REV 08.10.2003

Norberto Grammacini/ Hans Jakob Meier: Die Kunst der Interpretation

Rezensiert von Daniel Herrmann, Hamburg
Redaktion: Claudia Sedlarz

Die Druckgraphik ist ein Stiefkind der Kunstgeschichte. Zumeist in dunklen Mappen und Schränken abgelegt, nur in den Studiensälen der Kupferstichkabinetten anzusehen, fristet sie ein Dasein an der Peripherie der Disziplin. Daß die Albertina in Wien anläßlich ihrer Neueröffnung und „Neupositionierung“ die Bezeichnung „Graphische Sammlung“ strich, zeugt von der Nebenrolle, welche der Druckgraphik heute gegenüber anderen Medien, besonders der Photographie, zugetraut wird. Es ist ein kleineres Verdienst des Bandes „Die Kunst der Interpretation“ von Norberto Gramaccini und Hans Jakob Meier, anschaulich zu zeigen, daß dem nicht immer so war. Ahnen zu lassen, daß dies auch heutzutage nicht so sein müßte, ein größeres.

Die Autoren behandeln den Zeitraum zwischen der Gründung der Pariser Kunstakademie und ihrer Auflösung in der Revolution, mit der wichtigen Zäsur durch die Wiederaufnahme der Pariser Salons im Jahre 1737. Damit umfaßt der Band eine Zeit, von der die Autoren bemerken: „In der französischen Reproduktionsgraphik von 1648-1792 spiegelt sich eindrucksvoll die Hegemonie Frankreichs in den Künsten“.(S. 8) Die vorliegenden fast 400 Seiten bieten dabei sowohl einen Einstieg in die Theoriegeschichte der französischen Reproduktionsgraphik wie auch in deren künstlerische Umsetzung und Entwicklung. Ihre eigentliche Stärke liegt jedoch in der Betonung der diskursiven Qualität der Graphik und ihrer scheinbar rigiden Ausdrucksformen. Der Band ist hierfür in drei Teile gegliedert. Den Auftakt bilden kunsthistorische Grundlagen zur Reproduktionsgraphik sowie zur deren Interpretations- respektive Übersetzungsleistung. Den Hauptteil stellt der bebilderte Katalog dar, gefolgt vom umfangreichen Apparat des dritten Teils, dem Anhang.

Im einleitenden Textteil wird ein differenziertes Bild vom Begriff der „Reproduktion“ in der Druckgraphik gezeichnet. Gramaccini und Meier stellen die historischen und kulturellen Bedingungen von „Exaktheit“ jeglicher Reproduktion heraus: „Eine uniforme und auf Exaktheit beruhende Reproduktion scheint erst im späten 19. Jahrhundert aufgekommen zu sein, als die Erfindung der Photographie (ab 1830) für den Bilddruck neue Parameter setzte. Solange aber das eidetische Gedächtnis der Maßstab war, nach dem das Verhältnis von Bild und Abbild kontrolliert wurde, waren Abweichungen die Regel.“(S. 11)

Was also unter „Reproduktion“ jeweils verstanden wird, unterliegt historischen Wandlungen. Den nachfolgenden Kapiteln ist damit die Aufgabe gestellt, solche Veränderungen nachzuzeichnen. Im Kapitel „Die Anfänge der Reproduktionsgraphik im 15. und 16. Jahrhundert“ werden soziale wie auch technische Veränderungen zweier Jahrhunderte nachvollzogen. Dabei gelingt es, Verschiebungen der Funktionen von Reproduktion an konkreten Beispielen festzumachen, wenn z.B. zum Streit zwischen Marcantonio Raimondi und Baccio Bandinelli bemerkt wird: „Der Kern des Konfliktes lag vermutlich in dem Mißverständnis, daß Bandinelli unter einem Nachstich eine exakte Kopie verstand, während Marcantonio darin eine Interpretation sah.“ [S. 23] Schwierig wird die Lektüre dieses Kapitels dann, wenn sich die zu zeigenden Veränderungen des Reproduktionsbegriffes in Zuschreibungsdiskussionen verlieren, deren Wiedergabe an dieser Stelle zu viel Raum zukommt - seien sie forschungsgeschichtlich auch so einflußreich wie diejenigen zu den Kupferstichen Andrea Mantegnas.

Das Kapitel über die „Aufgaben der Reproduktionsgraphik im 17. und 18. Jahrhundert“ bezieht sich eng auf den ausgiebigen Abbildungsteil: Es wird eine Linie von den Tableaux du Cabinet du Roy über den Recueil Crozat und die Salons hin zu den Faksimiletechniken des 18. Jahrhunderts gezogen. Während die Fixpunkte dieser nicht immer geraden Linie durch die Werke und die Umstände ihrer Entstehung markiert sind, werden Zusammenhänge durch den Blick auf die funktionalen Veränderungen der Reproduktion hergestellt, wenn etwa in einem ausführlichen Absatz Jean de Julienne und sein Receuil der Zeichnungen und Gemälde von Antoine Watteau zum Thema werden: „Julienne, der den goût noveau der Zeichnungen Watteaus hervorhob, legte mit seinem Receuil den Grundstein für eine neue Wahrnehmung von Skizze und erstem Entwurf. Für die Rezeption späterer Meister wie Boucher durch die Faksimiletechniken der maniére de crayon und maniere de lavis schuf Julienne wesentliche Voraussetzungen.“ [S. 35]

Gramaccini und Meier ergänzen so die in der druckgraphischen Forschung beliebte personalisierend-situationistische Einseitigkeit einer Künstlergeschichtsschreibung um das Korrektiv einer kontextorientierten Forschung. Hierzu leistet insbesondere die intensive Quellenarbeit Norberto Gramaccinis einen wesentlichen Beitrag. Gramaccini, der sich schon in früheren Publikationen um die Theorieforschung der französischen Druckgraphik verdient gemacht hat [1], zeigt, wie sich mit den Salons seit 1737 die veränderte Rolle der Druckgraphik in den entsprechenden Publikationen niederschlägt - sei es in den Besprechungen des Mercure de France, sei es in den teils beißenden Kommentaren Diderots in dessen Salons: „Flipart: Rien vaille. Ah! Baléchou, ubi es, ubi es?“ [zitiert nach Gramaccini/Meier, S. 37.] Die Quellen dienen als Grundlage des Nachzeichnens von Werteverschiebungen, die am begleitenden Katalog an Werkbeispielen zu verfolgen sind:“[Es war nun] das enge Widerspiel von Original und Interpretation in den Salons, an dem sich Publikum und Kunstkritik des 18. Jahrhunderts ihr ästhetisches Urteil zur Reproduktionskunst bildeten. Die Unentbehrlichkeit der Reproduktionsgraphik als einzige Grundlage dauerhafter Auseinandersetzung mit einem Künstler und dessen im Salon ausgestellten Werk wurde um so deutlicher empfunden, als die [...] diskutierten Bilder [...]nach dem Ende des Salons meist recht schnell aus dem Blickfeld gerieten.“ [S. 38]

Damit ist ein wichtiger Aspekt der französischen Reproduktionsgraphik angesprochen: Die Rolle der Reproduktionsgraphik als Medium von Übersetzung und Interpretation in Bezug auf eine „Auseinandersetzung“ mit Künstler und Werk. Die beiden letzten Kapitel des ersten Teils widmen sich dieser Rolle: zum einen in Bezug auf deren Funktionen, zum anderen aus Sicht der zeitgenössischen ästhetischen Theorie. Hier sind es insbesondere Abraham Bosse, Pierre-Jean Mariette und Charles-Nicolas Cochin fils, deren Stellung für die Entwicklung einer „grundlegenden Ästhetik zur Beurteilung graphischer Qualitäten der Reproduktionskunst“ [S. 49] untersucht und herausgehoben wird. Damit wird innerhalb eines nahezu 100 Jahre fassenden Zeitraums die Veränderung des Verhältnisses von Zeichnung und Graphik ebenso ausgelotet wie jene des Verhältnisses von Original und Interpretation.

Der zweite Teil des Bandes, der Katalog, trägt maßgeblich dazu bei, daß die in den Texten behandelten Entwicklungen und künstlerischen Aufgabenstellungen von jedem Betrachter nachvollzogen werden können. Mehr noch, die hohe Qualität der Reproduktionen, ihre kluge Auswahl und sinnvolle Zusammenstellung laden dazu ein, sich über die im Text ausgeführte Weise hinaus mit dem Medium zu beschäftigen. Der Band bietet dazu umfangreiche Hilfestellung: Die Kommentierung der chronologisch abgebildeten Blätter wartet mit Biographien, Daten und ausführlichen bibliographischen Hinweisen auf; dazu kommt eine Sammlung ausgewählter Quellentexte im Anhang.

Besondere Erwähnung verdient dabei die kleine Reihe von Reproduktionen, die den Katalog einleitet. Anhand dieser Gegenüberstellungen von Original und zugehöriger Reproduktionsgraphik werden anschaulich die medienspezifischen Aufgaben und Schwierigkeiten der Graphik aufgezeigt. Da muß der zarte Dampf eines Tellers in Chardins „Tischgebet“ in eine dem Reproduktionsmedium gemäße Form gebracht, muß übersetzt werden. Das „Transponieren“ der Transfiguration von Raffael in den Kupferstich erfordert eine Auswahl der Übersetzungsmöglichkeiten, die hier von Dorigny „im Bildsinn“ [S. 107] getroffen worden ist. Diese Notwendigkeit zur Übersetzung ist es, welche die Reproduktionsgraphik interessant macht. Und die Übersetzung ist es auch, deren Beurteilung die „diskursive Qualität“ der Graphik ausmacht: Hier betont der Band eine historische Positionierung von „Kennerschaft“. Während diese heutzutage nahezu ausschließlich im Ruf technischer Besserwisserei steht, gelingt es den Autoren, sie als Form des Urteilens über künstlerische Entscheidungen herauszustellen.

Norberto Gramaccini und Hans Jakob Meier gelingt es in ihrem Band nicht nur, auf die historische Bedingtheit von „Reproduktion“ und „Übersetzung“ hinzuweisen, sondern auch, diese im Licht fundierter Quellenarbeit als ein Produkt des zeitgenössischen Kunstdiskurses zu betrachten. Dieses Verdienst wird nur unmerklich durch die Tatsache verringert, daß eine Einordnung des eigenen Blickwinkels in die derzeitige Forschungsdiskussion zu schmal ausgefallen ist. Gerne hätte man mehr darüber erfahren, wie die beiden Autoren andere Beiträge zur Theorie der französischen Reproduktionsgraphik einschätzen.[2] Davon abgesehen stellt „Die Kunst der Interpretation“ einen hervorragenden Einstieg in die Thematik der Reproduktionsgraphik dar und schafft es, Interesse für „kennerschaftliche“ Streitgespräche im besten Sinne zu wecken.

[1] Vgl. insb.: Norberto Gramaccini: Theorie der französischen Druckgraphik im 18. Jahrhundert. Eine Quellenanthologie. Bern 1997.
[2] Vgl. z.B.: Stephen Bann: Der Reproduktionsstich als Übersetzung. In: Kemp, Wolfgang; Mattenklott, Gerhard; Wagner, Monika; Warnke, Martin (Hrsg.): Vorträge aus dem Warburg-Haus, Bd. 6. Berlin 2002. S. 41-76.

Gramaccini, Norberto; Meier, Hans Jakob: Die Kunst der Interpretation. italienische Reproduktionsgraphik 1485-1600, München [u.a.]: Deutscher Kunstverlag 2009
ISBN-13: 978-3-422-06872-8, 518 S.

Empfohlene Zitation:
Daniel Herrmann: [Rezension zu:] Gramaccini, Norberto; Meier, Hans Jakob: Die Kunst der Interpretation. italienische Reproduktionsgraphik 1485-1600, München [u.a.] 2009. In: ArtHist.net, 08.10.2003. Letzter Zugriff 03.01.2025. <https://arthist.net/reviews/25961>.

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