REV 23.09.2022

Weiger, Katharina: Studien zu einer Kreuzigung im Louvre. Malerei nach Giotto

Rezensiert von Simone Westermann, Meran
Redaktion: Henry Kaap
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Katharina Weigers Buch Studien zu einer Kreuzigung im Louvre. Malerei nach Giotto in Unteritalien und Kunst am Anjou-Hof (https://books.ub.uni-heidelberg.de/arthistoricum/catalog/book/754) erschien 2021 als digitale Publikation bei arthistoricum.net und widmet sich erstmalig intensiv einer 1,36 x 1,18 m messenden volkreichen Kreuzigungstafel, die in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts in Neapel entstand und heute im Louvre in Paris aufbewahrt wird (https://collections.louvre.fr/en/ark:/53355/cl010067146). Das Bild wurde Weiger zufolge um 1332/33 in einer von Giotto di Bondone geprägten Werkstatt im Auftrag des neapolitanischen Hofes geschaffen, der von dem Königspaar Robert von Anjou und Sancia von Mallorca gerade in Fragen der Bildpolitik und Ikonographie weitreichend gelenkt wurde. Es ist dieser gesellschaftliche und kunsthistorische Kontext, den die Autorin im Rahmen ihrer detaillierten Studie zum Tafelbild fokussiert.

Die 2018 als Dissertation an der Freien Universität Berlin angenommene Arbeit umfasst drei Kapitel, die sich jeweils zwei größeren Themenblöcken widmen. Beginnend wird das Bildthema des volkreichen Kalvarienbergs, seine frühe Genese und Ausschmückung untersucht und damit der Entstehungskontext des Bildes behandelt. Durch eine pointierte Bildanalyse grenzt Weiger die Pariser Kreuzigung von dem für das frühe Trecento in der Kunsthistoriographie als dominant dargestellte Schaffen Giottos ab und zeigt eine eigenständige Kreuzigungsproduktion in Neapel, die sich zwar auch, aber nicht nur aus giottesken Vorbildern, sondern aus disparaten Quellen wie römischer und sienesischer Malerei und Plastik speist. Weiger verweist zurecht daraufhin, dass die Malerei des frühen Trecento keine One-Man-Show Giottos war, auch wenn seine Präsenz in Neapel einen deutlichen Nachklang hatte. Durch ihre Analyse spezifischer Details (bspw. Punzierung/Kleidung [S.35/36]) belegt die Autorin zudem, dass die Pariser Kreuzigung eindeutig in den künstlerischen locus Neapel situiert werden kann (S. 44). Damit bekräftigt sie die Vielfältigkeit künstlerischer Stile der ersten Jahrhunderthälfte des Trecento und auch Neapels, die im Zuge der Mythifizierung Giottos zuweilen unberücksichtigt blieb. Dieser stilgeschichtliche Abschnitt wird durch die faszinierende Wandlung des Tafelbildes vervollständigt, dessen Goldgrund wohl im 15. Jahrhundert abgenommen und durch eine karge, dunkle Hügellandschaft ersetzt wurde (S. 53). Die invasive Bildpraxis nimmt Weiger näher unter die Lupe und resümiert, dass das veränderte Rezeptionserlebnis des Bildes mit einer sich gewandelten Seh- und Devotionspraxis im Italien des 15. Jahrhunderts einherging.

Der zweite Teil der Arbeit (ab S. 71) kann als innovativster unter den Überlegungen Weigers zur neapolitanischen Kreuzigung gelten. Hier wird die stilistische Analyse des Bildes zum einen mit dessen Auftraggeber:innen-, und zum anderen mit dem sozial- sowie frömmigkeitsgeschichtlichen Kontext verwoben. Weiger gelingt es, durch eine überzeugende und sehr spannende Argumentation (zur Freude der Leser:innen) Königin Sancia zur Schlüsselfigur für wichtige Bildthemen der frühtrecentesken Bildproduktion am Hof der Anjou avancieren zu lassen. Als zentralen Aspekte sieht Weiger die von Sancia unterstützte ‚Blutfrömmigkeit‘ und das marianische Thema des ‚Mutterschmerzes‘, deren Ursprung sie in der Frömmigkeitsvorstellung der Königin und in der religiösen Praxis neapolitanischer Konvente aufspürt. Für das Thema des ‚Mutterschmerzes‘ greift Weiger die Untersuchung von Adrian Hoch auf, der zeigen konnte, dass Sancia – entgegen der tradierten Auffassung – nicht kinderlos geblieben war, sondern „mindestens ein Kind zur Welt gebracht“ (S. 75) hatte, das sie allerdings früh verloren haben muss. Weiger nutzt diese Erkenntnis erstmalig im kunsthistorischen Kontext mit Verweis auf die Mariendarstellung in der Kreuzigung. Die „compassio-Darstellung“ (S. 73) der in Ohnmacht fallenden Maria und einer weiteren Heiligen, die sich vor dem Kreuze Jesu das Gesicht blutig kratzt, sind ungewöhnliche Bildlösungen und können als Indiz für Sancias Auftraggeberschaft gelten, deren eigene Kindesverlust-Erfahrung eventuell in der Genese dieser ungewöhnlichen Ikonographie ihr Zutun hatte. ‚Blutfrömmigkeit‘ und ‚Mutterschmerz‘ erkennt die Autorin nicht nur in der zentralen Kreuzigungstafel, sondern auch in zeitgenössischen neapolitanischen Bildwerken sowie in der Frömmigkeitspraxis Neapels, was wiederum wegweisend für die lokale Bildproduktion und – dies wird lediglich angedeutet – die späteren devotionalen Praktiken ist, beispielsweise für den bis heute tief empfundenen Blutkult um San Gennaro, der sich erst einige Jahrzehnte später in Neapel etablierte (S. 100).

Das Thema der devotionalen Praxis am Hof der Anjou wird folgend mit einem Kapitel zu König Robert verankert, dessen schriftliche Auseinandersetzung mit der Kontroverse um die visio beatifica Dei – den Modi und dem Zeitpunkt der Gotteserkenntnis nach dem Tod – zeigt, wie involviert der neapolitanische König in Glaubensfragen bis auf höchster Ebene war (S. 101). Weiger sieht zwischen Roberts Stellungnahme zu der Kontroverse, die dieser 1332 unter dem Titel De visione Dei an den Papsthof nach Avignon schickte, und der Ikonographie der Pariser Kreuzigungstafel inhaltliche Überschneidungen, wodurch sie die Tafel in die Jahre 1332/1333 datiert. Auch an anderen im höfischen Kontext in Auftrag gegebenen Bildwerken, wie der Stuttgarter Apokalypsetafel (S. 108) und einer Reihe bemerkenswerter Bilderbibeln (S. 110), verweist die Autorin auf das Thema der ‚Gotteserkenntnis‘. Hiermit erläutert Weiger den Stellenwert und das Diskurspotential der Bilder am angiovinischen Hof und weist auch der Kreuzigung einen Beitrag zum Problem der Gotteserkenntnis zu (S. 114), einem Thema, das zur Zeit der Entstehung des Bildes stark polarisierte.

Die Rezeption der volkreichen Kreuzigung rundet die sorgfältige Besprechung der Tafel ab und gibt den Leser:innen im letzten der drei Abschnitte der Studie gleichsam einen durchaus weitreichenden Überblick über ähnliche, spätere Bildwerke im Königreich Neapel (S. 127). Dies, so konstatiert Weiger durchaus zu Recht, ist rückwirkend auch aussagekräftig im Hinblick auf die Bedeutung der Pariser Kreuzigung; denn wäre diese als weniger bekannt oder relevant einzustufen, hätte es keine so explizite Rezeption der Tafel gegeben. Ein letztes Kapitel beschäftigt sich mit der von der Autorin so genannten Ecclesia Neapolitana, der Erschaffung eines in Anlehnung an den avignonesischen Papsthof kreierten religiösen Herrscherhofs (S. 153). Robert, der sich selbst, dies scheint in seiner Bildpolitik durch, immer wieder in die Aura von heiligen Personen stellte (man denke an Simone Martinis Ludwigstafel), schuf ein Eigenverständnis der neapolitanischen Adelsklasse, in der sich diese – wie Weiger argumentiert – unter dem Segen von und in familiärer Nähe zu heiliggesprochenen Personen verstanden („ein von Haus aus heiliges Königsgeschlecht“ [S. 157]). Mit der methodischen Aufnahme des Begriffs der „Imitation“ zeigt Weiger, wie Robert – trotz tiefer Meinungsverschiedenheiten mit dem Papst – eine in Gebaren und Ausdruck dem Papsthof ähnelnde Institution schuf: eine Ecclesia Neapolitana – ein „sakrales Königtum“ – wie Weiger es nennt (S. 160). In diesem Zuge beschreibt die Autorin, wie Robert es verstand, für den Hof der Anjou in Neapel eine explizite auf die Idee der Ecclesia Neapolitana ausgerichtete Bildpolitik zu betreiben, in der die Pariser Kreuzigungstafel keine unwichtige Rolle einnehmen sollte (S. 176).

Weigers Buch zur Louvre Tafel ist nicht nur beispiellos in der Detailanalyse des neapolitanischen Bildes, sondern empfiehlt sich auch als Einführung in eine der künstlerisch lebendigsten Zeiten des Königreichs Neapel, das frühe Trecento und die Herrschaft Roberts von Anjou. Die im ersten Kapitel ausführlich untersuchte Transformation des Tafelgrundes von Blattgold zu gemalter Hügellandschaft eröffnet neue Aspekte und Einblicke in den frühneuzeitlichen Wandel von Seh- und Devotionspraktiken. Gerade im zweiten Kapitel, wenn es um die Auftraggeberschaft Sancias und die für die Kreuzigungstafel zentralen Themen der ‚Blutfrömmigkeit‘ und des ‚Mutterschmerzes‘ geht, spürt man den Enthusiasmus der Autorin, der geradewegs auf die Leser:innen übergeht. Etwas langatmiger liest sich das letzte Kapitel zu König Robert, das zwar sehr informativ die wichtigste Literatur zu Roberts Bildpolitik zusammenfasst, in Schreibfluss und Struktur doch sehr an das Format der Dissertation erinnert. Methodisch schlüsselt Weiger die Kreuzigung in ihrer Studie mit stil-, sozial- und frömmigkeitsgeschichtlichen Ansätzen auf (Weigers generellere Wortwahl zur Methodik: „Ikonographisch-ikonologischer Ansatz“ [S. 21]) und interpretiert das Bild in Bezug auf die Themen des ‚Mutterschmerzes‘, der ‚Blutfrömmigkeit‘ sowie der ‚Gotteserkenntnis‘, die für den angiovinischen Hof, wie sie überzeugend zeigen kann, eine besonders tragende Rolle spielten. Bei der Lektüre stellten sich zum Schluss noch einige Fragen: beispielweise inwieweit (und ob überhaupt) die Autorin die Stadt Neapel und den angiovinischen Königshof als Entitäten abgrenzen würde, da diese Begriffe in der Arbeit quasi synonym benutzt wurden. Ein weiterer interessanter Aspekt, der allerdings den Rahmen gesprengt hätte, ist der Bezug Neapels, des angiovinischen Hofes sowie der neapolitanischen Kunstproduktion nach Frankreich, was erst auf der letzten Seite des Buches angesprochen wird (S. 180). Zwar verweist Weiger auf die starke Inbezugnahme der Anjou auf den avignonesischen Papsthof und kurzweilig auch auf die Familienbeziehung der Anjou nach Frankreich, doch bleibt unerwähnt, dass es u.a. auch dort Blutwunder schon im 13. Jahrhundert gab (erzählt bspw. von Giovanni Villani in der Nova Cronica, Buch VII, Kapitel 136). In dieser Hinsicht wird Weigers Buch sicherlich weitere Auseinandersetzungen mit den verschiedenen von ihr hervorgehobenen Bildthematiken anregen.

Die Studie erschien als digitale Publikation bei arthistoricum.net. Die Publikationsplattform ART-Dok, die von der Universitätsbibliothek Heidelberg gehostet wird, gibt Forscher:innen der Kunstwissenschaft die Möglichkeit, ihre Arbeiten im open access zu publizieren (https://www.arthistoricum.net/publizieren). Leider ist es in Deutschland immer noch Tradition, dass Doktorand:innen auch bei Verlagsannahme der Schrift, die Kosten ihrer Publikation selber tragen müssen (was zuweilen zu ungläubigem Kopfschütteln bei internationalen Kolleg:innen führt). Die Plattform arthistoricum.net füllt das große Desiderat, auch jungen Wissenschaftler:innen die Möglichkeit einer qualitativ hochwertigen, erschwinglichen und zeitgemäßen Open Access-Publikation zu bieten. Lediglich die Kosten des Setzens der Arbeit muss von den Autor:innen übernommen werden. Die gedruckte Version Weigers Buch steht einer traditionellen Verlagspublikation in nichts nach, die Qualität des Einbandes und das Layout überzeugen. Ein einziger Kritikpunkt liegt in der Präsentation der Abbildungen. Die Qualität der Farben ist tadellos, jedoch ist das Format zu klein. Gerade bei den vielen zum Vergleich hinzugezogenen Kreuzigungsabbildungen bräuchte es eine Lupe, um die ins Detail gehende Argumentation der Autorin am Bild nachzuvollziehen. Während die Abbildungen im PDF am Computer, allerdings auf Kosten der Qualität, vergrößert werden können, ist dies für die Hardcopy natürlich nicht der Fall. Generell kann hier auch zukünftig gesagt werden (ob nun digital oder analog): Weniger (aber größer) ist mehr.

Weiger, Katharina: Studien zu einer Kreuzigung im Louvre. Malerei nach Giotto in Unteritalien und Kunst am Anjou-Hof, https://doi.org/10.11588/arthistoricum.754 / Heidelberg: arthistoricum.net - ART-Books 2021
ISBN-13: 978-3-948466-70-1, 225 S., ISBN 978-3-948466-71-8 (Softcover / 34,90 €), Inhaltsverzeichnis

Empfohlene Zitation:
Simone Westermann: [Rezension zu:] Weiger, Katharina: Studien zu einer Kreuzigung im Louvre. Malerei nach Giotto in Unteritalien und Kunst am Anjou-Hof, https://doi.org/10.11588/arthistoricum.754 / Heidelberg 2021. In: ArtHist.net, 23.09.2022. Letzter Zugriff 28.03.2024. <https://arthist.net/reviews/35365>.

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