REV 20.01.2004

Isabelle Graw: Die bessere Hälfte

Rezensiert von Antje Krause-Wahl
Redaktion: Rainer Donandt

In der letzten Zeit sind eine Reihe von Büchern erschienen, in denen Kunstkritiker/innen und Kurator/innen ihre gesammelten Artikel veröffentlichen. [1] Auch Isabelle Graws "Die bessere Hälfte. Künstlerinnen des 20. und 21. Jahrhunderts" liegt eine Reihe von Aufsätzen zugrunde, die in den 1990er Jahren in Zeitschriften wie Artis und den von Graw herausgegebenen Texten zur Kunst zu lesen waren. Allerdings hat Graw ihre kontinuierliche Auseinandersetzung mit der Positionierung von Künstlerinnen im Betriebssystem Kunst in drei Kapiteln neu zusammengefaßt, so dass ein eigenständiges Buch entstanden ist.

Ist "die bessere Hälfte" in der Regel eine Bezeichnung aus der Perspektive des Mannes, in der die Rolle der Frau als stille Teilhaberin und Begleiterin der Karriere des Mannes festgeschrieben wird, so stehen in diesem Buch die Karrieren der Künstlerinnen im Zentrum. Der Titel verweist auf deren schwierige Positionierung zwischen gesellschaftlichen Festschreibungen und eigenen Karriereansprüchen und entlarvt die Rede von der 'besseren Hälfte' als hohle Phrase. Er gibt aber auch Anlass, über die Position der Autorin nachzudenken, die in der Aneignung dieser Redewendung, für die charakteristisch ist, dass sie aus der autoritären Perspektive geäußert wird, merkwürdig unbestimmt bleibt.

Im ersten Kapitel "Die Kunst der Aneignung" wird das Aneignen als grundlegendes Prinzip der Kunstproduktion und künstlerischen Identitätsbildung beschrieben, dass, so Graws zentrale These, für Künstlerinnen von besonderer Bedeutung ist. In "Künstlerinnen am Machtpol" werden Zusammenhänge zwischen Karriere und der Beziehung zu künstlerischen Machtzentren analysiert und in "Ausnahmefrauen" wird anhand der Rezeption und Selbstverortung die Figur der Ausnahmefrau zur Charakterisierung von erfolgreichen Künstlerinnen vorgeschlagen. Die möglichen Positionierungen im Feld der Kunst werden anhand von Fallbeispielen erläutert, die sich in den Kapiteln in der Regel in chronologischer Ordnung befinden. Dadurch werden nicht nur Parallelen deutlich, sondern auch historische Veränderungen. Bei der - allerdings betonten - subjektiven Auswahl handelt es sich um international etablierte Künstlerinnen wie Eva Hesse oder Hanne Darboven aber auch um Künstlerinnen, die, wie im Falle von Jutta Koether eher persönliche Vorlieben der Autorin widerspiegeln. Bei der Lektüre zeigt sich außerdem, dass sich Graw vor allem auf Künstlerinnen der 1980er und 1990er Jahre bezieht, die in New York und im deutschsprachigen Raum Karriere gemacht haben.

In "Die Kunst der Aneignung" bestimmt Graw die Aneignung als Grundkategorie menschlicher Existenz im allgemeinen und der künstlerischen Existenz im besonderen. Bereits bei Freud ist die identifizierende Bezugnahme auf die Eltern zentral für die Identitätsbildung. Entgegen dieser entwicklungspsychologischen Perspektive sind für Graw allerdings die Funktionen von Aneignungsprozessen in ökonomischen Systemen zentral. Bei Karl Marx eignet sich das Kapital fremde Arbeit an, ein Prozess, der zur Enteignung/Entfremdung des Subjektes führt. Für Marx ist das Ideal die Wiederaneignung und damit Herstellung des nicht entfremdeten Subjektes. Graw folgert daraus für die künstlerische Aneignung ein entscheidendes Spannungsfeld: Die Aneignung/Wiederaneignung ist eine besitzergreifende Strategie, die den Wunsch nach Subjektwerdung und gleichzeitig nach ökonomischer Macht beinhaltet, ein Begehren, das allerdings zwangsläufig immer wieder scheitert und damit das souveräne Künstlersubjekt in Frage stellen kann. In den folgenden Fallbeispielen unterscheidet Graw vor allem zwei Formen der künstlerischen Aneignung: Zum einen die Bezugnahme auf Vorbilder, zum anderen die Übernahme von existierenden künstlerischen Verfahren und Techniken. Als Beispiele werden unter anderem Lynda Benglis' berühmte, auf Robert Morris rekurrierende Anzeige im Artforum analysiert oder Andrea Frasers Performance, in der sie als Martin Kippenberger auftrat, die Aneignung von Kunstwerken männlicher Kollegen wie bei Elaine Sturtevant oder Sherrie Levine, das aneignende Zitieren Renée Greens, oder Cosima von Bonins Thematisierung der eigenen Szene.

Indem Graw das Aneignen als Verfahren der Konstruktion der Identität von Künstlerinnen beschreibt, verortet sie sich zunächst innerhalb aktueller feministischer und postkolonialer Diskurse. In diesen werden Strategien des Einschreibens, Zitierens und Wiederholens - auf künstlerische Selbstdarstellungen allerdings zumeist unter dem Stichwort Maskerade bezogen - daraufhin untersucht, wie Künstler/innen (ihre) Identität thematisieren können, ohne auf essentialistische Positionen zurückzufallen. [2] Graw bezieht sich auf Judith Butler, die Subjektkonstruktionen, sowohl geschlechtlich als auch sozial, als performativen Prozess beschreibt: als Aneignung von institutionellen Vorgaben und Vorstellungen mit der produktiven Möglichkeit, diese Rahmensetzungen gleichzeitig zu verändern. Entgegen der Frage nach dem möglichen Subversionspotential dieser Verfahren, gibt Graw, ihrem Interesse am Kunstbetrieb entsprechend, dem performativen Einschreiben eine andere Wendung: "Das Prinzip Aneignung kann mit einigem Recht als einzige Möglichkeit angesehen werden, sich zu einem dominanten Rahmen innerhalb einer auf Besitz gerichteten Gesellschaft zu verhalten" (S. 35.). Damit ist die Aneignung nicht nur kritische Befragung, sondern auch notwendig, um künstlerische Anerkennung und eine Position im Kunstbetrieb zu erhalten. Mit den Worten Isabelle Graws: "Offenbar wohnt dem kanonisierten Entwurf eines männlichen Künstlers ein Versprechen inne - das Versprechen nämlich, es ihm gleich zu tun" (S. 42).

In "Frauen am Machtpol" analysiert Graw Karriereverläufe in ihrem Verhältnis zu Kunstzentren: So wird Elaine de Koonings Positionierung als Kunstkritikerin in der New Yorker Kunstszene als kompensatorische Aktivität interpretiert: Elaine de Kooning konnte, verglichen mit ihrem Mann, nur geringe Erfolge auf dem Kunstmarkt aufweisen. Hanne Darbovens Aufenthalt in New York der 1960er Jahre und auch Eva Hesses Aufenthalt in den damaligen Kunstzentren werden zu entscheidenden Bausteinen ihrer Karrieren. Agnes Martin hingegen zog nach erfolgreicher Etablierung in der New Yorker Kunstszene nach New Mexiko und kultivierte das Bild der Aussteigerin. In den 1990er Jahren schließlich verweisen die Biografien auf mehrere Städte gleichzeitig und kennzeichnen die Künstlerin als "global player". Neben solchen strategischen Positionierungen wie der Wahl des Arbeitsortes, scheint Graw allerdings auch Regeln für den künstlerischen Erfolg und die Produktion von Frauen ausgemacht zu haben, die eher irritieren, als dass sie überzeugen. So nennt Graw als Grund für den Zuspruch zu den Arbeiten Hesses oder Darbovens, dass mit ihnen Normen der vorherrschenden Kunstsprache verändert werden - ein doch generelles Kennzeichen erfolgreicher Kunstproduktion. Sarah Morris' Arbeit mit Rasterstrukturen interpretiert Graw zwar überzeugend als Verwickeltsein von Kunst, Macht, Design und Mode, ob daraus eine generelle Faszination von Künstlerinnen am Raster abzuleiten ist, scheint jedoch angesichts der Beliebtheit von Rasterstrukturen auch bei männlichen Kollegen (Liam Gillick, Beat Zoderer) fraglich.

Die Figur der "Ausnahmefrau" dient im dritten Kapitel zunächst der Beschreibung der Tatsache, dass eine Künstlerin bis zu den 1990er Jahren nur innerhalb einer künstlerischen Formation ökonomischen Erfolg hatte. Allerdings zeigt Graw auch, dass die Ausnahmefrau eine diskursive Konstruktion ist, die bereits in Ausstellungen wie "Women Artist: 1550- 1950", kuratiert von Anne Sutherland Harris und Linda Nochlin, etabliert wurde. Die Ausnahme sind hierbei die Künstlerinnen in zweifacher Hinsicht: Als Frau sind sie die Ausnahme unter den Künstlern und als erfolgreiche Künstlerin sind sie die Ausnahme unter den Frauen. Wiederum ist es die daraus resultierende Ambivalenz dieser Figur, die sie als Beschreibungsmodell attraktiv macht: Ist sie in der Populärkultur als identifikatorisches Vorbild positiv besetzt, so steht sie in feministischen Diskursen unter Verdacht, die Geschlechterordnung zu stabilisieren, da Ausnahmefrauen in die patriarchale Gesellschaft eintreten und das Prinzip der Solidarität unterwandern. Graw sieht in dieser Figur allerdings die Möglichkeit, zwischen "individualistischem Einzelkämpfermythos und kollektivistischen Idealen zu vermitteln" (S. 177) Die Ausnahmefrau, so Graw, sei ein Produkt aus Zuweisungen und Selbststilisierungen, eine Platzzuweisung und der Versuch diesen Platz zu verlassen. Damit ist sie charakteristisch für den generellen Zwiespalt in dem sich Künstlerinnen befinden und dem sie nicht entkommen können. Auch hier zeigen Analysen verschiedener Karrieren, wie die Ausnahmefrau konturiert wird. Bridget Riley verweigerte ihre Zugehörigkeit zu dem Label Op Art, Marisol nahm ihr eigenes Bild, bzw. das Bild, das sich andere von ihr machen, zur Grundlage ihrer künstlerischen Selbsterschaffung. Katharina Sieverding stilisiert sich in ihren überzeichneten Selbstbildnissen als exzentrische Künstlerin, Isa Genzken arbeitet mit formalen Brüchen und verweigert damit Zuordnungen; und auch Rosemarie Trockel, die eigentlich in Kooperationen arbeitet, unterläuft dieses Prinzip, da Projekte dennoch unter ihrem Namen gezeigt werden. Graws Buch endet mit der Frage nach der anhaltenden Gültigkeit der Figur der Ausnahmefrau in den 1990er Jahren. Anhand der amerikanische Künstlerinnengruppe V-Girls und der Zusammenarbeit der britischen Künstlerinnen Sarah Lucas und Tracey Emin zeigt sie, dass in Kooperationen und Teamwork Künstlerrollen neu definiert werden.

Die im Klappentext angekündigte "'Geschlechterdifferenz'" auf dem Prüfstand" führt in "Die bessere Hälfte" zu unterschiedlichen Ergebnissen: Hinsichtlich des Begehrens nach künstlerischem Erfolg besteht offensichtlich keine Differenz gegenüber den männlichen Kollegen. Da die Positionen von Künstlerinnen anscheinend in stärkerem Maße im Kunstsystem festgeschrieben werden, sind Formen des Aneignens als Produktionsverfahren eine bevorzugte 'weibliche' Strategie, künstlerische Anerkennung zu erlangen. Der Eindruck, dass es sich um genuin 'weibliche' Verfahren handelt, wird aber vor allem durch die fast ausschließliche Behandlung von Künstlerinnen (die Ausnahme sind Marcel Duchamp und Richard Prince) erzeugt. So ist es letztlich kontraproduktiv, dass Graw 'die andere Hälfte' in ihrer Darstellung ausspart. Ein Vergleich mit den vielfältigen Aneignungsstrategien männlicher Künstlersubjekte, für die ebenfalls z.B. Bezugnahmen auf Vor-Bilder konstitutiver Bestandteil der Karriere sind, wäre erhellend gewesen.[3] Dieser einseitige, aber generalisierende Anspruch, der auch durch den weiten Bogen, den das Buch spannt, entsteht, erhält dadurch eine Tendenz zu erneuten Festschreibungen von Geschlechterdifferenz.

Da Graw Künstlerinnen in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung stellt und spezifische Verfahren ausmacht, um zu einem Verständnis künstlerischer Arbeiten zu gelangen, ist die bemühte Abgrenzung gegenüber den unterschiedlichen Ansätzen in den feministischen Kunstwissenschaften und den 'gender studies' auffällig. Graw bezieht sich vor allem in kritischer Abgrenzung auf die Forschung im anglo-amerikanischen Raum; die deutschsprachige Forschung wird weitestgehend ignoriert.[4] Zwar erwähnt Graw, dass ohne die Errungenschaften der 'gender studies' ihr Buch nicht denkbar wäre, reduziert diese dann allerdings auf einen verengten Blick auf die Geschlechterthematik. Vor allem neuere Positionen feministischer Kunstwissenschaft zeichnen sich nun allerdings dadurch aus, dass sie gegenüber dem Entwurf einer universellen Erzählung, eine dezidiert partielle Perspektive fordern, ein 'situiertes Wissen', um auch den eigenen Standpunkt zu reflektieren. Diesen Anspruch formuliert Graw in ihrer Einleitung, in Anbetracht der genannten Kritikpunkte ist er jedoch nur bedingt eingelöst. So ist gleichfalls eine Tendenz festzustellen, existierende Kunstkritik allzu einseitig darzustellen, wobei dies auch der Tatsache geschuldet sein mag, dass die Fußnoten in der Buchfassung zugunsten der Aktualität reduziert wurden. Beim Lesen dieses materialreichen Buches entsteht insgesamt der Eindruck, als ob das Verfahren der Kritikerin Graw selbst zu einem Beispiel der von ihr dargestellten Positionierungsverfahren wird. Graw nennt als ein charakteristisches Kennzeichen der Ausnahmefrau, sich gegen Verortung zu verwahren. Graw sichert sich mit diesem Buch ihren eigenen Ausnahmestatus.[5] Die Ambivalenzen dieses Verfahrens sind dabei nicht von der Hand zu weisen.

Anmerkungen:

[1] Unter anderem: Stephan Schmidt-Wulffen, PERFEKTIMPERFEKT. Wege zur Kunst des 21. Jahrhunderts, Freiburg im Breisgau 2001; Wolfgang Ullrich, Tiefer hängen. Über den Umgang mit Kunst, Berlin 2003; Isabelle Graw, Silberblick. Texte zur Kunst und Politik, Berlin 1999.

[2] Einen Überblick zu Konzepten der Maskerade: Hanne Loreck, Geschlechterfiguren und Körpermodelle: Cindy Sherman, Berlin 2002.

[3] Zu einer Analyse der Bezugnahmen Naumans auf Duchamp vgl. Beatrice von Bismarck, Bruce Nauman. Der wahre Künstler, Ostfildern-Ruit 1998.

[4] Hier sei nur verwiesen auf den Sammelband Mythen von Autorschaft und Weiblichkeit im 20. Jhdt, hg. v. Hoffmann-Curtius / Silke Wenk, Beiträge der 6. Kunsthistorikerinnen Tagung, Tübingen 1996, Marburg 1997.

[5] Graw gilt als eine der führenden Kunsttheoretikerinnen Deutschlands, so der Rezensent des Buches in der Zeit, Christoph Heinrich, "Die Geburt der Kunst aus dem Geist des Klüngels. Isabelle Graws Polemik gegen Künstlerinnen" (Die Zeit 32, 31.07.2003). Allerdings bin ich nicht der Auffassung, dass es sich bei Graws Buch um eine Polemik handelt.

Graw, Isabelle: Die bessere Hälfte. Künstlerinnen des 20. und 21. Jahrhunderts, Köln: DuMont Buchverlag 2003
ISBN-10: 3-8321-5961-4, 272 S

Empfohlene Zitation:
Antje Krause-Wahl: [Rezension zu:] Graw, Isabelle: Die bessere Hälfte. Künstlerinnen des 20. und 21. Jahrhunderts, Köln 2003. In: ArtHist.net, 20.01.2004. Letzter Zugriff 28.03.2024. <https://arthist.net/reviews/49>.

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