REV-CONF 31.05.2022

Kunst des Informel. Bilanz und Perspektiven der Forschung

Universität Bonn, 30.03.–01.04.2022

Bericht von Dominik Eckel, Universiät zu Köln
Redaktion: Livia Cárdenas

[Tagungsbericht im Auftrag der Veranstalter]

Wie wirken sich globale, transnationale, gender-kritische oder netzwerk-orientierte Implikationen auf die derzeitige Forschung zum weit begriffenen Informel aus und wie können zukünftig solche Intersektionen die Erforschung und Lehre des Informel gestalten? Diesen Fragen widmete die Forschungsstelle Informelle Kunst der Universität Bonn eine Tagung, auf der solche und ähnliche Perspektiven kritisch betrachtet und diskutiert werden sollten. Nach zweimaliger Verschiebung fand die international angelegte Tagung, organisiert von Christoph Zuschlag und Anne-Kathrin Hinz, schließlich in einem Hybrid-Format mit fünf Sektionen statt: „Monografische Zugänge“ (1), „Bildkonzepte“ (2), „Nebenwege“ (3), „Netzwerke“ (4) und „Begriffs-, Wirkungs- & Diskussionshistorie“ (5).[1] Überwiegend kamen Positionen der deutschsprachigen Forschungslandschaft zu Wort, was unter anderem der schwierigen Planbarkeit aufgrund der weltpolitischen Gesundheitssituation geschuldet war.

„Monografische Zugänge“ (Sektion 1) zum Œuvre Jacques Delahayes und Antoni Tàpies stellten Sandra Brutscher und Melitta Kliege vor (der Vortrag von Christiane Julia Kärcher entfiel). Anhand Delahayes Œuvre – der einzige auf der Tagung ausführlicher thematisierte Bildhauer – eröffnete Brutscher zwei Perspektiven. Einerseits problematisierte Brutscher die bisher unterbeleuchtete Rolle der Skulptur in der informellen Kunst, Andererseits thematisierte sie die deutliche Distanzierung Delahayes vom Informel in den 1960er Jahren (die weitere Künstler:innen auch vornahmen), was dessen intensive, aber damit auch kurzlebige Hochphase aufzeigt. Kliege ermöglichte Einblicke in Antoni Tàpies ästhetische Entwicklung und in sammlungs- und ausstellungspolitische Verstrickungen. Die erste Sektion trug vor allem mit ihren beiden Fallbeispielen zur Problematisierung bei, wie informelle Kunst in ihren unterschiedlichen Spielarten verschiedene Herangehensweisen fordert: eine stärker theoretische wie im Fall von Delahayes Skulptur oder eine den politischen Kontext reflektierende, wie im Fall von Tàpies.

In der Sektion „Bildkonzepte“ (Sektion 2) plädierte Alexander Leinemann für eine begriffskritische Notwendigkeit beim wissenschaftlichen Umgang mit der Bezeichnung „all over“ und ihren Derivaten „all over design“ und „all over painting“. So wurde deutlich, dass dieser Begriff als sprachlich unreflektierte Trope vor allem zur Beschreibung von Oberflächengestaltungen von Malerei und Fotografie verwendet wird. Wie sich eine horizontale Malerei im Kontext der kulturhistorisch verstandenen Aufrichtung des Menschen in Werkprozesse und Ausstellungsanordnungen informeller Kunst einschreibt, erörterte Dominik Eckel. Beide Vorträge verdeutlichten eine Pluralisierung von malerischen Bildkonzepten in der unmittelbaren Nachkriegszeit.

Als „Nebenwege“ (Sektion 3) bezeichneten die Veranstalter:innen das Wirken informeller Künstler:innen in der Gestaltung von Teppichen, Tapeten, Textil und Glasfenstern. Zeithistorische Wertungen der Dekoration überliefern dabei ein hierarchisches Verständnis der eigenen dekorativen Produktion. Alle drei Vortragenden (Christian Spies, Sabine Bartelsheim, Liane Wilhelmus) machten dabei auf das Problem der Dokumentation aufmerksam: unklare Zugehörigkeiten und nicht gesicherte oder verlorene Entwürfe, die auch keinen Eingang in Werkverzeichnisse fanden, erschweren zwar die Aufarbeitung des informellen Dekorativen, aber bergen auch ein großes Potential zukünftiger wissenschaftlicher Erschließung. Ansehnlich konnte Liane Wilhelmus darlegen, wie viele informelle Künstler Kirchenfenster gestalteten, was auch den Anlass zu einer Besichtigung während der Tagung gab. Am prägnantesten wurde in den „Nebenwegen“ offensichtlich, dass das Informel eine vielfältige Quellenlage für unterschiedliche Perspektiven bietet. Diese Quellenlage scheint im Zusammenhang mit dem Dekorativen bisher weniger überblickt worden zu sein.

Bedeutungen und Auswirkungen von „Netzwerken“ (Sektion 4) erlauben eine mikrogeschichtliche Auseinandersetzung mit den Forschungsgegenständen, die die umfassenderen, makrogeschichtlichen und damit zwangsläufig verallgemeinernden Überblickshistorien kontrastieren, diversifizieren oder korrigieren. Diesem Ansatz wurde so die größte Sektion mit ursprünglich fünf Vorträgen zuteil (der Vortrag von Sigrid Hofer entfiel). Juliette Evezard konnte in diesem Rahmen den Wirkungsbereich des Theoretikers und Galeristen Michel Tapié nachzeichnen. Sie rekurrierte auf den Beginn seiner Pariser Ausstellungstätigkeiten und berührte damit implizit die Frage einer Dezentralisierung vom informellen Kunstschaffen, da sich im Pariser Galeriewesen das Bedürfnis nach internationalen Kollaborationen abzeichnete und Tapié in anderen Regionen nach ähnlichen Gestaltungsweisen suchte. Dem begegnete Marie-Amélie zu Salm-Salm mit einer Betonung der Bedeutung des Pariser Künstlermilieus. Sie plädierte für eine parallele Entwicklung zur „heißen“ Abstraktion in Paris, der BRD und Österreich, jedoch mit zeitlicher Verschiebung in den beiden letztgenannten Kunstszenen, wozu ihr Bildvergleiche mit formalen Ähnlichkeiten dienten. Dass so ausbleibende kritische Zentrumsbefragungen auch Künstler:innen ausschließen und dadurch für die Erfassung des Wirkungsbereichs Informel problematisch sind, wurde anhand von Stephan Geigers Vortrag deutlich. Die Gruppe 11, der er sich annahm, hatte keine oder kaum Verbindungen nach Paris, dafür aber zu der ebenfalls weniger bekannten informellen Malereiszene in London, weshalb deren Werke bisher kaum in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung wahrgenommen wurden. So hat Geiger die Gruppe 11 als fruchtbares Argument in der Sache um das Hinterfragen des Pariser Zentrums anführen können. Auch Martin Schieder erschloss einen neuen Bereich für das Informel, indem er eine Verbindung von Galerien und Verkaufsausstellungen mit der kaufstarken Bourgeoisie nachzeichnete, die er durch Werbeanzeigen in Katalogen und Magazinen als nicht unerhebliches Zielpublikum rekonstruierte.

Die fünfte und letzte Sektion befragte die Nachwirkungen von informeller Kunst und ihre Implikationen in späteren Künstlerschaften und Theorien. De Bieberstein Ilgner konturierte eine Wirkungsgeschichte von Wols auf u.a. Jeff Wall und Charline von Heyl. Auch hier waren formale Gemeinsamkeiten auf die Probe gestellt, da formale Bezüge zwischen zwei Werken die Frage nach der Art und Weise, der Qualität und dem Kontext des Bezugs notwendig machen – eine Frage, die seltener diskutiert wurde. Dass der Rückbezug auf das Informel auch nebulös bleiben kann, wurde durch Alice Trucs Beitrag verständlich. Michel Tapiés Konzepte von Informel und „art autre“ stellte die Rednerin auf den Prüfstand der damals zeitgenössischen Kritik. Diese Begriffe waren und sind bis heute schwer definierbar, ähnlich dem „all over“, womit sich eine gewisse Kontinuität der Unschärfe feststellen ließ. Ob diese Begriffe nun produktiv und unverfänglich nutzbar seien, beantwortete Truc mit einem Hinweis auf eine bisher nicht ausreichende, historisch-kritische Reflexion. Ob dies durch die Unschärfe der Begriffe möglich ist, blieb offen. Jenevieve Nykolak konnte dafür präzise darstellen, wie informelle Kunst auch im Denken und Schreiben des französischen Kunsthistorikers Hubert Damisch neue Denkanstöße eröffnete. So zeichnete sie dessen These nach, die Teilhabe der Materialität in der semiotischen Theorie stärker einzubeziehen. In der Schichtung auf dem Bildträger, bei der Damisch das materialorientierte Informell zum Anlass nahm, seien die Auswirkung des Materials noch zu eruieren.

Insgesamt spiegelte die Tagung und ihre Beiträge die Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit des Informel. Ob man den pluralen Bildkonzepten und individuellen Abstraktionen überhaupt mit Bildvergleichen, die Gemeinsamkeiten postulieren, gerecht begegnen kann, bleibt auch nach der Tagung eine offene Frage. Als weitere Fragezeichen blieben auch die transnationalen und gender-betreffenden Aspekte und Problematiken stehen. Hier wäre es wünschenswert gewesen, den Horizont über das europäische, vorwiegend französisch-deutsche Wirkungsgebiet hinauszuwagen, denn nur Stephan Geiger bezog dezentrale, britisch-informelle Komponenten mit ein. Auch blitzte nur kurz in der Diskussion die Frage auf, warum den meisten Künstlerinnen ähnliche Aufmerksamkeiten und Karrieren wie den männlichen Kollegen verwehrt wurden. Und gerade unter diesem Aspekt hat die wissenschaftliche Erschließung aufzuholen, da Namen von Künstlerinnen zwar bekannt, die Dokumentationslage aber prekär ist.

Wie kann man also der Vielfältigkeit und Unübersichtlichkeit des Informel wissenschaftlich begegnen? Diese Frage wurde immer nur im Einzelfall, also mit dem jeweiligen Fokus auf die eigenen Fragen der Wissenschaftler:innen, begegnet. Durch seine Vielfalt lässt sich „Informel“ bis in die heutige wissenschaftliche Auseinandersetzung nur mit Vorsicht verwenden und eignet sich nur umständlich als kategorische Beschreibung unterschiedlicher Werkgruppen der 1950er Jahre, da eine ausreichende historisch-kritische Revision noch aussteht. So müsse in der Forschung immer die Funktionalisierung der Begriffe und Konzepte in ihren Kontexten bedacht werden, wie sich in der Abschlussdiskussion herausstellte. Als Beispiel diente hier der immer noch verwendete Topos des Informel als „Kunst der Freiheit“, der seine kulturpolitische, Demokratie-programmatische Funktionalisierung der nachkriegsdeutschen Westintegration offenbart – eine Funktionalisierung, der einige Künstler:innen wiederholt widersprochen haben. Künstlerische, ästhetisch-theoretische oder konzeptuelle Widersprüche als zeithistorische Phänomene im Wirkungsbereich Informel und seinen jeweiligen Kunstszenen zu behandeln, das wurde im Verlauf der Tagung deutlich, muss der Auftrag der zukünftigen Forschung zum Informel sein.

Empfohlene Zitation:
Dominik Eckel: [Tagungsbericht zu:] Kunst des Informel. Bilanz und Perspektiven der Forschung (Universität Bonn, 30.03.–01.04.2022). In: ArtHist.net, 31.05.2022. Letzter Zugriff 28.03.2024. <https://arthist.net/reviews/36819>.

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