REV 30.01.2012

Johannes Hamm: Barocke Altartabernakel in Süddeutschland

Rezensiert von Christian Hecht, Weimar
Redaktion: Livia Cárdenas
Click to enlarge

Zu den vielen Dingen, die das Konzil von Trient nicht beschlossen hat, gehört auch die Einführung des Altartabernakels – trotzdem wurde seine Verwendung in nachtridentinischer Zeit faktisch obligatorisch. In so gut wie allen katholischen Kirchenbauten hat man sich darum bemüht, das Tabernakel des Hochaltars zum optischen Zielpunkt der Architektur zu machen. Da man sich generell um einheitliche und axial strukturierte Räume bemühte, war eine zentrale Aufstellungen des Tabernakels ausgemacht sinnvoll. Dagegen waren die Tabernakel des späten Mittelalters und der Frührenaissance oft dezentral auf der Evangelienseite des Kirchenraums positioniert. Eine völlige Neuerung waren Hochaltartabernakel jedoch nicht, wie schon einige Bemerkungen des Wilhelm Durandus (gest. 1296) belegen, der in seinem „Rationale“ ein auf dem Altar stehendes „tabernaculum“ (IV, I, 15) beschreibt, das man leicht für „barock“ halten könnte. Es haben sich auch einige mittelalterliche Altartabernakel erhalten, etwa dasjenige der Erfurter Predigerkirche. Weitere Objekte ließen sich nennen, und mit Sicherheit dienten auch die Predellen vieler Altarretabel zur Aufnahme der konsekrierten Hostien. Während das Mittelalter also durchaus Hochaltartabernakel kannte, wurden diese von den nachtridentinischen liturgischen Bestimmungen in manchen Fällen sogar verboten, nämlich besonders für Bischofskirchen. Viele bedeutende Bauten besitzen daher einen Sakramentsaltar, der nicht mit dem Hochaltar identisch ist. Das ist etwa der Fall beim Passauer Dom. Dennoch stand auf dem barocken Hochaltar des Domes ein Tabernakel. Dieses wurde aber nur bei speziellen Anlässen genutzt, während die Eucharistie normalerweise auf dem „Speisaltar“ im linken Querschiffarm aufbewahrt wurde. Es wurde also ein Hochaltartabernakel geschaffen, obwohl die liturgischen Normen eigentlich dagegensprachen. Weil man derartige Anlagen aber nur temporär nutzte, konnte man dennoch den gültigen Bestimmungen entsprechen. Ähnliches gilt für die vielen, nur temporär genutzten Tabernakel der Seitenaltäre. Gerade die Tabernakel, die nicht zur dauerhaften Aufbewahrung des Allerheiligsten dienten, belegen, wie überzeugend das Konzept des Altartabernakels war. Seine Verwendung folgte gewissermaßen einer zwingenden liturgischen Logik. Das war deshalb der Fall, weil das Altartabernakel den Bedürfnissen der eucharistischen Frömmigkeit entgegenkam, die schon im späten Mittelalter eine große Intensität erreicht hatte. Das Tabernakel auf dem Hochaltar korrespondiert daher mit Kirchenbänken, die nunmehr allgemein üblich werden. Beides gehört zusammen: Der in der Kirchenbank kniende Gläubige verehrt das Corpus Christi, das er im Tabernakel weiß oder das hier in der Monstranz oder im Ziborium zur Anbetung „ausgesetzt“ wird.

So wichtig das Tabernakel in liturgischer und gestalterischer Hinsicht ist, so gering ist das Interesse, das es bisher in der Literatur gefunden hat. Kunsthistoriker haben es meist übersehen, Theologen hingegen halten es in der Gegenwart meist für eine liturgische Fehlentwicklung. Weiterhin wichtig ist daher Felix Raibles Buch „Der Tabernakel einst und jetzt“ (Freiburg i.Br. 1908). Außer Hans Casparys wichtiger Arbeit „Das Sakramentstabernakel in Italien“ (2. Aufl. München 1965) gibt es keine einschlägige kunsthistorische Monographie.

Zu den Regionen, in denen sich zahlreiche besonders qualitätvolle nachtridentinische Tabernakel erhalten haben, gehört das katholische Süddeutschland. Trotzdem ist es hinsichtlich der „barocken Altartabernakel in Süddeutschland“ – mehr noch als bei manchen ähnlich zugeschnittenen – schwierig, diese räumliche und sogar die zeitliche Abgrenzung mit anderen als mit praktischen Überlegungen zu begründen. Gerade bei einer Dissertation konnte jedoch gar kein anderer Zuschnitt gewählt werden, als es Johannes Hamm bei seiner Münchner Arbeit getan hat.

Der Verfasser holt weit aus. Nach einleitenden Überlegungen zur Begrifflichkeit und zur Eingrenzung des Themas behandelt er einige theologische Fragen, wobei er den Gegensatz zu den verschiedenen protestantischen Auffassungen stark betont (S. 21-24). Anschließend folgen wichtige Ausführungen zu den liturgischen Situationen, auf die das Tabernakel besonders bezogen ist.

Bereits hier stellt der Verfasser heraus, wie schwierig es sein kann, die konkreten liturgischen Bestimmungen mit den tatsächlichen Befunden in Einklang zu bringen. Die gesamtkirchlich aufgestellten Regelungen sind einerseits sehr allgemein gehalten und beziehen sich andererseits nur auf einige wenige Details. So wird besonders das Conopeum, das textile Tabernakelmäntelchen, immer wieder vorgeschrieben. Gerade dieses Ausstattungsstück ist aber für Süddeutschland kaum nachzuweisen. Auch wenn man zeitgenössische Bildquellen und Inventare einbeziehen würde, änderte sich dieser Befund wohl kaum. Es wäre daher zu fragen, ob nicht zumindest in einigen Fällen die Tabernakeldekorationen als quasi-textiles Conopeum zu deuten sind. Gelegentlich ist das offensichtlich (S. 335), außerdem hat man nachweislich auch manche architektonische Altarretabel als Umsetzung der Bestimmung über textile Altarbaldachine verstanden.

Die wünschenswerte Rekontextualisierung des Tabernakels hätte allerdings vielleicht noch etwas ausführlicher ausfallen dürfen. Das gilt auch für die Darlegungen zu den gesamt- und ortskirchlich verbindlichen liturgischen Bestimmungen (S. 35-37). An dieser Stelle erwähnt der Verfasser auch – der Publikation von Raible folgend – die einschlägige Bestimmung des Konzils von Trient, das zwar die Tradition der Aufbewahrung konsekrierter Hostien bestätigt, aber keine Angaben über die Gestaltung des Tabernakels macht. Weiterhin erwähnt werden an dieser Stelle die Bestimmungen des Bischofs von Verona Gian Matteo Giberti, der das Altartabernakel in seiner Diözese einzuführen wünschte. Ebenso genannt werden die Mailänder Bestimmungen, die der hl. Karl Borromäus verantwortete und die auch außerhalb der Mailänder Kirchenprovinz rezipiert wurden. Etwas unglücklich ist es, wenn der Verfasser das „Rituale Romanum“ wiederum nur nach Raible zitiert, denn dadurch erhält der eine einschlägige Satz des Rituales ein zu großes Gewicht.

Zweifellos sind die einleitenden Ausführungen des Autors sehr zu begrüßen, auch wenn sie sich im wesentlichen auf das von Raible zur Verfügung gestellte Material stützen, dennoch macht sich gerade hier ein Mangel bemerkbar, der leider nicht unerwähnt bleiben kann, nämlich der fast völlige Verzicht auf zeitgenössische Quellenschriften, die doch gerade in süddeutschen und österreichischen Bibliotheken in großer Zahl zugänglich sind. Sehr viele dieser Texte lassen sich sowieso schon problemlos im Netz zu finden. Hier hätte vielleicht ein kenntnisreicher Berater Hinweise geben sollen. Doch das ist nicht geschehen. Deshalb sucht man vergebens nach den Standardwerken, die in jeder barocken Klosterbibliothek standen. Es fehlen Giovanni Bonas „Rerum liturgicarum libri duo“ oder auch die Bücher des Bartolomeo Gavanti, von denen nur der „Thesaurus sacrorum rituum“ genannt sei. Es fehlen selbst die „Decreta authentica“ der römischen Ritenkongregation. Glücklicherweise werden neben dem „Ornatvs Ecclesiasticvs / KirchenGeschmuck“ des Jacob Müller (Myller) noch drei Diözesanritualien genannt. Wer sich wirklich über die in den einzelnen Diözesen gültigen Bestimmungen informieren will, wird also auch in Zukunft nicht umhinkommen, eigene Recherchen anzustellen.

Die großen Stärken des vorliegenden Buches liegen in den anschließenden Abschnitten, in denen der Verfasser eine ausnehmend große Zahl von Tabernakeln dokumentiert. Er tut das in drei unterschiedlich angelegten Kapiteln. Kapitel III überschreibt er mit „Form- und Typengeschichte“ (S. 38-158), Kapitel IV mit „Theologische Programme“ (S. 159-305) und Kapitel V mit „Hauptwerke“ (S. 306-374).

Das Kapitel III beginnt mit einem kurzen Rückblick auf Hängetabernakel, tragbare Tabernakel und vor allem auf Wandtabernakel sowie Sakramentshäuser und vorbarocke Altartabernakel. Hier skizziert der Autor also den größeren zeitlichen und auch räumlichen Zusammenhang, in den sein Thema gehört. Eine derartige Horizonterweiterung war darum besonders sinnvoll, weil die typischen Formen des barocken Tabernakels natürlich alle ältere Wurzeln haben. Am üblichsten waren kleine Tempietti. Wohl noch wichtiger als diese Typenfragen sind Hamms Ausführungen zu den Funktionen von Tabernakeln (S. 54-60). Diese dienten nämlich keineswegs nur zur dauerhaften Aufbewahrung des Allerheiligsten, sondern sollten in vielen Fällen auch die Möglichkeit bieten, die Monstranz in angemessener Weise zu präsentieren. Sehr viele Tabernakel des 17. und 18. Jahrhunderts vereinen beide Funktionen. In der Regel gibt es daher eine untere basisartige Zone mit der Tür, hinter der das Ziborium aufbewahrt wird, und darüber eine optisch dominierende große Nische für die Monstranz. Bei vielen Altären steht in dieser Nische das Altarkreuz. Da es nicht ganz einfach ist, große barocke Monstranzen in würdiger Form in einer solchen Nische zu reponieren, erfand man das Drehtabernakel, das sowohl für die Monstranz als auch für das Altarkreuz nutzbar ist. Während üblicherweise das Drehtabernakel erst ins 18. Jahrhundert datiert wird, kann Johannes Hamm mit sehr guten Argumenten seine Entstehung bereits für das frühe 17. Jahrhundert wahrscheinlich machen (S. 56-58). Vielleicht wären in diesen Zusammenhängen auch noch einige Ausführungen zu Tabernakeln auf Seitenaltären denkbar gewesen. Statt dessen werden nochmals unterschiedliche, z.T. auch sinntragende Formen und Typen genannt: Kugel, Herz, Bundeslade usw. Gerade die alttestamentlichen Bezüge werden deutlich herausgestellt. Der Autor findet dabei eine gute Überleitung zu den ausdrücklich ikonographischen Ausführungen, denen das anschließende vierte Kapitel gewidmet ist. Hier bringt Johannes Hamm seine wirklich umfassende Denkmälerkenntnis zur Geltung. Auch über das eigentliche Untersuchungsgebiet hinaus sind ihm keine wichtigen Beispiele entgangen. Zahlreiche qualitätvolle und informative Aufnahmen, die der Autor so gut wie alle selbst angefertigt hat (Abb. 171), erhöhen den Informationswert des Buches beträchtlich und lassen gerade auf diesen Seiten erahnen, mit welch großem Aufwand es erarbeitet wurde. Natürlich dominieren Darstellungen, die direkt auf das Kreuzesopfer und auf die Einsetzung der Eucharistie bezogen sind. Sehr wichtig sind wiederum alttestamentliche Typologien. Hingegen sind ungewöhnliche Themen am Tabernakel eher selten zu finden. Am zentralen Ort erscheinen zentrale Themen.

Im fünften und abschließenden Kapitel behandelt Johannes Hamm zwanzig Hauptwerke, die er zu einem kleinen Katalog zusammengestellt hat. Die Auswahl darf als sehr glücklich bezeichnet werden, auch wenn sie auf heute noch erhaltene Tabernakel beschränkt ist. Natürlich hat der Verfasser darauf verzichten müssen, archivalische Studien anzustellen, aber er hat immerhin eine exemplarische Stelle aus dem „Buch der Stifter und Guttäter“ des Klosters Einsiedeln abgedruckt (S. 375), da auch das Einsiedler Tabernakel des oberen Chores bei ihm behandelt wird.

Man darf eine positive Bilanz ziehen. Besonders gut gelungen sind die Beschreibungen der Objekte sowie die ikonographischen Ausführungen, bei denen der Verfasser wohl immer das Richtige getroffen hat. Dankbar ist man auch für die gute Erschließung des Materials durch Personen- und Ortsregister. Trotzdem wird man auch einige kritische Bemerkungen machen müssen. Am schwerwiegendsten ist die schon eingangs erwähnte Zurückhaltung gegenüber zeitgenössischen Quellenschriften. Außerdem finden sich an manchen Stellen pauschale Formulierungen, denen man vielleicht nicht immer und völlig zustimmen möchte, etwa wenn der „dekorative, ornamentale und heitere Geist“ der Zeit zwischen 1735 und 1770 erwähnt wird (S. 133). Aber das alles kann die große Leistung des Verfassers höchstens unwesentlich schmälern: Johannes Hamm hat als erster ein großes und wichtiges, aber weitgehend unbearbeitetes Gebiet abgesteckt.

Hamm, Johannes: Barocke Altartabernakel in Süddeutschland, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2010
ISBN-13: 978-3-86568-580-3, 456 S., EUR 59,00

Empfohlene Zitation:
Christian Hecht: [Rezension zu:] Hamm, Johannes: Barocke Altartabernakel in Süddeutschland, Petersberg 2010. In: ArtHist.net, 30.01.2012. Letzter Zugriff 10.10.2024. <https://arthist.net/reviews/317>.

Creative Commons BY-NC-NDDieser Text wird veröffentlicht gemäß der "Creative Commons Attribution-Noncommercial-No Derivative Works 4.0 International Licence". Eine Nachnutzung ist für nichtkommerzielle Zwecke in unveränderter Form unter Angabe des Autors bzw. der Autorin und der Quelle gemäß dem obigen Zitationsvermerk zulässig. Bitte beachten Sie dazu die detaillierten Angaben unter https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de.

^