Verführende Räume. Funktionen und Wirkmechanismen von multisensorischen Bild-Raum-Ensembles (16.-21. Jh.).
Die Erforschung des Verhältnisses von Bild und Raum gehört nicht nur zu den großen Themen der Kunstgeschichte; die Kunstgeschichtsforschung hat dieses Problemfeld geradezu erfunden. Die Schöpfung der klassischen Gattungen durch künstliche Grenzziehungen, das Auseinanderreißen und die Musealisierung von „gattungsübergreifenden“ Raumensembles, das Paradigma des museal inszenierten Einzelbildes, vor allem aber die fotografische Reproduktion von Objekten, die – besonders in der universitären Lehre – nur im Ausnahmefall im Original studiert werden – all diese Faktoren haben unseren Blick auf die Werke oftmals stillgestellt, isoliert, konserviert. Die Funktionen und Wirkmechanismen multisensorischer Raum-Ensembles zu erfahren bzw. zu rekonstruieren, die sich in all ihrer Komplexität meist nicht in fotografischen Reproduktionen einfangen lassen, ist nur durch Begegnungen in sitù realisierbar, durch das Erfahren mit allen Sinnen, und lässt sich höchstens durch Beschreibungen, d. h. in der Übersetzung, vermitteln.
In Anschluss an den 37. Deutschen Kongress für Kunstgeschichte in Erlangen/ Nürnberg (2024) unter dem Thema „Bild und Raum“ sowie den von Christina Strunck herausgegebenen Band „Bild-Raum-Wissenschaft: Studies on Spatially Embedded Art“ (2024) [1] brachte die Tagung in Erlangen Vortragende aus dem Bereich der Kunstgeschichte, den Theater- und Medienwissenschaften, den Religionswissenschaften, der Architektur, den Bildenden Künsten sowie der Ausstellungsstudien zusammen um epochenübergreifend multisensorische Raumensembles zu betrachten. Ziel war es über die Möglichkeiten und Grenzen einer verbindlichen Terminologie nachzudenken und so einen Gegenvorschlag zu der anachronistischen Verwendung von Begrifflichkeiten wie „Gesamtkunstwerk“ und anderen „geliehenen“ Termini anzubieten. Die Fallbeispiele reichten von lokaler süddeutscher Kunstgeschichte, über Italien, Frankreich und Ostasien bis hin zu Mexiko und regten damit auch Überlegungen zu nicht-westlich/eurozentrischen Konzepten von Raumwahrnehmung an.
Wer sich an zentrale Diskurse und Fragestellungen des sogenannten Spatial Turn erinnert fühlte, liegt dabei sicher nicht falsch. Die Prämissen einer „Bild-Raum-Wissenschaft“ stehen jedoch unter den veränderten Vorzeichen einer Bildwissenschaft, deren Denken über Bild und Raum sich nicht nur durch den Iconic und den Spatial Turn grundlegend verändert hat, sondern die auch mit den neuen KI-generierten Räumen konfrontiert ist, die eine ganz eigene Art von Immersion erzeugen. Die Tagung versuchte damit den großen Bogen zu spannen von frühneuzeitlichen multisensorischen Bild-Raum-Ensembles bis hin zu 3D-Rekonstruktionen und der „Dramatisierung“ von Daten.
Christina Strunck stellte in Ihrem Eröffnungsvortrag „Die Höhle als multisensorischer Raum der Erkenntnis“ Vorschläge für eine vereinheitlichende Terminologie im Hinblick auf eine Bild-Raum-Wissenschaft vor, die auf (wahrnehmungs-)psychologischen Modellen basiert, wobei Wilma Buccis multiple code theory (2002/2021) eine zentrale Rolle spielt [2]. Über die Vorstellung der Höhle als Raum von gleichermaßen Verblendung und Erkenntnis schlug Strunck einen überzeugenden Bogen von frühneuzeitlichen Beispielen bis hin zu den Licht-Raum-Installationen von James Turrell.
In der Sektion „Sakrale Räume“ analysierte Thomas Schauerte E.Q. Asams Münchner Johannes Nepomuk-Kirche mit Verweis auf das Theatrum Sacrum. Angelika Dreyers Vortrag befasste sich mit den jesuitischen Kongregationssälen von Ingolstadt und Dillingen und den hier zum Einsatz kommenden bildrhetorischen Strategien im Rahmen der universitären Priesterausbildung. Die Sektion schloss mit Pfarrer Thomas Zeitlers Bericht über zwei bemerkenswerte Projekte in der Kulturkirche St. Egidien in Nürnberg; der queere Filmemacher Rosa von Praunheim stellte hier im Zuge der Pride Week des Nürnberger CSD 2023 „attraktive und sexuell befreite Körper an einem Ort [aus], der eine Schuldgeschichte in der Ausgrenzung nicht-normativer Sexualitäten hat.“ [3] Die Verknüpfung von realer und virtueller Raumerschließung dagegen wurde durch das „Phantome Zone Update“ (2022) thematisiert: Via App konnten die Besucher:innen den Kirchenraum erschließen und virtuell umformen; beiden Kunstprojekten lag die Einschreibung von (Körper-)Bildern in den Raum zugrunde.
In der zweiten Sektion „Genussräume“ stellten Bettina Brandl-Risi und Clemens Risi sehr anschaulich die konträren räumlichen Wahrnehmungsanordnungen und Handlungsspielräume des Bayreuther Festspielhauses und der Pariser Opéra Garnier gegenüber und skizzierten eine Genealogie des immersiven Theatererlebnisses.
Christina Clausen präsentierte in ihrem herausragenden Vortrag über Vicki Baums „Jape im Warenhaus“ (1928) das Schaufenster als immersive Trichter-Architektur, durch die Japes sinnliches Begehren eines Objektes sich in den Wunsch nach einer neuen Position innerhalb der Gesellschaft verwandelt.
Christian Janecke schließlich reflektiert über mögliche Zusammenhänge und Unterschiede zwischen frühneuzeitlicher Stilllebenmalerei und zeitgenössischer Stillleben als Installations-Kunst, die – trotzdem sie als multisensorisches Bild-Raum-Ensemble klassifizierbar zu sein scheint –, sich, auch aufgrund des Mangels an Immersion, einer solchen Einordnung entzieht.
Der erste Konferenztag schloss mit einem gemeinsamen Besuch des Kunstpalais Erlangen, in dessen Rahmen die Leiterin Amely Deiss durch die Ausstellungen „ganz konkret 2“ [4] und „Zohar Fraiman: You-Phoria“ [5] führte. Das Werk der israelischen Künstlerin Fraiman setzt sich kritisch-spielerisch mit der immersiven Wirkung von durch Smartphones zugänglichen sozialen Medien wie Instagram auseinander, wobei ihre Werke selbst explizit zum Erstellen von Selfies aufzufordern scheinen.
In der dritten Sektion „Klangräume“ stellte Katja Triplett anhand eines frühneuzeitlichen japanischen Stellschirms und verschiedener Klangbeispiele historischer japanischer Musik Überlegungen über die Korrelation von Architektur und christlich-religiöser Musik zwischen Ost und West an, die an Vorstellungen von Immersion und Transzendenz geknüpft sind. David Zagoury präsentierte Giulio Romanos immersive Wanddekoration in der Camera dei Giganti (Mantua, 1532–34), wobei er erstmals ihre singuläre Akustik, die auch in den frühneuzeitlichen Quellen Erwähnung fand, auf höchst überzeugende Weise in die ikonographische und performative Deutung des Raumes integrierte.
Die Sektion „Wissensräume“ wurde von Johanna Wurz’ sehr schönen Vortrag über die ästhetischen Vermittlungsstrategien des Nationalmuseums für Anthropologie in Mexico City eröffnet, das in den 1960er und 70er Jahren theatrale Mittel auf den Ausstellungsraum anwandte und durch die dramatische Inszenierung von Artefakten ein nationales Narrativ schuf, das vielfach für sein manipulatives Potenzial kritisiert worden ist.
Ole W. Fischer widmete sich der Dramatisierung von Daten und dem verführerischen Potenzial von Raumprojektionen digital-narrativer Architektur, mit Fokus auf die Architekturbiennale Venedig 2023. Im Zentrum standen Projekte der digitalen Forensik (Alison Killing) sowie digitaler Bild-Raum-Klang Ensembles (Liam Young), die beide auf CGIs beruhen, welche eine manipulative Wirkmacht jenseits gebauter Räumlichkeiten entfalten.
Madita Wierz‘ Vortrag nahm 3D-Raumbilder in den Fokus, deren primäre Funktion in der Visualisierung und Modellierung spezifischer Wissensformen besteht. Ehemals aus dem Militärwesen stammend, finden digital-immersive Raumbilder vielfach Anwendung im Bereich der Architektur, wobei Wierz am Beispiel der interaktiven Virtual Reality Anwendung Virtual Bauhaus (2019) aufzeigte, wie dort ein von der analogen Raumerfahrung völlig verschiedenes Architekturwissen generiert und vermittelt wird.
In der letzten Sektion über „Politische Räume“ stellte Patrick Primavesi Raumvisionen des Modernen Tanzes der 1920er und 30er Jahre vor, die auf unterschiedliche Räume reagierten, aber auch solche schufen. Im Zentrum der Analyse stand dabei die Eröffnung der Berliner Waldbühne sowie des Stadions für die Olympischen Spiele 1936.
Wolfgang Brauneis Vortrag widmete sich vier Protagonisten des nationalsozialistischen Kunstbetriebs, die durch Anpassungsstrategien und Netzwerke auch im Nachkriegsdeutschland im öffentlichen und halböffentlichen Raum reüssieren konnten und sogar ikonographische Kontinuitäten pflegten. Die Geschichte und Rezeption dieser Künstler, v. a. in den 1950er und 60er Jahren, wurde von der Forschung bislang vollkommen vernachlässigt. Katharina Gerund analysierte auf brillante Weise das Footballstadion als militarisierten „verführenden“ Raum am Beispiel von Ang Lees Spielfilm „Billy Lynns Long Halftime Walk“ (2016) im Vergleich zur gleichnamigen Romanvorlage. Das performativ militarisierte Footballstadion als Mikrokosmos der US-amerikanischen Gesellschaft wird satirisch durch eine „hyperrealistische“ Ästhetik aus Sicht des jungen Protagonisten gezeigt, wodurch u.a. die affektiven Wirkmächte und ideologischen Effekte der Halbzeitshow offengelegt werden.
Julia Rüdiger schloss die Sektion mit einem Vortrag über gestalterische Ansätze zur Inszenierung und Raumgebung von Demokratie, wobei die Inszenierungen der Postmoderne sich deutlich abgrenzten von der rationalistischen Gestaltung der Nachkriegsmoderne. Dieses Gegensatzpaar entfaltete Rüdiger in Anlehnung an Max Weber (Rationalismus/ Entzauberung/ Entfremdung) und Hartmut Rosa (Postmoderne/ Wiederverzauberung/ Resonanz) [5], wobei der Plenarsaal des Ratsgebäudes der Europäischen Union in Brüssel (2017) im Zentrum ihrer Analyse stand.
Die Tagung spannte einen beeindruckenden zeitlichen, geographischen, disziplinären und medialen Bogen, der nie an Spannung verlor; statt unterschiedliche Fallbeispiele unverbunden nebeneinander zu stellen, blieb der rote Faden – u.a. die Frage nach den Bedingungen von Immersion in analogen und digitalen Bild-Raum-Ensembles – stets spürbar. Besonders aufschlussreich erwies sich dabei der Blick über die europäischen Grenzen hinaus sowie der – auch begriffliche – Dialog mit den Theaterwissenschaften. Die experimentelle Implementierung einer spezifischen Terminologie wurde dabei immer wieder zur Diskussion gestellt. Einerseits entzieht sich das Kunstwerk, mit Edgar Wind gesprochen, jeder Beschreibung stets aufs Neue [7]; doch kann gerade im Hinblick auf eine gattungsübergreifende Betrachtung und einen interdisziplinären Dialog eine spezifische Terminologie von größtem Nutzen sein. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von analoger und digitaler Immersion gilt es künftig noch detaillierter zu analysieren, um zu verstehen, wo die Möglichkeiten und Grenzen kunstwissenschaftlicher Kompetenz liegen. Hierfür hat die Erlangener Tagung einen inspirierenden Auftakt geboten.
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Anmerkungen:
[1] Christina Strunck (Hg.): Bild-Raum-Wissenschaft. Studies on Spatially Embedded Art, Berlin 2024.
[2] Wilma Bucci: Emotional Communication and Therapeutic Change. Understanding Psychotherapy through Multiple Code Theory, New York 2021.
[3] Die Ausstellung musste wegen Proteste aus dem konservativen und teils auch rechten Spektrum nach nur wenigen Tagen geschlossen werden.
[4] Ausstellung „ganz konkret 2“ im Kunstpalais Erlangen. Laufzeit: 17.05.–28.09.2025
[5] Ausstellung „Zohar Fraiman: You-Phoria“ im Kunstpalais Erlangen. Laufzeit: 17.05.–28.09.2025
[6] Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016.
[7] Edgar Wind: Ästhetischer und Kunstwissenschaftlicher Gegenstand, Universität Hamburg, Hochschulschrift, Hamburg 1922.
Recommended Citation:
Katharina Bedenbender: [Conference Report of:] Verführende Räume. Multisensorischen Bild-Raum-Ensembles (16.-21. Jh.) (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Jun 2–03, 2025). In: ArtHist.net, Jul 1, 2025 (accessed Jul 3, 2025), <https://arthist.net/reviews/49598>.
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