalten haben. Den Abschluss bildet ein in seiner Umfänglichkeit und sorgfältigen Detailtreue ganz ungewöhnlicher Quellenanhang mit Nachdrucken und Auszügen aus Werbematerialien, Rechnungsbüchern und Briefwechseln sowie Sortimentsverzeichnissen. Doch überzeugt dieser Band nicht nur durch Materialfülle, sondern auch durch eine leicht lesbare Erzählung, in die, komplex wie das Thema ist, sich freilich verzeihliche Redundanzen einflochten. Die stringente Konzentration auf den Untersuchungsgegenstand ließ zudem kaum Nebenstränge zu. So wird in Hinsicht auf die Oberflächenfassung, die ja meist Marmor, Bronze oder Basalt imitieren sollte, der Frage nach der Materialästhetik der Alternativwerkstoffe nachgegangen, doch hätte sich ein tieferer Einblick in den theoretischen Diskurs der damaligen Zeit angeboten. Gerade aber die Protagonisten der Weimarer Klassik kommen in dieser Hinsicht kaum zu Wort, obwohl die Autorin deren zumindest räumliche Nähe zu den Werkstätten von Rost, Klauer und Doell explizit herausstreicht.[1] Unverständlich ist, weshalb Personen- und Ortsregister nicht ebenso wie das Literaturverzeichnis im Anschluss an den Haupttext platziert wurden, sondern ganz am Ende des Buches, was suggeriert, es wären auch Katalog und Quellenanhang einbezogen worden, was leider nicht der Fall ist. Ganz wenige Katalogpositionen sind kritisch zu hinterfragen. So gilt am Schloss Tiefurt die prominent auf dem Altan platzierte „Knöchelspielerin“ seit der Musealisierung des Gebäudes 1907 geradezu als materialisierter Genius Loci der Zeit Anna Amalias – und auch Charlotte Schreiter folgt dieser Tradition. Laut Schlossinventar aber war diese Terrakotta-Figur selbst 1835 noch gar nicht vorhanden, sondern wurde, wie neue Forschungen zeigen, erst 1847 erworben.[2]

„Antike um jeden Preis“ ist ein an akribisch zusammengetragenen Details reiches Werk, das alle relevanten Facetten um die Herstellung und Verbreitung mitteldeutscher Antikenkopien in den Jahrzehnten vor 1800 gründlich ausbreitet. Über eine rekonstruierende Darstellung hinaus, gelingt Charlotte Schreiter überzeugend die Kontextualisierung dieser spezifischen Aneignungsform von Antike innerhalb der damaligen wirtschaftlichen, technischen und ästhetischen Bezugssysteme.


Anmerkungen

[1] Vgl. zu diesem Thema Boris Roman Gibhardt: Verkauf der Sinnlichkeit. Materielle Innovation und ästhetische Opposition im klassischen Weimar, in: Sebastian Böhmer, Christiane Holm, Veronika Spinner, Thorsten Valk (Hrsg.), Weimarer Klassik. Kultur des Sinnlichen, Ausstellungskatalog, Weimar 2012, S. 146-155.
[2] Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Hofmarschallamt I, Nr. 1584a Inventarium über das Großherzogl. Landhaus zu Tiefurt, 1832. Ulrike Müller-Harang: Carl Friedrich Großherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach, in: Ein Freund des Schönen, in: „Ihre Kaiserliche Hoheit“ Maria Pawlowna. Zarentochter am Weimarer Hof, T. 2 (CD-R), Ausstellungskatalog, Weimar 2004, S. 57-71, hier S. 65.

Schreiter, Charlotte: Antike um jeden Preis. Gipsabgüsse und Kopien antiker Plastik am Ende des 18. Jahrhunderts (Transformationen Der Antike), De Gruyter 2013
ISBN-13: 978-3-11-031688-9, 864 S., EUR 129,95

Empfohlene Zitation:
Jan Mende: [Rezension zu:] Schreiter, Charlotte: Antike um jeden Preis. Gipsabgüsse und Kopien antiker Plastik am Ende des 18. Jahrhunderts (Transformationen Der Antike), 2013. In: ArtHist.net, 13.01.2015. Letzter Zugriff 28.03.2024. <https://arthist.net/reviews/8882>.

Creative Commons BY-NC-NDDieser Text wird veröffentlicht gemäß der "Creative Commons Attribution-Noncommercial-No Derivative Works 4.0 International Licence". Eine Nachnutzung ist für nichtkommerzielle Zwecke in unveränderter Form unter Angabe des Autors bzw. der Autorin und der Quelle gemäß dem obigen Zitationsvermerk zulässig. Bitte beachten Sie dazu die detaillierten Angaben unter https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de.

^