REV-CONF 05.08.2008

Richard Hamann als Grenzgaenger (Nicola Hille)

Marburg, 13.–14.06.2008

Bericht von Nicola Hille, Tübingen
Redaktion: Godehard Janzing

Wissenschaft zwischen Ost und West.
Der Kunsthistoriker Richard Hamann als Grenzgänger.

Tagung in der Universitätsbibliothek Marburg, 13.-14.06.2008

Tagungsbericht für H-ArtHist von Nicola Hille, Tübingen
<nicola.hilleuni-tuebingen.de>

Die Marburger Tagung "Wissenschaft zwischen Ost und West" beleuchtete die
ungewöhnliche Doppelfunktion von Richard Hamann (1879-1961), der als
Kunsthistoriker und Begründer des Bildarchivs Foto Marburg im Jahr 1947
neben seiner Marburger Professur an der Humboldt-Universität in Berlin
zunächst eine Gastprofessur und ab 1948 die dortige Lehrstuhlvertretung des
Faches Kunstgeschichte übernahm, die er bis zu seiner Entlassung im Jahr
1958 innehatte. Darüber hinaus leitete Hamann bis zu seinem Tod 1961 die
Arbeitsstelle für Kunstgeschichte bei der Berliner Akademie der
Wissenschaften.

Anlass der Tagung war die Erschließung des in der Universitätsbibliothek
aufbewahrten Nachlasses von Richard Hamann durch RUTH HEFTRIG (Halle) in
Zusammenarbeit mit BERND REIFENBERG (Marburg), die von der Bundesstiftung
zur Aufarbeitung der SED-Diktatur finanziert wurde. Einleitend gab Heftrig
einen Einblick in den Umfang des Nachlasses: ausgehend von 30 Kartons, 26
Kapseln und Schubern sowie weiteren 13 Aktenordnern, in denen die Übergabe
an die Universitätsbibliothek Marburg erfolgte, wurde eine inhaltliche
Umstrukturierung vorgenommen. Die nun neu systematisierten Nachlassquellen
nehmen im Sondermagazin der Universitätsbibliothek ein Volumen von 25
Regalmetern ein.

Die digitale Erschließung erfolgte in einer Datenbank, die es erlaubt, den
Bestand nach Personen, Orts- und Zeitangaben sowie Stichworten aus den
Dokumentbeschreibungen zu durchsuchen. Sie wird in Kürze über die Homepage
der Universitätsbibliothek Marburg zugänglich sein. Den Referenten war die
Möglichkeit geboten, bereits vorab mit der Rohversion der Datenbank zu
arbeiten und in den bisher weitgehend unbekannten Beständen des Nachlasses
zu recherchieren. Entsprechend vielschichtig waren die Beiträge, die über
Anlass, Motive und Hintergründe von Hamanns Wirken berichteten. Im Zentrum
standen die Fragen nach seiner Grenzgängerei und den Beweggründen für sein
akademisches Pendlertum zwischen Ost und West.

Was zog den Marburger Wissenschaftler in die Sowjetische Besatzungszone,
nachdem er in jahrzehntelanger Aufbauarbeit seit 1913 das
Kunstgeschichtliche Institut, das Preußische Forschungsinstitut, das
Bildarchiv sowie das universitätseigene Museum mitgegründet hatte? Wie
verhielt sich Hamann in kulturpolitischer Hinsicht und von welchen
inhaltlichen und methodischen Aspekten war seine Berliner Zeit geprägt? Es
zeigte sich, dass über Hamanns Berliner Jahre bis in die heutige Zeit wenig
bekannt ist, und man mit dieser Tagung "Grundlagenarbeit" leistete. In
seinem Brief an den damals neu gewählten Bundespräsidenten Theodor Heuss
brachte Hamann nicht nur seine Glückwünsche zur Wahl von Heuss zum
Ausdruck, sondern formulierte auch seine eigenen kulturpolitischen
Vorstellungen zur Gestaltung der deutschen Hochschullandschaft und zu den
Möglichkeiten gesamtdeutscher Wissenschaftsprojekte. Dabei war er sich der
politisch-gesellschaftlichen Dimension seiner akademischen Grenzgängerei
durchaus bewusst, wie der folgende Wortlaut zum Ausdruck bringt: "Ich komme
mir vor wie ein schmales wenig tragfähiges Geleise, das Westen und Osten
verbindet. Die Züge führen nur dritter Klasse, aber ich freue mich über
jeden der Lust hat, darin mitzufahren." Die Briefpassage verdeutlicht, dass
sich der Kunsthistoriker stets auch als politischer Akteur verstand.

Der erste Teil der Tagung versammelte breit angelegte Vorträge, die einen
Überblick über Hamanns kunsthistorisches Wirken, seinen Werdegang und seine
Forschungsfelder gaben, im zweiten Teil wurden einzelne Aspekte und
Fallstudien untersucht; die Vorträge thematisierten das konkrete
Arbeitsumfeld in Ost-Berlin und Hamanns wissenschaftliche Projekte der
Nachkriegszeit, die er im Rahmen seiner universitären Lehre und innerhalb
der Tätigkeiten an der Akademie der Wissenschaften verfolgte.

Als Referenten konnten mit JOST HERMAND (Madison,Wisconsin / Berlin),
HUBERT FAENSEN (Berlin) und ELMAR JANSEN (Berlin) drei Zeitzeugen gewonnen
werden, deren persönliche Erinnerungen die Referate der übrigen
Wissenschaftler/innen kontrastreich ergänzten. Der Germanist und
Kunsthistoriker Jost Hermand, der als junger Wissenschaftler gemeinsam mit
dem damals um viele Jahre älteren Richard Hamann publizierte, sprach in
seinem Eröffnungsvortrag über dessen Aufsatz "Christentum und Europäische
Kultur", den Hamann in der DDR nicht publizieren konnte, der jedoch die
Schlüsselbegriffe für sein Verhältnis zum Sozialismus und zur modernen
Kunst enthalte.

SIGRID HOFER (Marburg) referierte über Richard Hamann und die
Kunstgeschichtsschreibung nach 1945. In ihrem Vortrag erläuterte sie die
möglichen Beweggründe, warum Hamann 1947 auf den ehemaligen Lehrstuhl
Wilhelm Pinders in Berlin berufen wurde und dort als ideale Besetzung
erschien: Diverse Stationen seiner Biographie sowie sein
Geschichtsverständnis empfahlen ihn; hinzu kam seine Herkunft aus einfachen
Verhältnissen, die das Leitbild der sozialen Chancengleichheit zu bezeugen
schien. Abgesehen von diesen Merkmalen einer "politischen
Anschlussfähigkeit" im ostdeutschen Wissenschaftsbetrieb brachte Hamann
eine Reihe von wissenschaftlichen Projekten mit, die den Ausbau der
Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität zu einem der führenden
Forschungsinstitute vorantreiben sollte. Darüber hinaus sollten
fachübergreifende Publikationsvorhaben und institutionelle Neugründungen -
wie die 1954 ins Leben gerufene "Arbeitsstelle für Kunstgeschichte" bei der
Akademie der Wissenschaften in Berlin - zur weiteren Profilbildung der
Kunstwissenschaft in Berlin beitragen. Hofer machte in ihrem Vortrag
deutlich, dass der Vergleich von Zielen und Inhalten seiner
Forschungsfelder vor und nach 1945 Kontinuitäten aufzeigt, die unter den
Bedingungen der unterschiedlichen politischen Systeme in West- und
Ostdeutschland Fragen kulturpolitischer Relevanz aufwerfen. Offensichtlich
waren mit der Ernennung Hamanns zunächst auch parteipolitische Erwartungen
verbunden, die der Kunsthistoriker nicht ausreichend zu erfüllen vermochte.
Spätestens bei seiner Entpflichtung und der Nachfolgeregelung wird
deutlich, dass man sich an der Humboldt-Universität eine intensivere
Ausrichtung der Kunstgeschichte als marxistische Wissenschaft wünschte, die
Hamann offenbar nicht mitzutragen gewillt war, die jedoch sein Nachfolger
im Amt, Gerhard Strauss, seit längerer Zeit lancierte.

ELMAR JANSEN (Berlin), der ab 1952 selbst bei Hamann Kunstgeschichte
studiert hatte, sprach in seinem Abendvortrag im Marburger
Universitätsmuseum über dessen Berufung nach Berlin. UWE HARTMANN (Berlin)
knüpfte im weiteren Verlauf der Tagung mit seinem Vortrag "Es wird ein
marxistischer Kunstgeschichtler vom Staatssekretär verlangt" noch einmal an
dieses Thema an. Bereits ein Jahr bevor Richard Hamann durch Wilhelm
Girnus, den Staatssekretär für Hochschulwesen, "entpflichtet" wurde, hatte
man ihn im Juli 1956 mit dem Umstand konfrontiert, dass die Leitung der
Berliner Humboldt-Universität seine Emeritierung anstrebte. Hartmann wies
darauf hin, dass die Entscheidung für die Neubesetzung des Lehrstuhls neben
der partei- und wissenschaftspolitischen Bedeutung im Kontext einer
gesamtgesellschaftlichen Neudefinition in der DDR auch für die Geschichte
des Faches im gesamten deutschsprachigen Raum von einer gewissen Tragweite
war. Als externe Gutachter im Berufungsverfahren wurden u.a. die
Kunsthistoriker Herbert von Einem (Bonn) und Albert Erich Brinckmann (Köln)
um eine Stellungnahme gebeten. Die im Nachlass befindliche Korrespondenz
zeigt, dass Herbert von Einem damals Richard Hamann versicherte, wie sehr
es zu wünschen sei, dass die Neubesetzung nicht hinter der Neubesetzung des
Westberliner Lehrstuhls zurückstehen würde, so dass auch für den
westdeutschen Nachwuchs weiterhin der Anreiz gegeben sei, an der
Humboldt-Universität Kunstgeschichte zu studieren. Das Verfahren um die
Neubesetzung des kunsthistorischen Lehrstuhls 1957/58 markiere, so
Hartmann, die kaderpolitische Durchsetzung der "sozialistischen
Hochschulreform" in der DDR. Für das Fach Kunstgeschichte beinhaltete diese
Reform vor allem die Entmachtung, Ablösung und Verdrängung der
"bürgerlichen" Ordinarien an den Universitäten in Ostdeutschland.
Tragischerweise wollte oder konnte Richard Hamann den übergreifenden
gesellschaftspolitischen Zusammenhang für die getroffenen Entscheidungen
nicht erkennen, denn bis zuletzt glaubte er daran, dass allein fachliche
Kriterien für die Berufung seines Nachfolgers ausschlaggebend sein dürften
und dass er selbst maßgeblich an der Festlegung dieser Kriterien und somit
an der Regelung seiner Nachfolge mitzuwirken hätte. Aus dieser Perspektive
schlug er seinen Sohn, Richard Hamann-MacLean, für die Nachfolge vor.

PETER TH. WALTHER (Berlin) ermöglichte mit seinem Vortrag über die
"Deutsche Akademie der Wissenschaften zu (Ost-) Berlin als Stätte
akademischer und wissenschaftspolitischer Grenzgängerei im Kalten Krieg"
den Einblick in größere Zusammenhänge, in dem er die eigenartige Stellung
untersuchte, welche die Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin
(DAW) in den beiden Nachkriegsjahrzehnten einnahm: einerseits war sie die
höchste wissenschaftliche Instanz der SBZ/DDR, andererseits war sie eine
Gelehrtensozietät mit gesamtdeutscher Mitgliedschaft und gesamtdeutschen
Forschungsprojekten.

MAIKE STEINKAMP (Hamburg/Berlin) versuchte in ihrem Vortrag einen Vergleich
zwischen Richard Hamann und Ludwig Justi, der auch nach der Gründung der
DDR der Museumsinsel im Osten Berlins die Treue hielt und es trotz
zunehmender Reglementierung des Kunst- und Museumsbetriebes in der DDR zu
Beginn der 1950er Jahre verstanden hatte, sich den ideologischen
Vereinnahmungen des Staates in Bezug auf den Ausbau der Museen zu
"Volksbildungsstätten" zu entziehen. Hamanns Nachruf auf den Tod seines
Kollegen im Jahr 1957 endete mit den Worten "Lex mihi ars", mein Gesetz ist
die Kunst. Steinkamp zeigte auf, dass Justi - ähnlich wie Hamann - mit
zahlreichen Ehrungen gewürdigt und als Berater in diversen Kommissionen in
den Kulturbetrieb der DDR eingespannt war. Justi wusste ebenso wie Hamann
seine prominente Stellung als Kulturschaffender in der DDR zu nutzen.
Vergleichbar seien auch die Haltungen beider in Bezug auf ihre
Stellungnahmen gegen den Abriss des Berliner Stadtschlosses 1950 sowie ihre
Zurückhaltung bei der Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre geführten
Formalismus-Debatte. Gemeinsam war beiden, dass sie es verstanden,
innerhalb der vom Staat gesetzten Schranken zu agieren und dabei ihren
kunstgeschichtlichen Idealen treu zu bleiben.

Den gemeinsamen Editionsprojekten von Hamann und Hermand widmete sich KAI
ARTINGER (Berlin), der die von Richard Hamann und Jost Hermand
herausgegebene kulturgeschichtliche Buchreihe "Deutsche Kunst und Kultur
von der Gründerzeit bis zum Expressionismus" als in vieler Hinsicht
grenzüberschreitend charakterisierte.

Kaum eine kunst- und kulturgeschichtliche Edition war in der Nachkriegszeit
so erfolgreich wie die von 1959 bis 1972 in fünf Bänden erschienene Reihe,
die eine außergewöhnliche Breitenwirkung entfaltete, welche durch eine
Paperback- und Taschenbuchausgabe unterstützt wurde. Außergewöhnlich war
auch ihre Entstehungsgeschichte. Nachdem Hamann den ersten Band zur
"Gründerzeit" alleine verfasst hatte, musste er feststellen, dass er
aufgrund seines hohen Alters nicht mehr in der Lage war ohne Unterstützung
die anderen geplanten vier Epochen-Bände fertig zu stellen. So kam es zu
einer sehr fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen dem 77-jährigen Hamann und
seinem mehr als fünfzig Jahre jüngeren Mitautor Jost Hermand. Artinger
verdeutlichte, dass das Projekte in vieler Hinsicht grenzüberschreitend
war: aufgrund seiner Interdisziplinarität, seines ideologiekritischen
Ansatzes und seiner Entstehungsbedingungen. Hermand musste für die
Zusammenarbeit nach Ostberlin übersiedeln, bereute diesen Schritt jedoch
nie, da die von ihm und Hamann edierte kunst- und kulturgeschichtliche
Buchreihe die Basis für seine eigene akademische Laufbahn darstellte.

Mit der Realisierung dieses Projektes kam Hamann seinen Vorstellungen einer
gesamtdeutschen Wissenschaftslandschaft sehr nahe, wurde die von ihm ins
Leben gerufene Buchreihe, die von einem DDR-Verlag produziert wurde, doch
gleichermaßen in Ost- und Westdeutschland zum Erfolg.

Mit der Verleihung des Nationalpreises der DDR an Richard Hamann befasste
sich DOROTHEE HAFFNER (Berlin) in ihrem Vortrag "Marburger Fotos für
Berlin".
Hamann, der seit 1947 den vakanten Lehrstuhl für Kunstgeschichte an der
Humboldt Universität in Berlin vertrat, gehörte zu den 10 Persönlichkeiten
aus Wissenschaft und Kultur, denen im Jahr der Gründung der DDR (1949) der
Nationalpreis erstmals vergeben wurde. Mit dem Preisgeld von 50.000 Mark
erwarb er ein Konvolut von Fotoabzügen aus dem Bestand von Foto Marburg,
das heute den größten Teil der Fotothek des Kunstgeschichtlichen Seminars
der Humboldt-Universität zu Berlin bildet. Haffner verwies auf die
Reaktionen, welche die Preisverleihung an Hamann auslöste. Die im Nachlass
zu findende Korrespondenz dokumentiere die Fülle seiner Kontakte, aber auch
die vielfältigen Hoffnungen, die man auf ihn und seine Lehre setzte.

Mit Hamanns Widerstand gegen den Abriss des Berliner Stadtschlosses und
anderer preußischer Baudenkmäler in den Jahren 1950 bis 1960 befasste sich
THOMAS JAHN (Marburg). Hamanns Engagement für den Erhalt des Stadtschlosses
(1950) und sein couragiertes Eintreten gegen den Abriss von Potsdamer
Schloss und Bauakademie (1960) sei ein Indiz dafür, dass er
wissenschaftliche Tätigkeit immer auch als gesellschaftliche, Werte
schaffende und praktisch eingreifende Tat verstanden hatte.

HUBERT FAENSEN (Berlin) vertiefte in seinem abschließenden Vortrag die
Diskussion um Hamanns Nachfolge, indem er auf die problematische Beziehung
zwischen Richard Hamann und seinem Nachfolger Gerhard Strauss einging.

Es bleibt zu wünschen, dass die Tagung den Auftakt zu einer vertieften
Beschäftigung mit den Quellen des neu erschlossenen Nachlasses von Richard
Hamann darstellt. Für die Recherche wird die in Kürze freigeschaltete
Datenbank, die über die Homepage der Marburger Universitätsbibliothek
zugänglich sein wird, hilfreich sein. Eine Publikation der Tagungsbeiträge
ist geplant.

Empfohlene Zitation:
Nicola Hille: [Tagungsbericht zu:] Richard Hamann als Grenzgaenger (Nicola Hille) (Marburg, 13.–14.06.2008). In: ArtHist.net, 05.08.2008. Letzter Zugriff 28.03.2024. <https://arthist.net/reviews/30659>.

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