Mit der Publikation „Die Heilige Sippe und die Mediengeschichte des Triptychons“ legt Holger Kuhn in einem handlichen Format ein sehr dichtes und vielseitiges „close reading“ zum St. Annen-Triptychon von Quentin Massys vor, bei dem sowohl familienpolitische als auch sozialhistorische Fragen der Zeit um 1500 mit ikonologischen und medienhistorischen Fragestellungen beleuchtet werden. Ausgehend von der Annahme, dass die Familie innerhalb des 15. Jahrhunderts bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts eine Entwicklung durchläuft, die sich von der Großfamilie hin zur Kleinfamilie von Vater, Mutter und Kindern beschränkt, beschreibt Kuhn in seiner Analyse sehr überzeugend, wie der künstlerische Blick auf diese Veränderung gerichtet wurde. Insbesondere soll der damit im Zusammenhang stehende Widerspruch diskutiert werden, dass ausgerechnet das Bildmotiv einer Großfamilie – nämlich das der Heiligen Sippe – in dem besprochenen Zeitrahmen eine Blütezeit erlebt.
Als Auftragswerk der St.-Annenbruderschaft Löwen ist das Triptychon im Jahr 1509 fertig gestellt worden und umfasst die hagiographischen Darstellungen von Anna und Joachim auf den Flügelaußen- und Innenseiten sowie die Darstellung der Heiligen Sippe auf der zentralen Mitteltafel. Auf diese Weise wird konzeptionell gegenübergestellt, das Marias Eltern bei zugeklapptem Altar zunächst keine und erst nach Aufklappen der Tafeln eine Überfülle an Nachkommen erhalten. Dabei fragt Kuhn vor allem, inwiefern die hohe Zahl der Nachkommenschaft im Zusammenhang mit der St.-Annenbruderschaft auch mit der Vermehrung und Reproduktion von Reichtum und Wohlstand zusammengedacht werden kann. Die knapp 158 Seiten umfassende Publikation gliedert sich in drei Teile, die sich jeweils aus unterschiedlichen Zugängen und mit verschiedenen Fragestellungen an das Triptychon der Heiligen Sippe von Quentin Massys annähern.
Zunächst widmet sich Kuhn im ersten Kapitel (S. 17-62) einigen sozialhistorischen Fragen. Er verknüpft den „Boom“ um das Motiv der Heiligen Sippe mit einem Verlust der genealogischen Abstammungsrelevanz hin zu einer gattenzentrierten Kernfamilie, die das alte Abstammungssystem ablöst. Diesen vorläufigen Widerspruch begründet der Autor stichhaltig mit einer neuen Strukturierung innerhalb der gesellschaftlichen Amts- und Kapitalvererbung, die sich nun nicht mehr auf den eingeschränkten Personenkreis der Verwandtschaft beschränkt, sondern erweitert. Innerhalb der Heilig-Sippen-Darstellungen resultiert dies in einer neuen Verteilung der Personen, die in kleinere Gruppen segmentiert werden, um der Kleinfamilie auf kompositorischer Weise eine neue Dominanz zu geben. Die innerbildlichen Beziehungsgeflechte und Reproduktionszusammenhänge liest Kuhn wiederum kohärent an formalen Kompositionsmustern ab. So bildet die Brüstung auf der Mitteltafel des Triptychons von Massys eine trennende Wand zwischen den mittleren Ehepaaren, um die passive Mitwirkung am Reproduktionsprozess zu vermitteln. Die seitlichen Ehepaare der Maria Cleophae und der Maria Salome sind hingegen körperlich durch Stoffüberschneidungen miteinander verbunden, was auf ihre natürliche Zeugungskraft verweist. Die zahlreichen Stoffe werden außerdem als interpikturale Zitate vorgestellt, da sie die gesamte untere Bildhälfte bedecken und, wie im Beispiel des gemalten Blumenteppichs, oft erst auf den zweiten Blick als textile Gewebe zu erkennen sind. Im Lateinischen als „textus“ bezeichnet bilden die Gewebe eine Verknüpfung zu den lesenden Kindern, die sich wie in einer propädeutischen Übung mit den abgebildeten Texten auseinandersetzen und zum Bildmittelpunkt und gleichzeitig zum innerbildlichen Mysterium hinführen: dem Christuskind als „logos“. Darüber hinaus kann Kuhn festhalten, dass sich eine neue Betonung der väterlichen Abstammung innerhalb der ansonsten eher mütterlich dominierten genealogischen Tradition durchsetzt. Durch zahlreiche Vergleiche mit früheren Darstellungen der Heiligen Sippe macht Kuhn evident, dass die Väter bei Massys eine neue, selbstbewusste Rolle einnehmen. Somit wird das Motiv der Heiligen Sippe zum Experimentierfeld, um den Konflikt der neuen Dominanz der Vaterrolle mit der christlichen Vorstellung der mariologischen Präsenz innerhalb der Familienkonstellation aufzulösen.
Im daran anschließenden Kapitel (S. 65-88) verbindet Kuhn die sexuelle Reproduktionsfähigkeit der männlichen Vertreter im Bild mit dem Motiv des Geldes, welches insbesondere in der Szene Joachims im Tempel zum Tragen kommt. Zudem werden die ambivalenten Ideale von Jungfräulichkeit und Armut mit dem kaufmännischen Leben und der unkeuschen Ehegemeinschaft kontrastiert und somit ein gesellschaftlicher Wandel im Werk ablesbar. Im Bild finde die Reproduktionskraft des Geldes somit auch keinen harmonischen Gegenpol in der Fortpflanzungskraft des Joachim. Beim Öffnen des Triptychons wird jedoch der Trugschluss offenbart, dass der vorhandene monetäre Reichtum am Ende doch keine negative Auswirkung auf die Nachkommenschaft Joachims haben wird, was Kuhn überzeugend als strategische Legitimierung des kaufmännischen Wohlstands der Auftraggeber verorten kann.
Auf die ersten beiden gesellschaftsspezifischen Abschnitte des Buches folgt in einem abschließenden Kapitel (S. 91-149) die Betrachtung des Werkes unter bildrhetorischen und medienhistorischen Fragestellungen. Es geht dem Autor hierbei um eine Verschränkung der Klapptechnik des Triptychons und einer dem Bild innenliegenden Bildrhetorik, die beide als Leseschlüssel zu verstehen sind. Dabei schließt Kuhn mit seinen Überlegungen an zahlreiche aktuelle Untersuchungen an, die sich mit den Bedeutungsebenen des Öffnens und Schließens von klappbaren Tafeln beschäftigen, um darauf aufbauend eine weitere Leseebene zu etablieren.[1] Neben den mechanischen Überschneidungen von Einzelmotiven beim Schließen der Tafeln des St.-Annentriptychons, die dabei auch eine inhaltliche Synthese bilden, erkennt Kuhn außerdem Bildelemente als Visualisierung der rhetorischen Figuren- und Tropenlehre.[2] Für diese Lehre postuliert Kuhn, ausgehend von bestehenden Forschungspositionen, eine besondere Dominanz innerhalb der Pädagogik des 16. Jahrhunderts, was er ausführlich anhand der entsprechenden Quellentexte herausstellt.[3] Das in diesem Zusammenhang eingeführte rhetorische Prinzip wird von dem Autor mit dem Klappmechanismus in Bezug gesetzt, der dem Betrachter etwas Dahinterliegendes vorzuenthalten scheint und nur eine prozessuale Annäherung durch die mechanische Klappung möglich macht. Diese sogenannten „Transenna-Effekte“ äußern sich aber auch in den innerbildlichen Rahmungen, Durchblicken und gestaffelten Raumebenen, die sich dem Auge des Betrachters nur stufenweise eröffnen. So wird auch die besondere architektonische Gestaltung des gemalten Raumes als ambivalentes Leseangebot im Rahmen der tropischen Bildrhetorik vorgestellt. Inwiefern die beschriebenen bildrhetorischen Mittel auch in späteren, unbeweglichen Tafelbildern relevant bleiben, zeigt Kuhn in einem Ausblick. Während der Klappmechanismus eine Annäherung vom profanen werkseitigen Bildthema, hin zum überzeitlichen schauseitigen Bildthema erzeuge, werden in vielen Tafeln des 16. Jahrhunderts diese „ehemals in der Apparatur gespeicherten medientechnischen Effekte“ (S. 92) vermehrt durch die Gegenüberstellungen von Bildhälften, oder durch Rahmungen und gestaffelte Bildebenen ersetzt.
Holger Kuhn eröffnet am Beispiel des St.-Annen-Triptychons und durch die vielseitige methodische Betrachtung den Blick auf neue Zusammenhänge zwischen Inhalt und Form, künstlerischer Produktion, Auftraggeberschaft und gesellschaftlichen Entwicklungen. Die besondere Qualität der Publikation liegt in der detaillierten und eingehenden Betrachtung eines Einzelwerkes, das aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet wird und den Leser einlädt, durch einen geschärften Blick neue Ideen am Bild zu entwickeln und zu entdecken. Formal und inhaltlich bietet die vorgestellte Publikation als intensives „close reading“ eine wertvolle Ergänzung zu etwaigen Überblickswerken. Das Buch stellt damit einen ebenso erfrischenden wie relevanten Beitrag zur Forschung dar. Das handliche Format und die anschaulichen Faltblätter regen dabei sehr zu einer (im besten Sinne) kurzweiligen und dennoch tiefgehenden Lektüre an.
[1] Marius Rimmele, Das Triptychon als Metapher, Körper und Ort. Semantisierungen eines Bildträgers, München 2010; David Ganz/ Marius Rimmele, Klappeffekte. Faltbare Bildträger in der Vormoderne, Berlin 2016; Lynn Jacobs, Opening Doors. The Early Netherlandish Triptych Reinterpreted, University Park, Pa. 2012; Heike Schlie, Wandlung und Offenbarung von Klappretabeln. In: Das Mittelalter, Berlin 2005; Roland Krischel, Bilder, die klappen. Zur Kinetik religiöser Gemälde im spätmittelalterlichen Köln; In: Wallraf-Richartz-Jahrbuch, Köln 2014.
[2] Marius Rimmele, Das Heilige als medialer Effekt: Beobachtungen zu Quentin Massys‘ St. Annen-Triptychon (1509); In: Archiv für Mediengeschichte, BD. 15 (2015), S. 85-96.
[3] Nancy L. Christiansen, Figuring Style. The Legacy of Renaissance Rhetoric, Columbia 2013.
Kuhn, Holger: Die Heilige Sippe und die Mediengeschichte des Triptychons. Familie und Bildrhetorik in Quentin Massys’ Annenaltar (= edition imorde.instants; 2), Emsdetten: Edition Imorde 2018
ISBN-13: 978-3-942810-41-8, 158 S., EUR 16.00, Inhaltsverzeichnis
Empfohlene Zitation:
Kathrin Borgers: [Rezension zu:] Kuhn, Holger: Die Heilige Sippe und die Mediengeschichte des Triptychons. Familie und Bildrhetorik in Quentin Massys’ Annenaltar (= edition imorde.instants; 2), Emsdetten 2018. In: ArtHist.net, 06.02.2020. Letzter Zugriff 07.11.2024. <https://arthist.net/reviews/22529>.
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