REV-EX 06.10.2011

Victor Segalen et l'exotisme (Abbaye de Daoulas)

Abbaye de Daoulas, France, 22.04.–06.11.2011

Rezensiert von Viktoria Schmidt-Linsenhoff, Frankfurt am Main/ Trier
Redaktion: Steffen Haug
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Wer sich auf den Webseiten „2011 – l’année d’outre-mer“ über diese
Initiative informieren will, die das Verhältnis Frankreichs zu den
ehemaligen Kolonien, die nach dem Krieg zu „départements d’outre-mer“
wurden, verbessern soll, findet mehr als 110 Events – Sport, Musik,
Literatur, Kolloquien und Ausstellungen. Das aufwendige
Veranstaltungsprogramm entspricht den persönlichen Wünschen von Nicolas
Sarkozy, der gleichzeitig mit der Vertreibung von Sinti und Roma aus
Frankreich gegen geltendes EU-Recht verstieß. Mit „2011 – l’année d’
outre-mer“ sollte – im Gegenzug zur Ausgrenzung – die kulturelle
Zugehörigkeit der 2,7 Millionen Einwohner der überseeischen Departements
zur Nation bestätigt werden. Der Präsident der Republik wollte „die
extreme Vielfalt und den großen Reichtum der Bevölkerung, der Kulturen
und der Territorien in Übersee“ einem breiten Publikum vermitteln –
„quel que soit le lieu d’origine ou de résidence“. Die Anregung der
Nationalversammlung hatte 2009 einen anderen Akzent gesetzt: ihr ging es
darum, den historischen Einfluß der Kolonien auf die Geschichte
Frankreichs zu untersuchen und die ehemals kolonisierten Gesellschaften
in ihrer Dynamik von Tradition und Moderne, Frankophonie und
Globalisierung sichtbar zu machen. Sarkozys Vorstellung von einer
idealen Beziehung zwischen Mutterland und Postkolonie visualisiert eine
Fotografie, die ihn bei der Eröffnung der „jeux du Pacifique“ (der
pazifischen Olympiade) in Neu-Kaledonien zeigt. Man sieht den
Präsidenten en face im dunkelblauen Anzug; er schüttelt einem anonymen,
halbnackten, tätowierten Sportler (Krieger) im verlorenen Profil die
Hand.[1] Sarkozy sagte laut Bildunterschrift, dass die Spiele 2011 zum
ersten Mal in einem Geist des Dialogs und der Versöhnung stattfänden.
Die Umdeutung von Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in ein
freundschaftliches shake hands, das eine egalitäre Begegnung suggeriert,
gehört zum Kernbestand kolonialer Ikonografie.

Der Rhetorik der „Begegnung“ sind auch die Titel von zwei
kunsthistorisch relevanten Ausstellungen des outre-mer-Programms
verpflichtet. Im Unterschied zu „Nous nous sommes rencontrés. Césaire,
Picasso, Lam“ im Grand Palais in Paris [2], wo dem Publikum der
Metropole die plattesten Klischees des Exotismus geboten wurden,
überraschte die bretonische Provinz mit „Rencontres en Polynésie. Victor
Segalen et l’exotisme“ – eine überaus gelungene Ausstellung zur
kritischen Theorie des Exotismus, die Victor Segalen mit seinem „Essai
sur l’exotisme“ begründete.[3] Victor Segalen (1878-1919) entwickelte
vor dem Hintergrund seiner Reise-Erfahrungen als Marinearzt in der
Südsee, als Archäologe in China und auf den Spuren Rimbauds in Äthiopien
eine „Ästhetik des Diversen“, auf deren Aktualität die Ausstellung
aufmerksam macht. Von besonderem Interesse für die Kunstgeschichte ist
die Auseinandersetzung mit Gauguin, der kurz vor Segalens Ankunft auf
der Insel Hiva Oa verstorben war. Mit dem poetisch-fiktionalen Text
„Paul Gauguin in seiner letzten Umgebung“ (im Januar 1904 in Tahiti
geschrieben, im Juli publiziert im „Mercure de France“) konzipierte
Segalen eine transkulturelle Erweiterung der Künstlergemeinde des
Symbolismus.[4] Er erwarb Arbeiten aus Gauguins Nachlass, der in Tahiti
verschleudert wurde, und die jetzt in der Ausstellung zu sehen sind.
Segalen machte Gauguin zum Kronzeugen seines kritischen
Exotismus-Begriffs. Dieser setzt einen radikalen Bruch mit den
Stereotypen (Palme, Hautfarbe, Kamel etc.) voraus und fokussiert die
Sensation des Neuen, die das „Ich“ der Begegnung mit dem Anderen
verdankt. Im Mittelpunkt steht der Grundgedanke, dass das exotische
Objekt der Wahrnehmung eines europäischen Reisenden zugleich ein Subjekt
ist, das auf das Eindringen des Fremden in seine Welt reagiert. Die
Ausstellung setzt Segalens bahnbrechende Einsicht in die reziproke
Wechselwirkung zwischen dem europäischen Selbst und einem Anderen, das
in einer gleichrangigen Subjektposition gedacht wird, insofern um, als
es ihr gelingt, beide Perspektiven der interkulturellen „Rencontres“
unter kolonialem Vorzeichen zu vergegenwärtigen. Wie Segalen selbst
verweigert die Ausstellung jede Form der identifikatorischen
Einverleibung der Südsee und hält die von Segalen geforderte Distanz,
die das Andere in seiner (letztlich unverstehbaren) Alterität beläßt und
akzeptiert. Die Ausstellung bietet nicht nur eine lokalpatriotische
Hommage des unterschätzten Autors bretonischer Herkunft, sondern eine
brisante Theorie des Exotismus. Ausstellung und Katalog entfalten aus
Segalens Texten und Bildern unterschiedliche Erzählstränge und
Diskursfelder, deren Verflochtenheit und Komplexität auch bei einer nur
oberflächlichen Betrachtung deutlich wird. Der Kunsthistoriker Patrick
Absalon und der Ethnologe Roger Boulay fragen, warum die Faszination der
Südsee-Klischees auch im Zeitalter der Postkolonialität und
demokratischer Globalisierung ungebrochen weiterwirkt – und stellen
fest, dass letztlich auch Victor Segalen selbst – ungeachtet seiner
wütenden Kritik an Autoren wie Pierre Loti und Cook-Touristen – in
Tahiti von der Sehnsucht nach einem irdischen Paradies umgetrieben
wurde, das die Europäer zerstört hatten.

Die moderne Halle neben einer spätmittelalterlichen Abtei in dem
Städtchen Daoulas im tiefsten Finistère ist ein entlegener Ort für eine
ambitionierte Theorie-Ausstellung, aber gleichwohl gut besucht. Die
magisch beleuchteten ozeanischen Kultobjekte am Anfang des Rundgangs
stellen die BesucherInnen auf eine imaginäre Museumsreise in die Südsee
ein. Diese Erwartungshaltung wird jedoch schon nach wenigen Schritten
von einer Ansammlung kulturindustrieller Hula Hula-Tänzerinnen
irritiert, die um einen Ausschnitt von Friedrich Wilhelm Murnaus Film
„Tabu“ (1931) jenen „valse des clichés“ aufführen, den Patrick Absalon
im Katalog analysiert (S. 36). Der Kontrast zwischen den polynesischen
Kult-Objekten und der europäischen Projektion erotischer Wünsche auf die
Südsee ist so groß, dass die horrenden Mißverständnisse der „Begegnung“
ins Auge springen. Ausstellung und Katalog klären z.B. den europäischen
Irrtum, die rotierenden Beckenbewegungen der Maori-Frauen in den
kultischen Tänzen seien Ausdruck einer sozial unkontrollierten,
schamlosen Triebhaftigkeit, während sie tatsächlich die höchste Stufe
der Disziplinierung des Körpers vorführen. Die Trennung der Bewegungen
des Unterkörpers, die dem Rhythmus der Trommeln folgen, und der des
Oberkörpers, die eine Geschichte erzählen, ist eine nur durch jahrelange
Übung erreichbare, polynesische Körperkunst. Und sie erklären den
Unterschied zwischen der glotzäugigen Wächterfigur „ti’i“ (die in der
europäischen Literatur bis heute fälschlich als „tiki“ und
Repräsentation eines Gottes bezeichnet wird) und dem kultisch
hochrangigen „to’o“, einem mit Fasern umwickelten Holzstück, dessen
Materialästhetik und Formlosigkeit das Sakrale verkörpert. Die
brillanten Chromolithografien aus Owen Jones’ „Grammatik der Ornamente“
(1856) und verwandten französischen Tafelwerken klassifizieren die
ozeanischen Objekte unter der Kategorie „Ornements des tribus sauvages“.
Die hervorragende, grafische Qualität der Abbildungen läßt ein echtes
Interesse an der Ästhetik der „Wilden“ erkennen und entspricht der
Ambivalenz des Urteils: „primitive – goût de plus raffinée“. Die
Ausstellung überrascht mit unbekannten Materialien zur französischen
Kolonialkultur, wie z.B. dem Gemälde von Frédéric Régamy, „Jules Ferry
empfängt die Deligierten der Kolonien“ (1892) oder dem repräsentativen
Porträt der letzten Königin von Tahiti, Pomaré IV (Regierungszeit
1827-1877). Sie präsentiert sich dem französischen Maler Sebastien
Charles Giraudin in einem europäischen, weißen Satinkleid und
tahitianischem Blumenschmuck als eine souveräne Herrscherin und Matrone,
deren Ehrbarkeit an die Königin Victoria erinnert und den reißerischen
Berichten der französischen Presse über ihren unersättlichen, sexuellen
Appetit widerspricht. Die Materialien zur Repräsentationsgeschichte
Ozeaniens bieten nicht nur ein differenziertes Bild der facettenreichen
französischen Ikonografie der Südsee, sondern auch Lesarten „gegen den
Strich“, die es erlauben, die koloniale Erfahrung der Maori zu
interpolieren. Ein Aquarell von 1844 versammelt vier Porträtköpfe: der
König Temoana der Insel Nuku Hiva und Pakoko, sein Chef-Krieger in
französischer Uniform, Pakokos Frau und ein Priester. Die Beschriftung
des Blattes berichtet über ein koloniales „Mißverständnis“ mit tödlichem
Ausgang. Pakoko rebellierte gegen die Kasernierung seiner Tochter, die
verhaftet worden war wegen (angeblicher) Unzucht beim öffentlichen Bad,
das die Franzosen als Aufforderung zur Orgie verboten hatten. Pakoko
wurde wegen seines Widerstands hingerichtet. Die Schlichtheit der
visuellen Reportage vergegenwärtigt die Gewalt der Unterdrückung,
während andere Blätter kulturelle Austauschprozesse zeigen – wie z.B.
die Darstellung eines Maori-Tanzes, der französische Marinesoldaten der
„Durance“ (auf der Segalen Schiffsarzt war) und Tahitianerinnen in
züchtigen Missionskleidern vereint. Von besonderem Interesse sind
zahlreiche Gemälde, Grafiken und Fotografien der „Métissage“, die den
tatsächlichen Multikulturalismus, aber auch rassistische Sexualpolitiken
der ethnisch gemischten Inselbevölkerung dokumentieren.

Die Ausstellung zeigt Gauguins Gemälde „Bretonisches Dorf im Winter“,
das Segalen im „Essai sur l’exotisme“ als Beispiel für die Umkehrbarkeit
des geographischen Exotismus erwähnt. Für den Maler seien die
schneebedeckten, französischen Bauernhäuser in Tahiti durch die
räumliche Ferne zu einem Motiv des Exotismus geworden.[5] Deutlich wird
auch, mit welchen künstlerischen Mitteln Gauguin die Analogie zwischen
der Primitivität der bretonischen Volks- und der polynesischen
Stammeskultur konstruierte. Die Ausstellung zeigt die Einbettung seines
formal abstrahierenden Primitivismus in visuelle Diskurse der
Kolonialfotografie, die zwar prinzipiell bekannt ist, aber hier mit
qualitätvollen, fotografischen Exponaten nachvollziehbar war. Der Ersatz
der primitivistischen Skulpturen und Holzschnitte durch Kopien mag der
Not des Leihgabengeschäfts geschuldet sein, die Ausstellung macht jedoch
eine Tugend daraus und beleuchtete die kulturindustrielle Komponente des
Primitivismus. Besonders aufschlußreich ist die Rolle des Malers Daniel
de Monfreid, der Gauguins Kontakt zum Kunstbetrieb der Metropole
sicherte, und dem sich Segalen in der posthumen Verehrung des „Genies“
freundschaftlich verband. De Monfreid illustrierte Segalens
Publikationen mit Maori-Motiven (1907), authentifizierte seine Edition
von Gauguins Briefen mit einem Abdruck der Signatur PGO (1917) und
illustrierte 1924 die Ausgabe von „Noa Noa“ mit Holzschnitten „nach
Gauguin“. Die Ausstellung dokumentiert eindrucksvoll die enge
Verflechtung der elitär-literarischen und populär-kulturindustriellen
Gauguin-Rezeption, die den Künstler in jenen Südsee-Kitsch überführte,
in dessen Rahmen er bis heute verhandelt wird. Bedauerlicher Weise ist
der Katalog-Beitrag der Literaturwissenschaftlerin Maria Zinfert zum
Verhältnis Segalen/Gauguin („Gauguin le Tahitien“, S. 106) wenig
aufschlußreich. Er stellt weder die Frage, inwiefern Segalen selbst der
künstlermythologischen Verkitschung Gauguins Vorschub geleistet hat,
noch, ob Gauguins tahitianisches Oeuvre tatsächlich dem kritischen
Exotismus-Begriff von Victor Segalen entspricht oder dieser nicht einen
„falschen“ Kronzeugen für seine Theorie gewählt hat.[6] So wenig ernst
der Katalogtext Gauguin als Künstler nimmt, so unbefriedigend ist die
Präsentation in den Räumen, die ihm gewidmet sind. Die Hängung ist hier
zu eng, zu gedrängt, als dass die Kunst ihr kritisches Potential
entfalten und gegenüber der visuellen Kulturindustrie behaupten könnte –
was leider auch für die Präsentation der Gegenwartsfotografie gilt, die
sich ironisch mit Südsee-Stereotypen auseinandersetzt (Andreas Dettloff,
„Loti avec son crâne marquisien“, 2009; Greg Semu, „The Battle of the
Noble Savage“, 2007).

Abgesehen von der bedauerlichen Leerstelle „Gauguin“ ist der Katalog
ausgezeichnet gemacht. Die Fülle und Qualität der Abbildungen und das
Konzept eines Mosaiks aus Textbausteinen zu übergreifenden Aspekten und
ausgewählten Exponaten machen ihn zu einer wertvollen, eigenständigen
Publikation. Die Herausgeber entsprechen dem Bedürfnis eines breiten
Publikums nach kurzen Texten und die Beschränkung des Umfangs zwingt die
AutorInnen zu einer thesenhaften Zuspitzung, die das wissenschaftliche
Interesse der Publikation ausmacht. Die Multiperspektivität der
Katalogbeiträge, die – mit wenigen Ausnahmen – den aktuellen
Forschungsstand einarbeiten, könnte als vorbildlich für eine
interdisziplinäre, kulturwissenschaftliche Annäherung an ein Thema
gelten, das anders gar nicht zu erfassen ist – bliebe nicht die
ästhetische Analyse von Gauguins Oeuvre auf der Strecke. Es ist deshalb
zu befürchten, dass die Gauguin-Forschung den Katalog als
„ethnographisch“ ignorieren wird. Da er jedoch für eine postkoloniale
Re-Lektüre des politisch nach wie vor umstrittenen Künstlers eine
ausgezeichnete Theorie- und Material-Grundlage bietet, sollte er in
keiner kunsthistorischen Bibliothek fehlen.

Anmerkungen:
[1] http://www.2011-annee-des-outre-mer.gouv.fr./actualites/499/les-jeux-sont-ouverts.html

[2] Vgl. Viktoria Schmidt-Linsenhoff: [Rezension zu:] Césaire, Lam,
Picasso: Nous nous sommes trouvés (Paris). In: H-ArtHist, Sep 5, 2011.
<http://arthist.net/reviews/1784>.

[3] Victor Segalen, Die Ästhetik des Diversen. Versuch über den
Exotismus, Frankfurt am Main 1994. Segalen arbeitete von 1904-1918 an
einem Buchprojekt, das bei seinem Unfalltod 1919 unvollendet war und als
Fragment posthum veröffentlicht wurde.

[4] Victor Segalen, Paul Gauguin in seiner letzten Umgebung. Die zwei
Gesichter des Arthur Rimbaud, Frankfurt am Main 1991.

[5] Es handelt sich um einen Irrtum. Das Gemälde entstand 1888 in der
Bretagne und wurde von Gauguin mit in die Südsee genommen.

[6] Zu dieser Frage vgl. Viktoria Schmidt-Linsenhoff, Die Ästhetik des
Diversen. Victor Segalen und Paul Gauguin. In: dies., Ästhetik der
Differenz. Postkoloniale Perspektiven vom 16.-21. Jahrhundert.15
Fallstudien, Marburg 2010, S. 87-108.

Boulay, Roger; Absalon, Patrick: Rencontres en Polynésie. Victor Segalen et l'exotisme, Paris: Somogy éditions d'art 2011
ISBN-13: 978-2-7572-0462-7, 191 p., EUR 35,50

Empfohlene Zitation:
Viktoria Schmidt-Linsenhoff: [Rezension zu:] Victor Segalen et l'exotisme (Abbaye de Daoulas) (Abbaye de Daoulas, France, 22.04.–06.11.2011). In: ArtHist.net, 06.10.2011. Letzter Zugriff 24.04.2024. <https://arthist.net/reviews/1988>.

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