Wie würden die Reaktionen ausfallen, wenn ausschließlich Literaturwissenschaftler, Soziologen und Philosophen als kompetente Interpreten wissenschaftsgeschichtlicher Probleme angesehen würden und die Kunsthistoriker – also diejenigen, die mit dem wissenschaftlichen Instrumentarium ihres Faches aus praktischer Erfahrung vertraut sind – systematisch von der Wissenschaftsgeschichte ferngehalten würden? So oder ähnlich dürfte sich die Künstlerzunft des 19. Jahrhunderts gefühlt haben, als man sie – vor allem im Zuge des Holbeinstreits – definitiv aus Forschung, Lehre und Denkmalpflege vertrieb und die Kunstakademien somit zunehmend zu Reservaten der reinen Künstlerbildung mutierten. Ob die Historisierung der Kunstbetrachtung das Produkt eines in der französischen und italienischen Frühaufklärung zu verortenden Empirisierungsschubs[1] oder ob das treibende Element ihrer Verwissenschaftlichung die im deutschsprachigen Raum stattfindende Dialektik zwischen empirischer Kulturwissenschaft und idealistischer Ästhetik ist[2]: beiden Deutungsmodellen liegt die Annahme zugrunde, dass die Kunstgeschichte sich von Normen und bildkünstlerischen Forderungen der Gegenwart – sprich: von schreibenden Künstlern – befreien musste, um zur «ernsten» Wissenschaft zu reifen. In seiner Wiener Antrittsvorlesung über «Die Stellung der Kunstgeschichte als Wissenschaft» (1873) beendet Moritz Thausing die seit Langem schwelenden Kompetenzstreitigkeiten, indem er schlicht und ergreifend den Künstlern jeglichen Sachverstand in der historischen und theoretischen Deutung von Bildern abspricht, den Gelehrten von der Einmischung in Fragen der Gegenwartskunst dringlichst abrät.[3]
Die wohl wichtigste Erkenntnis von Martin Gaiers ausführlicher Studie über den Landschaftsmaler und Kunstschriftsteller Heinrich Ludwig (1829-1897) ist, dass der in Museen, Denkmalsbehörden und Universitäten ablesbare Prozess einer Institutionalisierung der Kunstgeschichte «nicht von allen Seiten als Erfolgsgeschichte verstanden wurde und dass es Gruppierungen gab, welche im Gegenteil die damit einhergehende Verwissenschaftlichung der Kunstbetrachtung und Aufgabenbeschneidung der Kunstakademien als massives Problem ansahen und darzustellen versuchten» (12). Trotz seiner häufig zitierten Edition von Leonardos «Buch der Malerei», die 1882 in der von Rudolf Eitelberger initiierten Reihe der «Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance» erschien, ist Heinrich Ludwig für den Großteil der heutigen Kunstwissenschaftler ein unbeschriebenes Blatt. In der Tat ist es Gaier hoch anzurechnen, dass er diesen in völlige Vergessenheit geratenen Deutsch-Römer in seiner vielseitigen Rolle als Künstler und kulturpolitisch engagierten Kunstschriftsteller rehabilitiert, ohne den Anspruch einem verkannten Genie ein literarisches Denkmal zu errichten. Vielmehr sieht der Autor in Ludwig eine «Leitfigur», Absicht seiner Studie ist «einen unbekannten und scheinbar wenig involvierten, aber gut durch bisher unerforschtes Material dokumentierten Zeitzeugen in Bezug auf einen Komplex bisher wenig beachteter Probleme zu befragen».(12)
Im Gegensatz zur gradlinig verlaufenden akademischen Karriere seines Bruders, des berühmten Physiologen Carl Ludwig (1816-95), erinnert Heinrichs Weg zur Kunstwissenschaft eher einem Bildungsroman. Als Sohn eines kurhessischen Offiziers und Beamten entstammte er dem bildungsbürgerlichen Milieu, genoss eine humanistische Erziehung, sodass er trotz des frühen Verlassens der Schullaufbahn, die er zugunsten einer Künstlerausbildung aufgab, über eine überdurchschnittliche Bildung verfügte. Wie kurz zuvor Arnold Böcklin studierte auch Ludwig an der Düsseldorfer Kunstakademie unter Johann Wilhelm Schirmer (1848-1850). Sein in öffentlichen Museen und Privatsammlungen verstreuter künstlerischer Nachlass wird von Gaier sorgfältig katalogisiert und lädt zur weiteren Beschäftigung mit einem bemerkenswerten Zeichner und Maler ein. Recht früh wird Ludwig zur Aufgabe seines Berufs gezwungen, weil sich seit den späten sechziger Jahren die Erkrankung an multipler Sklerose bemerkbar macht. In Rom, wo er den größten Teil seines Daseins verbringt, wird der ehemalige Künstler in seiner Rolle als Kunstschriftsteller zu einer wichtigen Komponente des römisch-deutschen Künstlerzirkels, deren kunsttheoretische Debatten und kulturpolitischen Initiativen durch ihn – wie Gaier zeigt – nachhaltig geprägt worden sind.
Dank intensiver Archivforschungen fördert Gaier unpublizierte Briefwechsel mit Adolf Friedrich von Schack und François Wille zu Tage. Der auf den ersten Blick bescheiden ausfallende Textkorpus kann dank des neuen Quellenmaterials durch diverse anonym erschienene Schriften Ludwigs erweitert werden, sodass neben den Artikeln in Fachzeitschriften wie «Zeitschrift für bildende Kunst», «Repertorium für Kunstwissenschaft» und «Technische Mittheilungen für Malerei» auch andere Schriften aus Kulturzeitschriften und Feuilletons wie «Die Gegenwart» und «Allgemeine Zeitung» identifiziert werden konnten. Bereits 1907 haben Paul Knapp und Josef August Beringer in diesem Sinne entscheidende Vorarbeiten geleistet und Ludwigs Rolle als kulturpolitischer Autor betont: ihnen ist die Edition der im Nachlass befindlichen Schriften «Über das Verhältnis des Staates zur Kunst» (1874), «Über Erziehung zur Kunstübung und zum Kunstgenuss» (1874), «Über Darstellungsmittel der Malerei» (1874) und «Über Kunstwissenschaft und Kunst» (1877) zu verdanken. Interessant ist in diesem Zusammenhang, wie stark Ludwig Themen, die eigentlich bereits im ausgehenden 18. oder zu Beginn des 19. Jahrhunderts angerissen worden waren, wieder aufgreift: der Akademiegedanke und das immer wiederkehrende Thema der Künstlerbildung, die von Quatremère de Quincy erstmals geäußerte Museumskritik im Kontext des gründerzeitlichen Museumsbooms, die Neubelebung der Fresko- und Monumentalmalerei durch die Nazarener und die historische Würdigung der nach Berlin transportierten Fresken der Casa Bartholdy. Gerade im Rahmen der letztgenannten Initiative scheint Ludwig als eine Art «deus ex machina» zu wirken, was Gaier bereits aus Anlass des Hertziana-Jubiläums zum Ausdruck gebracht hat.
Darüber hinaus zeigt der Autor Ludwigs starke Affinitäten zu Theodor Heyse und dem Kreis der «ästhetischen Ketzer» um Karl Hillebrand, dessen kulturkonservative Schriften Gaier zu Folge eine Wesensverwandtschaft zu Ludwigs fortschritts- und materialismuskritischen, zuweilen reaktionären Ansichten aufweist. Als ausgesprochen problematisch erweist sich das Verhältnis zu dem Kunstschriftsteller und Kunstförderer Conrad Fiedler, dessen Trennung von begrifflichem und anschaulichen Denken Ludwig strikt zurückweist, weil es die Arbeit des Künstlers auf rein intuitive Elemente begründet und somit einem ‘ideenlosen’ Naturalismus den Weg zu ebnen scheint. Fiedlers Theorie der reinen Sichtbarkeit ist ein immer wiederkehrender Aufhänger für Ludwigs Versuche, die Union von Kunst und Wissenschaft im Geiste der Renaissance aufrechtzuerhalten. Dass seine Argumentationen zuweilen polemisch scharf ausfallen, lässt sich wohl auf biographische Umstände zurückführen (die enttäuschte Suche nach Anerkennung eines «Handwerksgelehrten» im modernen kunstwissenschaftlichen Diskurs). Jedenfalls betont Ludwig bereits 1877, dass Renaissancekünstler wie Leonardo und Dürer «nicht nur Anschauungsmenschen, sondern überdem verständige und gebildete Denker» waren.[4] Vor allem Leonardos Werdegang wird zum entscheidenden Paradigma des Künstler-Wissenschaftlers, sein «Malerbuch» das Vorbild einer neuhumanistischen Definition von Künstlerwissen (denn «nach Lionardo’s Sinn gehört gar Manches zum Wissen eines Malers, wovon einem heutigen Laien nicht so leicht beikommen kann, dass es dazu gehöre»)[5]. Natürlich fragt man sich, ob der ambitionierte Versuch, Leonardos Schriften zu aktualisieren und sie als Schatz zu betrachten, «dessen Hebung unserer lebendigen Malerei zur grössten Wohlthat gedeihen kann», im Zeitalter von Impressionismus und reiner Sichtbarkeit nicht zum Scheitern verurteilt ist.[6] Die wohl am besten begründete Antwort auf diese Frage liefern Ludwigs maltechnische Schriften und die Erfindung der nach ihm benannten Petroleumfarben: dass diese keinesfalls folgenlos blieben, zeigen Kathrin Kinsehers jüngst publizierte Forschungen über den Münchner Farbenstreit, in denen Ludwigs Position ausführlich diskutiert wird.[7]
Gaier holt sehr weit aus und scheut keinen Exkurs, aber die Mühen, die er seinem Leser zuweilen abverlangt, zahlen sich aus. In sämtlichen vom Autor angeschnittenen Bereichen (Kunstpolitik und -institutionen der Gründerzeit, Karl Hillebrand und der Kreis der «ästhetischen Ketzer», Verhältnis Kunst-Wissenschaft) gelangt er zu neuen Erkenntnissen. Vor allem aber rückt er bestehende Konstellationen zurecht, indem er dem unantastbaren Triumvirat Marées-Hildebrand-Fiedler einen weiteren künstlerischen Impulsgeber der deutsch-römischen Künstlerkolonie an die Seite stellt.
Anmerkungen
[1] Gabriele Bickendorf, Fiorillo und der «[…] Blick eines geübten Diplomatikers», in Johann Dominicus Fiorillo: Kunstgeschichte und die romantische Bewegung um 1800, hrsg. von Antje Middeldorf Kosegarten, Göttingen 1997, S. 79-95: hier S. 88.
[2] Regine Prange, Die Geburt der Kunstgeschichte: philosophische Ästhetik und empirische Wissenschaft, Köln 2004.
[3] Zum Thema Kompetenzstreit: Historiker vs. Künstler, siehe auch das ausführliche Kapitel in Hubert Locher, Kunstgeschichte als historische Theorie der Kunst 1750-1950, München 2001, S. 45-66. Locher zitiert fernerhin einen Aufsatz von Anton Springer, der sich mit aller Schärfe gegen die Vertreter einer «dogmatischen Künstlerkunstgeschichte» wendet.
[4] Zit. nach Gaier 2013, S. 251.
[5] H. Ludwig, Lionardo’s Malerbuch. Einige Bemerkungen, in «Repertorium für Kunstwissenschaft», 5 (1882), S. 204-215: hier S. 211.
[6] Ludwig, Lionardo’s Malerbuch. Einige Bemerkungen, zit., S. 215.
[7] Kathrin Kinseher, Womit sollen wir malen?: Farben-Streit und maltechnische Forschung in München. Ein Beitrag zum Wirken von Adolf Wilheim Keim, München 2014.
Gaier, Martin: Heinrich Ludwig und die »ästhetischen Ketzer«. Kunstpolitik, Kulturkritik und Wissenschaftsverständnis bei den Deutsch-Römern (= Studien zur Kunst; 29), Köln [u.a.]: Böhlau Verlag 2013
ISBN-13: 978-3-412-21046-5, 445 S., EUR 54.90
Recommended Citation:
Alexander Auf der Heyde: [Review of:] Gaier, Martin: Heinrich Ludwig und die »ästhetischen Ketzer«. Kunstpolitik, Kulturkritik und Wissenschaftsverständnis bei den Deutsch-Römern (= Studien zur Kunst; 29), Köln [u.a.] 2013. In: ArtHist.net, Jan 19, 2015 (accessed Dec 3, 2024), <https://arthist.net/reviews/5681>.
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