Wo haben wir es nicht überall mit Räumen zu tun. Wir kennen die Zwei-Raum-Wohnung, wir wissen etwas anzufangen mit Raumkapazitäten, wir haben oder hätten gerne eine wöchentliche Raumpflege für unsere Wohnung. Wir kennen aber natürlich auch die Räume der Frauen, die des Erinnerns und die der Erzählung. Wir beklagen uns inzwischen über Räume der Einsamkeit, der Gewalt, und der Kriminalität. Eines wird allein schon an dieser Aufzählung deutlich: Der Raum ist gegenwärtig zu d e r Metapher einer jeden Austauschbeziehung und damit auch für jede nur denkbare Form zwischenmenschlicher Kommunikation erweitert worden. Raum kann heute nahezu alles sein. Mit dieser begrifflichen Ausdehnung ist der Raum, wie immer in solchen Fällen, auch zu einem Ort des Unkonkreten, des Sekundären und, natürlich, zu einem der Dekonstruktion geworden. Ein Beispiel für eine solche Ausdehnung, bei der sich von den Realien des Raumes Zug um Zug entfernt wird, liefern die sogenannten geopolitics, die eine Subjektivierung beabsichtigen, bei der alles Materielle aufgeben wird und Raum am Ende nur noch als Fiktion, Konstruktion und Diskursprodukt vorstellbar ist. Es gibt gute Gründe dafür, daß wir es bei der derzeitigen Renaissance der Räume vor allem mit einer Reaktion zu tun haben, mit der wir endlich den Blick weg vom bloßen Ereignis und vom Diskurshaften richten wollen.
Daß wir den Sinn für den Raum, in dem Geschichte sich ereignet, verloren und nur die Dimension der Zeit übrig gelassen haben, daß wir gleichsam ortlos geworden sind, beklagt in seinem gerade erschienenen Buch „Im Raume lesen wir die Zeit“ der Historiker Karl Schlögel.[1] Schlögel ist ein kritischer, aber ein deutlicher Anwalt des Raumes, so er denn die ganze Fülle einer mit Realien angefüllten Umgebung des Menschen meint und neu erfassen will. Schlögel möchte, daß wir den Blick eher auf dauerhafte Strukturen als auf das Ereignishafte der Geschichte richten, daß man die „raumprägenden“ Wirkungen unpersönlicher „Infrastruktur“ wie Straßen und Wasserwege, mathematischer Gleichungen und physikalischer Experimente untersucht, anstatt etwa nur die Geschichte großer Männer. Wir gewinnen, so Schlögel, ein angemessenes Bild von der Welt erst dann, wenn wir beginnen, Raum, Zeit und Handlung wieder zusammenzudenken.
Der von Cornelia Jöchner herausgegebene Buch wird Karl Schlögel begeistern, sollte er ihn denn lesen. Der Band sammelt differenzierte Beiträge zu vielerlei Arten von aktiver Raumbelebung, indem sich die Autoren auf zwei der gegenwärtig wichtigsten Spielarten des Raumes einlassen, nämlich auf die frühneuzeitliche Stadt und auf das frühneuzeitliche Land. Am Beispiel dieser beiden Formen von Räumlichkeit werden die hier stattfindenden Vorgänge des Umschließens und Eingemauertseins, der Ausbildung eines Herrschaftsterritoriums und des damit einhergehenden Prozess der Grenzbildung untersucht, ebenso aber auch die naturräumlichen Gegebenheiten in den Blick genommen.
Um es vorweg zu sagen: Die Beispiele, denen die Autoren des Bandes nachgehen, sind beeindruckend, werden anhand eines reich sprechenden Materials entwickelt und sind vor allem ungemein inspirierend für jede Art wissenschaftlicher Auseinandersetzung, die die Bildlichkeit eines Raumes oder einer Raumbeziehung untersuchen möchte. Der Belebungsidee von Raum, die Georg Simmel zu Anfang des Jahrhunderts formuliert hat, klingt im ersten Aufsatz von Wolfgang Neuber zu den herrschaftsstrategischen Raumvorstellungen frühneuzeitlicher Utopien und Idealstadtentwürfen an. Neuber liefert die für den gesamten Band grundlegende These, daß „Räume, wollen sie denn ihre kognitive Instrumentalität bewahren, zu Raumsystemen objektiviert werden“ (S. 2). Für Neubers Beitrag ist die im 16. Jahrhundert noch unterentwickelte Vorstellung einer Grenze ausschlaggebend, da hierdurch das Territorium „nicht von den Grenzen her nach innen bemessen (als das von den Grenzen eingeschlossene Gebiet), sondern vom Zentrum her nach einem potentiell grenzenlosen Außen - als politischer Raum“ (S. 9) gedacht wird. Die damit einhergehende Notwendigkeit der Naturbeherrschung ist die grundlegende Aufgabe aller Raummodelle, insbesondere der utopischen wie von Thomas Morus (1516 und 1518), Tommaso Campanella (1623), Johann Valentin Andreae (1619).
Karsten Müller liefert den einzigen Beitrag, der sich mehrheitlich mit Bildern im Sinne des perspektivisch konstruierten Fensterraums beschäftigt. Müller schaut äußert differenziert und vergleichend auf die vielen Beispiele von Stadt, Land und Nation in der niederländischen Druckgraphik um 1600 und benennt hier immer wieder auftauchende Topoi wie die des Gartens (tuin) oder des Kampfes des niederländischen Löwen mit den (spanischen) Schweinen. Was ein politischer Raum hier bewerkstelligen kann, zeigt der tuin als säkularisierter „hortus conclusus“, als säkularisierter Staatsgarten der Niederländer (S. 26): seine ästhetische Ordnung stellt eine signifikante ästhetische Differenz her zu der Regellosigkeit und den chaotischen Zuständen, die bei den schweinischen spanischen Besatzern vorherrschen.
Mascha Bisping wiederum bewegt sich auf einem anderen Feld frühneuzeitlicher Räume, dem der Stadtplanung. Der Vorzug ihres Aufsatzes liegt in der interpretatorischen Engführung, die durch den Bezug auf einen einzigen geographischen Ort hergestellt wird. Zwei zeitlich über 150 Jahre auseinander liegende Stadtplanungsprojekte für das heutige Bremerhaven werden miteinander verglichen. Das schwedische Carlsburg zu Ende des 17. Jahrhunderts zeichnet sich durch einen geometrisierenden Stadtgrundriß aus. Der Naturraum wird den territorialen Planungen unterworfen. Auch die Fallbeispiele in Wolfgang Schäffners Beitrag belegen die ästhetisch-symmetrische und damit geometriesierende Tradition, in der frühneuzeitliche Stadt- und Festungspläne stehen. Ihre Form, die „statt der Ansicht den Grundriß zum Ausgangspunkt der Konstruktion nehmen“ (S. 134), erklären einmal mehr die dahinter liegende Absicht, Kontrolle auszuüben. Am Beispiel niederländischer Festungen erkennt Schäffner eine „diagrammatische Macht des Padrón Real oder der niederländischen Seekarten, die auf der Herstellung einer Evidenz von Küstenlinien und Inselpunkten basiert“, und damit selbst bei weit auseinander liegenden Festungen „auf dem Papier eine Fernregierung“ möglich macht (S.142). Umgekehrt kalkulieren die Pläne zu Bremerhaven aus dem frühen 19. Jahrhundert die topographischen Vorgaben ein, so Bisping im zweiten Teil ihre Beitrages. So wird vor allem dem Wasser Beachtung geschenkt, indem es möglichst von der Siedlung ferngehalten wird. Zugleich wird die Manifestation der Stadt als bauliche und politische Einheit aufgegeben.
Cornelia Jöchner spannt den Bogen noch weiträumiger auf, gleich über ein ganzes Territorium, oder zumindest über die Umgebung der savoyischen Hauptstadt Turin. Wie eine dynastische Inkorporation einer neuen Hauptstadt und damit die eines ganzen Landes vollzogen wird, macht Jöchner mittels der gigantischen, über zwanzig Kilometer langen Achse plausibel, die von Schloß Rivoli westlich der Stadt über das Turiner Stadttor Porta Susina bis zur von Filippo Juvarra 1716-1731 errichteten Superga östlich der Stadt reicht. Daß sich mit dieser Tangentiale die geopolitische Einverleibung nicht erschöpft, zeigt die noch weitere Bezüge aufweisende Gestaltung der Superga: Zum einen forciert sie als Grabeskirche der Savoyer deren historische Verklammerung mit dem von ihnen regierten Land. Zum anderen betont Juvarra mit der zunächst so merkwürdig erscheinenden Ostausrichtung der Fassade - die damit ja als gestaltendes Element aus der Hauptachse herausgenommen wird - ein in der Geschichte des Landes zentrales Ereignis: den 1706 über Frankreich erfochtenen Sieg, der erst die Voraussetzung dafür schafft, daß sich die Savoyer in den Reigen der großen europäischen Dynastien einordnen können.
Martin Warnke führt uns anschließend auf die Schlachtfelder der europäischen Neuzeit. So randständig das Thema für den zumeist kunsthistorischen Betrachtungshorizont des Bandes zunächst sein mag, führt es natürlich doch ins Herz raumgestalterischer Konzeptionen. Warnke macht seine Argumentation insbesondere dadurch stark, daß er weniger die Truppen und ihre Schlachtordnungspläne anschaut, als vielmehr die planen Ebenen, auf der sich diese Rochaden ereignen. Bei der berühmten „schiefen Schlachtordnung“ Friedrichs des Großen von 1746 kommt der topographischen Situation des Geländes entscheidende Bedeutung zu - im Gegensatz zu Schlachtordnungsplänen früherer Zeit. Sie erst führte die Preußen zum militärischen Sieg.
Mit der Aufwertung und dem Einbezug der physischen Gegebenheiten das Landes seit dem 18. Jahrhundert kommt Warnke übrigens zu einer ähnlichen Erkenntnis wie die Beiträge von Mascha Bisping, Cornelia Jöchner und Katrin Bek - letztere zur naturräumlichen Öffnung der Stadt Kassel im späten 18. Jahrhundert. Eine zweite Beobachtung Warnkes richtet sich auf die Einzeichnung von Pfeilen in die Militärkarten, ein vor allem seit Mitte des 19. Jahrhunderts verbreitetes Verfahren, das die Kampfbewegung der gegnerischen Truppen markieren soll. Die Dicke oder auch die Zartheit dieser Vektoren sind es, die bereits im Kartenbild Sieg und Niederlage vorwegnehmen oder in der visuellen Nachbereitung auf dem Papier erklären.
Der anschließende Beitrag von Daniel Speich treibt jede Form raumpolitischer Setzungen ingeniös auf die Spitze. Speich untersucht die im 19. Jahrhundert entstandenen detaillierten Karten der Schweiz von Henri Dufour. Die nur über die Landkarten erfahrbare Physiognomik der Schweiz, ihre fein ziselierten Bach- und Flußtäler und ihre bis dahin noch nie bestiegenen Bergspitzen ließen bei den Schweizern ein völlig neues Bild ihres Landes entstehen. Die Augenarbeit beim Betrachten der papierenen Karten hat damals zu nichts weniger als zu einer „staatsbürgerlichen Identifikation“, zu einer „politischen Selbstvergewisserung der Schweiz“ geführt (S. 180).
Alle diese interessanten Beispiele für frühneuzeitliches Raumdenken sind aussagekräftig. Dennoch wäre es vorstellbar gewesen, einen kurzen Forschungsabriß historischer und kunsthistorischer Raumtheorien im Rahmen einer Einleitung voranzustellen. Vorbildlich in dieser Hinsicht ist allein der Beitrag von Marcus Sandl zur Poetologie politischer Räume im 18. Jahrhundert am Beispiel der Krönungsreise König Friedrichs I. von Preußen. Der vergleichsweise kurz beleuchtete Untersuchungsgegenstand wird mit einem fundierten Exkurs zur Forschungsgeschichte des Raumes in den Geschichtswissenschaften eingeleitet, den die meisten kunsthistorischen Aufsätze trotz der größeren Plausibilität ihres Untersuchunsgegenstand nicht liefern. So kommt dem Beitrag von Sandl programmatischer Charakter für den gesamten Band zu.
Gerade die Kunstgeschichte hätte in der Nachfolge von Schmarsow mit einer ganzen Reihe intensiver Beschäftigungen mit dem Raum aufzuwarten. Daher sollte sich auch nicht davor gescheut werden, etwa im Kontext mit Carl Schmitts problematischer, aber einflußreicher“Nomos“-Theorie stehende Kunsthistoriker wie Wilhelm Pinder einzubeziehen, gerade wenn „Politische Räume“ wie in diesem Band breit verhandelt werden. Hätte der vorliegende Band insbesondere die kunsthistorische Geschichte der Räume noch weiter mitbedacht, wäre er für das Fach und seine Nachbardisziplinen wohl zu einem noch größeren Gewinn geworden. So, wie er jetzt vorliegt, breitet er ein reiches Material neuzeitlicher Raumgeschichten aus - und das ist sein großer Verdienst.
[1] Karl Schlögel: „Im Raume lesen wir die Zeit“. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003.
Jöchner, Cornelia (Hrsg.): Politische Räume. Stadt und Land in der Frühneuzeit (= Hamburger Forschungen zur Kunstgeschichte; 2), Berlin: Akademie Verlag 2003
ISBN-10: 3-05-003774-1, VIII, 208 S.
Empfohlene Zitation:
Kilian Heck: [Rezension zu:] Jöchner, Cornelia (Hrsg.): Politische Räume. Stadt und Land in der Frühneuzeit (= Hamburger Forschungen zur Kunstgeschichte; 2), Berlin 2003. In: ArtHist.net, 22.10.2003. Letzter Zugriff 22.12.2024. <https://arthist.net/reviews/25985>.
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