REV 04.12.2006

Louis Marin: Das Porträt des Königs

Rezensiert von Horst Bredekamp, Humboldt-Universität zu Berlin
Redaktion: Carolin Behrmann
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Die um 1960 einsetzende Epoche des "französischen Denkens" hatte darin ihre Größe und ihre Begrenzung, dass sie alle Formen der Kultur mit der Sonde unorthodoxer Sprachtheorien durchleuchtete. Das hierin vielleicht schlagendste Werk, Jacques Derridas "Grammatologie", betonte jedoch auch die Bildhaftigkeit aller Sprachformen, um einer sprachbezogenen Verdünnung vorzubeugen [1]. Michel Foucaults "Les mots et les choses" blieb als das zweite, nicht minder paradigmatische Werk hinter dieser Lösung des Grundkonflikts zwischen dem Diskursiven und dem Ikonischen zurück. Das berühmte, Velazquez' Las Meninas gewidmete erste Kapitel, bildete als ein seltsam unverbundenes Frontispiz einen Zusatz zum Text [2].

Durch Übersetzungen ist seit einigen Jahren mit dem Werk Louis Marins auch im deutschen Sprachraum zunehmend jener Philosoph präsent, der diese Lücke so intensiv wie wohl niemand seiner Zeitgenossen zu füllen versucht hat. Als er im Jahre 1992 starb, widmete ihm Jacques Derrida einen bewegenden Nachruf über das Schreiben als Trauern [3]. Das jüngste von Marin übersetzte Buch, das vor genau fünfundzwanzig Jahren auf Französisch erschienene "Portrait des Königs", ist das Gegenstück zu Derridas "Grammatologie" insofern, als es den Kosmos der bildlichen Repräsentationsformen in langen Anläufen von der Narration und der Theorie des absoluten Herrschers her durchdenkt und damit das Spezifische des Visuellen von seinem Gegenpol her entwickelt [4].

Dies geschieht in eindringlichen Analysen vorwiegend von Texten. In Blaise Pascals Fragment über "Gerechtigkeit und Gewalt" analysiert Marin das Zusammenspiel nackter Gewalt, wie sie im Militär als Fortsetzung eines unverstellten Körpers des Monarchen sichtbar wird, mit der imaginären Präsenz der körperlichen Vermehrung, wie sie von den Perücken bis zu den Tänzen und Ritualen reicht (29-63). Über Paul Pellisons Begründung einer Geschichte Ludwigs XIV. erkennt er das Paradoxale der absoluten Macht, in ihrer Unbegrenztheit zur Selbstreflexion nicht fähig zu sein und daher auf die dritte Person des Erzählers bauen zu müssen. Als solcher empfindet sich der Chronist Pellison, indem er nicht allein die Fakten über Ludwig XIV. zusammenstellt, sondern verschiedene Perspektiven einnimmt, wie es dem Maler möglich ist. Indem er "Ich" und "Er", Tatauge und Zuschauer zugleich ist und sowohl den Tatort wie auch den Distanzpunkt einzunehmen versteht, beansprucht er als Historiker, "mehr zu malen als zu erzählen".

Nach dieser Rekonstruktion der Notwendigkeit, dass sich die absolute Macht eines Dritten bedienen muss, um sich selbst erkennen oder zumindest spiegeln zu können, macht Marin in einem besonders poetischen Kapitel die Gegenrechnung auf, indem er Jean de La Fontaines berühmte Fabel vom Fuchs und dem Raben als rhetorische Reflexion über die Verwandlung von Schmeichelei in Käse und damit von Sprache in Nahrung analysiert. Hier zeigt sich die Lebensform einer gewagten, weil parasitären Existenz, wie sie etwa auch in Jean Racines listigen Lobreden auf den König aufscheint.

Zu den Glanzseiten des Buches gehört Marins Auslegung von Jacques Gombousts im Jahre 1652 vorgelegten Karte von Paris, die in all ihrer Exaktheit den symbolischen Raum unendlich gedachter Herrschaft inkorporiert (273ff.). Dasselbe gilt für André Felibiens Beschreibung des Palastes von Versailles, die eine gesehene und erlebte Wirklichkeit des riesigen Bauwerkes als Mikrokosmos einer makrokosmischen Herrschaft begreift. Sie manifestiert sich eher in Festen als in Gebäuden, weil ihr Aufführungscharakter von vornherein eine Verweisstruktur besitzt (291ff.).

Die Krönung aber bietet Marins Deutung von Felibiens Text über das Königsportrait (333ff.). Indem er durch das Gemälde hindurch dem Portraitierten selbst gilt, setzt er im Bildnis die Realpräsenz des Dargestellten voraus, der seinerseits auch als Kopie des Bildes erscheint. Die beiden Körper des Königs, der sterbliche, mit dem Tod verfallende Leib des Individuums und der unsterbliche, auf den Nachfolger übergehende Amtskörper verschmelzen. Hier schließt Marin mit Verweis auf Pascal eine Theorie der Zerstreuung an, der zufolge dem König auferlegt ist, sich permanent festlich und spielerisch zu betätigen, weil die Leere des Unausgefüllten zur Reflexion des menschlichen Elends führt. Dies aber bedeutet den Verlust der sakramentalen Sicherheit, herrschen zu können und die Herrschaft zu repräsentieren. Die Zerstreuung dagegen lässt den König als Herrscher am Leben; im repräsentativen Bildnis seiner selbst erblickt er zu jedem Moment die Möglichkeit einer Eigenbetrachtung, die den Blick auf den leeren Kern verstellt. Die letzte Bestimmung des repräsentativen Theaters liegt folglich darin, dem Herrscher die Möglichkeit zu verwehren, in die Selbstreflexion abzustürzen. Es folgt dem Konzept, den Herrscher mit den Spiegeln seiner selbst zu umstellen, um zu verhindern, dass ihm das Nichts seiner Existenz bewusst wird. Im letzten Moment sind die repräsentativen Mittel ein Abwehrzauber gegen die reflexive Entleerung der absoluten Macht.

Das theoretische Vermächtnis Louis Marins steckt in der komplexen, begrifflich bisweilen hypertrophen Einleitung, die in immer neuen Anläufen die Politisierung aller Repräsentationssysteme verfolgt. Wenn Macht per se keine aus sich selbst entstehende Grenze anerkennt, in der Wirksphäre der Taten aber mit immer neuen Hinderungen konfrontiert ist, ist es die Welt der Repräsentationen, die mit ihren Spiegel-, Verdoppelungs- und Reaktionsweisen eine Bestimmung der Herrschaft und ihrer selbstbezogenen Binnendynamik an sich erlaubt. Es scheint, als habe Marin die absolutistischen Gesten François Mitterrands, wie sie sich etwa in der Entscheidung für die glitzernde Louvre-Pyramide Ieoh Ming Peis von 1983 verkörperten, analytisch gewittert.

Über Brücken, die Marin möglicherweise selbst nicht bewusst waren, aktualisiert er Diskussionen, die sich in der Weimarer Republik zwischen Hans Kelsen, Carl Schmitt und Leo Strauß um die Selbstbestimmung der frühmodernen Souveränität zuspitzten. Im Gegenzug nimmt Marin Positionen vorweg, die mehr als zehn Jahre später Giorgio Agamben in seiner Theorie des Ausnahmezustandes eingenommen hat [5].

Der Text kommt als Übersetzung nur auf den ersten Blick zu spät. Genau fünfundzwanzig Jahre nach seiner Erstveröffentlichung lässt er einen wissenschaftsgeschichtlichen Stellenwert erkennbar werden, der gerade in seinem Anachronismus aktuell ist. Mit der These, dass die Repräsentationsformen nicht etwa das Vehikel, sondern das ureigene Dominium ihres unbegrenzten Formierungswillens bilden, hat Marin die substantielle Kraft alles Bildlich-Symbolischen betont. Und mit der Rekonstruktion der Verdoppelungen des Souveräns hat er das semiologische Spiel der Repräsentationsformen verkörperlicht, um die Bildpolitik in die Sphäre der Handlungen, und nicht etwa ihrer Wiedergaben zu weisen.

Hierin liegt der methodische Stellenwert des Buches. Im Duktus der siebziger Jahre geschrieben, wirkt vieles am Sprach- und Argumentationsstil zunächst veraltet, um sich im Gegenzug jedoch als höchst gegenwärtig zu erweisen. Denn indem es das freie Spiel der Repräsentationsformen als substantielle Äußerung einer so erzählerisch wie bildhaft entfalteten Macht erklärt, spricht es gegen die Lehre, dass die frei flottierenden Zeichen des Symbolischen nur mehr ihren eigenen Adressaten besässen. Diese Volte scheint in Marins Werk angelegt, ist aber peinlich vermieden. Insofern handelt es sich um ein Opus, das die Postmoderne rahmt: auf sie zulaufend, ohne sie zu bestärken, ist es zugleich ein Werk nach 9/11, weil es sich dem Luxus verweigert, eine Welt zu denken, in der Zeichen und Wirkungen nicht verbunden sind. Dem freien Spiel der Codes hat sich Marin widersetzt.

An zahlreichen französischen Texten, und so auch an Marins Hauptwerk, frappiert bisweilen, wie autark sie sich gegenüber außerhalb ihres Sprachraumes liegenden Forschungen verhalten. Vor allem das Fehlen von Thomas Hobbes' Kritik und Einsatz der souveränen Hoheitsmittel verblüfft. In dieser Selbstbeschränkung liegt eine Schwäche, der die Stärke eines immer neu ansetzenden, sich in die Probleme gleichsam hineinspiralisierenden Denkens gegenübersteht. Marins durch Heinz Jatho hervorragend übersetzter Text ist in Teilen bis zum Ärgernis verdreht. Er birgt aber eine Erkenntniskraft, die zu den Ausnahmeleistungen der Forschung zum repräsentativen Absolutismus gehören dürfte.

Es bleibt die Betrübnis, dass ein Dialog zwischen Marin und dem früh verstorbenen Kunsthistoriker Stefan Germer, dessen nicht minder grandioses Werk "Kunst - Macht - Diskurs. Die intellektuelle Karriere des André Félibien im Frankreich von Louis XIV." [6] die historischen und bildtheoretischen Seiten der von Marin durchdrungenen Phänomene zu präzisieren vermochte, nicht mehr stattfinden konnte. Der Leser aber findet in beiden Werken sich komplementär gegenüberstehende Zugänge, die gemeinsam Grundfragen der visuellen Repräsentation erschliessen.

[1] Jacques Derrida: De la grammatologie. Paris: Les Éditions de Minuit 1967.
[2] Michel Foucault: Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris: Gallimard 1966.
[3] Jacques Derrida: Kraft der Trauer. Die Macht des Bildes bei Louis Marin. In: Michael Wetzel/Herta Wolf (Hg.): Der Entzug der Bilder, München: Fink 1994, S. 13-35.
[4] Übersetzungen und Werke von Louis Marin siehe die Gesamtbibliographie von Françoise Marin und Pierre-Antoine Fabre unter http://diaphanes.de/pdfs/marin_biblio.pdf
[5] Siehe zuletzt Giorgio Agamben: Ausnahmezustand. Homo sacer, Teil II, Band 1, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2004
[6] Stefan Germer: Kunst - Macht - Diskurs. Die intellektuelle Karriere des André Félibien im Frankreich von Louis XIV., München: Fink 1997

Marin, Louis: Das Porträt des Königs, Berlin: diaphanes 2005
ISBN-10: 3-935300-62-X, 446 S., EUR 49.00

Empfohlene Zitation:
Horst Bredekamp: [Rezension zu:] Marin, Louis: Das Porträt des Königs, Berlin 2005. In: ArtHist.net, 04.12.2006. Letzter Zugriff 18.04.2024. <https://arthist.net/reviews/140>.

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