In den Doppelbiographien beschrieb der griechische Schriftsteller Plutarch 96 n. Chr. in der Vita des Antonius die Ereignisse rund um den Tod der letzten Ptolemaierkönigin Kleopatra. Er berichtet, dass Kleopatra nach der Niederlage des Marcus Antonius gegen Octavian, dem späteren Kaiser Augustus, im Jahr 31 v. Chr. in Alexandria in Gewahrsam genommen wurde. Um der Gefangenschaft und der demütigenden Zurschaustellung im Triumphzug Octavians zu entgehen, soll sie sich nach dem Suizid von Antonius im Jahr 30 v. Chr. durch den Biss einer Giftschlange ebenfalls selbst getötet haben. Die römischen Soldaten fanden die Pharaonin in vollem Ornat auf einem goldenen Bett vor, scheinbar schlafend. Gemäß Plutarch wollte sie so bildhaft in Erinnerung bleiben. Das gelang ihr: Im Triumphzug der Römer wurde statt der lebenden Königin von Ägypten eine Skulptur der aufgebahrten Kleopatra auf einem Schaugerüst mitgeführt.
Hui Luan Trans Studie Vor-bildliches Sterben untersucht den autopoetischen Gehalt dieser Inszenierungen und fragt nach dem bildtheoretischen Potential des Motivs der Kleopatra in der bildenden Kunst Europas der Frühen Neuzeit. Es handelt sich um eine Dissertation, die 2018 an der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommen wurde.
In der Tradition der ‚Metamalerei‘ nach Victor Stoichiță [1], befasst sich Tran weniger mit der Ikonographie als vielmehr mit den Konzepten und Relationen von „Vorbild, Vorstellungsbild oder Urbild und dem Abbild“ (S. 215). Sie geht dabei von der Allegorie der Malerei (um 1645) des neapolitanischen Malers Andrea Vaccaro (1604–1670) in einer Privatsammlung aus, der in seiner Figur der Pictura wohl die Malerin Annella de Rosa porträtierte. Letztere wird, den Blick aus dem Bild gewandt, in einem Moment des Innhaltens dargestellt: vor der Leinwand stehend, beim Malen des Motivs der sterbenden Kleopatra. Trans Arbeit baut auf der umfangreichen ikonographischen Forschungsliteratur zum Tod der Kleopatra auf. Unter der Prämisse einer „zunehmenden Anerkennung der bildenden Künste als Erkenntniserzeuger in der Frühen Neuzeit“ (S. 28) untersucht die Autorin die „autonome Wirklichkeit des Vorstellungsbildes“ (S. 28) und die „Beziehung zwischen Vor(stellungs)bildern und deren wahrnehmbar umgesetzten Abbildern“ (S. 27). Dabei folgt sie Wolfram Pichlers und Ralph Ubls phänomenologischer Bildtheorie zur Einführung (2016). Obwohl Tran ihren Bildbegriff genau definiert, sind ‚Bildwerk‘ und ‚Kunstwerk‘ durchweg synonym verwendet. Die Argumentation vollzieht sich nicht in geradliniger Form, sondern entfaltet sich eher dialektisch mit zahlreichen Vergleichswerken und Exkursen kunsttheoretisch und an den Artefakten begründend. Die kleinteilig gegliederte Arbeit verfolgt das Motiv von der „Transformation im Akt des Selbstmordes“ (S. 312) vom sterbenden Menschen zum Bildwerk anhand von drei Fallstudien.
Der erste Fall ist das Blatt des Vierzigsten Lebensjahrs eines um 1600 entstandenen Lebensalter-Zyklus des flämischen Kupferstechers Nicolaes de Bruyn. Kleopatra steht als Statue in der Werkstatt des von Tran zu Recht als Michelangelo interpretierten Bildhauers. Auf der Grundlage von Plutarchs Schilderung des Todes von Kleopatra und seiner Rezeption, analysiert Tran die Statue als Attribut im Zusammenhang mit Ruhm (fama) und Gedächtnis (memoria) in niederländischen und flämischen Kupferstichen (S. 60). Kleopatra als Motiv sei, so Tran, trotz negativer Zuschreibungen wie Unkeuschheit, Unfrömmigkeit und Verschwendungssucht, in diesem Kontext dennoch bildwürdig, weil sie nicht nur durch ihr Leben, sondern auch durch die bildhafte Inszenierung ihres toten Körpers Unsterblichkeit erlangt habe (S. 81). Im Kontrast zu bekannten Mythen vom Ursprung des Bildes wie etwa Ovids Erzählung der Verlebendigung der Statue des Pygmalion, welche ohne Vorbild in der Natur ist, sei Kleopatras Inszenierung im Selbstmord als „letzter Anblick“ reizvoll (S. 113), weil sie „ohne Wechsel des ontologischen Status in ein Abbild [mündet]“ (S. 93) und diesen Übergang selbst erzeugt.
Die zweite Fallstudie dreht sich um Michelangelos (1475–1564) Zeichnung der Cleopatra (23,2 × 18,2 cm) in der Casa Buonarroti in Florenz. In dem Kapitel steckt eine umfangreiche kennerschaftliche Fallstudie zur Frage der Zuschreibung und Funktion der sog. teste divine, der göttlichen Köpfe Michelangelos. Tran weist nach, dass die Zeichnung mit dem Kopf der Kleopatra innerhalb der teste divine einen „Sonderstatus“ (S. 120) einnimmt, die in ihrem Entstehungskontext begründet ist. Diese Zeichnung unterscheidet sich von den anderen in der Gruppe durch ihre gestaltete Rückseite: Auf dem Verso findet sich die Zeichnung eines weiteren Kopfes, der als Medusa interpretiert wird. Michelangelo schuf den Kopf der Kleopatra ursprünglich als „Musterblatt“ für seinen Schüler Antonio Mini im Rahmen von Unterrichtszwecken (S. 209), und später kam es für Tommaso de‘ Cavalieri zum Einsatz. Aufgrund der innigen freundschaftlichen Beziehung zwischen Michelangelo und Cavalieri interpretiert Tran die Zeichnung als „Programmblatt“ (S. 217). Die Autorin erörtert die in der Forschungsliteratur diskutierte Frage, ob die Zeichnung von Michelangelos Hand oder eine Kopie Cavalieris sei. Sie schlägt vor, dass die Zeichnung das Ergebnis eines „dialogischen Lehrverhältnisses“ sei (S. 217), das beide im Austausch zeichnend gestalteten. Die Medusa auf der Rückseite interpretiert sie einleuchtend als Ergebnis eines Nachdenkprozesses über die Ursprünge von Bildern zwischen der „ikonopoetischen“ Kraft des versteinernden Blicks der Gorgone und der „autopoetischen“ Kleopatras (S. 216).
Die Verbindung etablierter Methoden wie der Stilkritik mit kunsttheoretischen Fragestellungen ist hier gewinnbringend. Auch wenn Tran in der Einleitung ankündigt, sich der „bildtheoretischen“ Dimension willen von „Gender- und Alteritätsfragen“ lösen zu wollen (S. 38), vermisst man gerade Letzteres in der Analyse zu Michelangelos Kleopatrablatt. Im Anschluss an die niederländischen und flämischen Kupferstiche im vorherigen Teil hätte sich angeboten, die Perspektive über Italien hinaus zu erweitern und für die Diskussion der Konzeption von Michelangelos teste ähnliche Überlegungen zu den niederländischen Tronien in den Blick zu nehmen. Die Gattung einfiguriger Kopf- oder Brustbilder entwickelte sich im 17. Jahrhundert im Umfeld von Rembrandt und Jan Lievens in Auseinandersetzung mit italienischen Vorläufern.[2]
Das letzte Fallbeispiel setzt das Felice Ficherelli (1603–1660) zugeschriebene Gemälde mit dem Tod der Kleopatra in der Narodna Galerija in Ljubljana in den Kontext des Schöpfungsaktes des Urbildes im deus artifex. In diesem Kapitel untersucht Tran die Konzeption von Kleopatra-Darstellungen in der italienischen Malerei des 17. Jahrhunderts. Aus dem Vergleich von Motiven der Christus- mit der Kleopatra-Ikonographie zieht sie Rückschlüsse auf das Kleopatra-Motiv. Gewagt vergleicht die Verfasserin dabei Darstellungselemente genannten Gemäldes mit Christusdarstellungen, wobei der Vergleich der Seitenwunde Christi mit der Bisswunde der Schlange noch am ehesten überzeugt.
Tran postuliert eine „Christusgleichheit“ (S. 257) zwischen Christus und Kleopatra, die sich als Reinkarnation der Göttin Isis inszenierte und in der „medialen Transformation im Akt des Selbstmords“ (S. 312) Kleopatras begründet sei. Christusbild wie Kleopatrabild seien aus sich selbst heraus entstanden: Christus im Moment der Fleischwerdung bei seiner Geburt, Kleopatra bei ihrem Tod. Obwohl die Autorin zu Beginn des Kapitels das gegenreformatorische Bilderdekret zu den profanen und sakralen Bildwerken einführt, argumentiert sie hier kunsttheoretisch und visuell, ohne theologische Quellen. Den Status Kleopatras als „Produkt eines transformativen Bildwerdungsprozesses“ (S. 313) kann Tran anhand der Rezeption der hellenistischen Liegefigur der Schlafenden Ariadne in den vatikanischen Museen belegen, die im 16. Jahrhundert als Kleopatra interpretiert wurde. Baldassare Castiglione setzte die Statue 1513/1516 in einem Gedicht sogar mit der im Schaugerüst des Triumphzugs mitgeführten Skulptur Kleopatras auf ihrem Totenbett gleich.
In einem weiteren Übertragungsschritt führt Tran ihre Argumentation vom Sterben wieder auf das Thema des Nachlebens des Künstlers in seinem Werk zurück. Sie zeigt, dass das Motiv der Auferstehung Christi auf das Nachleben der Künstler in ihrem Werk ziele, sowohl in der Kunstgeschichtsschreibung Giorgio Vasaris als auch in Künstlerselbstbildnissen (S. 306f). So stellte sich etwa Palma il Giovane (1550–1628) um 1590 in seinem Selbstporträt in der Mailänder Brera beim Malen einer Auferstehung Christi dar. An solchen Punkten wäre eine Differenzierung von Bild- und Kunstwerk lohnenswert und hätte Rückschlüsse auf den Status der Bilder im „Zeitalter der Kunst“ erlaubt [3]. Ein erweiterter Fokus hätte dieser Verwischung vielleicht Abhilfe getan. Gerade der Vergleich von Christusbild und Kleopatramotiv lässt etwa die Berücksichtigung von Gerhard Wolfs grundlegenden Studien zum Status des Christusbildes im Verhältnis zu künstlerischen Ursprungslegenden wie Narziß und Medusa [4] vermissen.
Zur stärkeren Argumentation der Studie zählen schließlich die Unterkapitel, die die Fallstudie zu den Christus-Allusionen unterbrechen und die das in der Einleitung eingeführte Thema der Pictura, die Kleopatra malt, aufgreifen (obschon sie aus dem Christus-Thema herausfallen). Tran führt darin Artemisia Gentileschis Kleopatra (ca. 1620) in Ferrara mit ihrer Allegorie der Malerei (1630 oder 1638/1639) in London zusammen und zeigt überzeugend, dass sich Gentileschi in ihrer Allegorie der Malerei auf ihre Kleopatra bezog: „Das Selbstzitat ersetzt […], was in der Allegorie der Malerei nicht sichtbar ist: Das, was Pictura malt, ist Kleopatra“ (S. 292). In einer Analogie von Pinsel und Schlange verweist Tran dabei auf den „destruktiven Charakter des malerischen Schaffens“ (S. 297).
Zusammenfassend unternimmt Hui Luan Tran den lohnenswerten Versuch, Kleopatra neben Christus und Narziß, Dibutade und Medusa in die bildtheoretische und kunstwissenschaftliche Historiographie vom Ursprung und Status der Bilder einzuführen. Dabei blieb bewusst ungeklärt, auf welches Urbild sich die Kleopatrabilder letztlich beziehen und wie das Verhältnis von Ur- und Abbildern gestaltet ist. Diese begründete „Offenheit“ (S. 323) an der Vielfalt möglicher Beziehungen zwischen Ur- und Abbildern mag die Popularität des Motivs in der europäischen Kunst der Frühen Neuzeit und das kontinuierliche Interesse daran erklären [5]. Diesen Ansatz bestätigt die 2023 ebenfalls in der edition imorde erschienene methodologische Studie von Marius Rimmele zu Eva, Kleopatra und die Schlangen. Metaphorik im Bild und kognitive Metaphertheorien. Rimmeles Untersuchung bekräftigt mittels ganz unterschiedlichen Materials zu Kleopatra die Ambivalenz des frühneuzeitlichen Kleopatrabildes und vermutet seinen Erfolg eben darin [6].
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[1] Victor I. Stoichiță, Das selbstbewußte Bild. Vom Ursprung der Metamalerei,
München 1998 (zuerst: L’instauration du tableau. Métapeinture à l’aube des temps modernes, Paris 1993).
[2] U.a. Franziska Gottwald, Das Tronie. Muster – Studie – Meisterwerk. Die Genese einer Gattung der Malerei vom 15. Jahrhundert bis zu Rembrandt, Berlin 2011.
[3] U.a. Gerhard Wolf, ‚Arte superficiem illam fontis amplecti‘. Alberti, Narziß und die Erfindung der Malerei, in: Diletto e Maraviglia. Ausdruck und Wirkung in der Kunst von der Renaissance bis zum Barock, hg. v. Christine Göttler, Ulrike Müller-Hofstede und Rudolf Preimesberger, Emsdetten 1998, S. 10–39; Gerhard Wolf, Schleier und Spiegel. Traditionen des Christusbildes und die Bildkonzepte der Renaissance, München 2002.
[4] Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990.
[5] Vgl. u.a. jüngst Le mythe Cléopâtre, Ausst.-Kat. Paris, Montreuil 2014; Cleopatra and the Queens of Egypt, Ausst.-Kat. Tokyo 2015; La morte di Cleopatra, Ausst.-Kat. New York, Mailand 2017; Anna Maria Montanari, Cleopatra in Italian and English Renaissance Drama, Amsterdam 2019; Rosanna Gorris Camos (Hg.), Hieroglyphica: Cléopâtre et l’Égypte. Entre France et Italie à la Renaissance, Tours 2021.
[6] Marius Rimmele, Eva, Kleopatra und die Schlangen. Metaphorik im Bild und kognitive Metaphertheorien, Emsdetten/Berlin 2023, S. 321. Siehe zu diesem Argument bereits Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt a. M. 1979.
Tran, Hui Luan: Vor-Bildliches Sterben. Der Tod der Kleopatra als bildtheoretisches Motiv in der Frühen Neuzeit (= Zephir; 9), Emsdetten,Berlin: Edition Imorde 2020
ISBN-13: 978-3-942810-51-7, 378 Seiten, Broschur :EUR 49.00 (DE), Inhaltsverzeichnis
Empfohlene Zitation:
Sammern Romana: [Rezension zu:] Tran, Hui Luan: Vor-Bildliches Sterben. Der Tod der Kleopatra als bildtheoretisches Motiv in der Frühen Neuzeit (= Zephir; 9), Emsdetten,Berlin 2020. In: ArtHist.net, 10.01.2024. Letzter Zugriff 26.11.2024. <https://arthist.net/reviews/40872>.
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