[English version below]
»Zugkräfte«.
Potenziale der Kunst im Trecento.
Workshop der DFG-Kolleg-Forschungsgruppe »Imaginarien der Kraft«.
Ziehen, hervorziehen, anziehen, fesseln. Die Frage nach den »Zugkräften« in der italienischen Kunst des 14. Jahrhunderts wurde von der Forschung nur ansatzweise ergründet. Mit ihnen geraten jedoch Qualitäten in den Blick, die es erlauben, Herstellungsprozess, Materialität und Medialität einerseits, Motive und Betrachtende andererseits in ihren physischen, metaphysischen wie auch technischen und ästhetischen Dimensionen zu adressieren und miteinander in Beziehung zu setzen. Denn nicht zufällig, so die Ausgangsthese, lässt Francesco Petrarca die ratio in seinen 1350–1366 verfassten Heilmitteln beiderlei Glücks (De remediis utriusque fortunae) eine „Kraft“ (vis) in Anschlag bringen, um vor der verführerischen Wirkung der Kunst zu warnen – ihr schreibt er ein „Hängenbleiben“ (inhaere) an den Gemälden, ja ein „Einfangen“ (capere) des Verstandes zu.
Der Workshop geht von solchen »Zugkräften« im erweiterten Sinne aus, um kunsthistorische Analysen mit Ansätzen aus der Philosophie-, Literatur- und Wissenschaftsgeschichte ins Gespräch zu bringen. Wie werden »Zugkräfte« in Werken des Trecento modelliert? Sind diese primär auf ikonographische Vorlagen zurückzuführen oder zeigt sich darin ein besonderes Interesse, sichtbaren und unsichtbaren Wirkungsketten nachzuspüren? Inwiefern lässt sich mit diesem Ansatz Werk und Rezeption verschränken? Welche visuellen Strategien und technischen Verfahren werden übernommen, verfeinert, entwickelt, um Zug und Anziehung darzustellen und zu erzeugen? Welche Rolle spielen Bildarchitekturen, Rahmenformen und andere Dispositive (Vorhänge, Brüstungen, Gitter etc.) im Wechselspiel zwischen Anziehung und Distanzierung? Und welche literarischen, rhetorischen, naturphilosophischen oder moraltheologischen Überlegungen liegen dem zugrunde?»Zugkräfte« (lat. trahere; ital. trarre, tirare etc.) verweisen im aristotelischen Sinne zunächst auf eine physische, durch direkte äußere Krafteinwirkung erzwungene Bewegung „von einem anderen fort zu sich selbst oder einem anderen hin […].“ (Physik 244a) Als solche begegnen uns »Zugkräfte« im Trecento in unterschiedlichsten Motiven: dem Ziehen von Karren, dem Ausziehen von Nägeln, dem sanften Zug oder dem gewaltsamen Reißen an Gewändern sowie Haaren, aber auch in Form von Seilzügen aller Art. Giottos Fresken der Cappella degli Scrovegni (um 1303–1307), Altichieros Verschleppung der Hl. Lucia (um 1379–1384) oder die beiden, an einem Querbalken der Sala del Mappamondo des Palazzo Pubblico in Siena montierten hölzernen Unterarme, mit deren Hilfe Lampen vor Simone Martinis Maestà emporgezogen werden konnten, sind mitnichten die einzigen Beispiele, in welchen »Zugkräfte« in unterschiedlichen Variationen und Intensitäten prominent zur Anschauung gelangen.
Jenseits mechanischer Krafteinwirkung verbinden sich mit »Zugkräften« im 14. Jahrhundert aber auch Dynamiken, die ohne direkten Kontakt von Beweger und Bewegtem in Erscheinung treten. Schlüsselbegriff ist hier die »Anziehungskraft« (lat. attractio, allicere etc.). Als solche hat sie ihre Spuren nicht nur in naturphilosophischen Abhandlungen der Scholastik hinterlassen, etwa im Kontext des Magnetismus, der Gravitation, der Optik, Magie und Alchemie. Als literarisches Motiv kehrt sie auch in unterschiedlichen Texten des 14. Jahrhunderts wieder. Beispielsweise, wenn Dante Alighieri in Purgatorio XXXII seiner Divina Commedia (um 1307–1321) schildert, wie das „heilige Lächeln“ Beatrices den Blick seines alter ego derart anziehe (a sé traéli), dass ein Abwenden nur auf kraftvollen Zuruf (con forza) der Tugenden möglich ist: „Zu fixiert!“ (Troppo fiso!)
Im Spannungsfeld zwischen Bewunderung und moraltheologischer Kritik lässt sich auch die »Anziehungskraft« der trecentesken Kunst verorten. Mal als „Augenlust“ getadelt, mal als Ausdruck von Kunstverstand gelobt, treten Blick bzw. Betrachtende hier in einen Dialog mit Form und Zurichtung des Werks, seiner Materialität und Dimensionierung, letztlich auch mit den Hervorbringenden und ihren technischen Vermögen. Für letzteres ist der „ritratto“ als ein wörtliches „Heraus-“ oder „Hervorziehen“ (lat. protrahere) aus der Natur, aus einer Vorlage oder aus der Erinnerung zu erwähnen. Zu denken ist aber auch an künstlerische Detaillierungen und Kleinformate, die Betrachtende dazu zwingen, sich ihnen anzunähern.
Die Breite des hier nur knapp umrissenen Themenfelds der »Zugkräfte« eröffnet die Möglichkeit, sich der trecentesken Kunst und den ihr zugrunde liegenden Phänomenen aus unterschiedlichen inhaltlichen und disziplinären Richtungen anzunähern.Beiträge zum Workshop sollten sich mit einer der folgenden Thematiken befassen:
- Attraktionen: Imaginarien des Bewegens und Bewegtwerdens zwischen Naturphilosophie und Kunst
- Immersionen: Forcierungen des Einsehens zwischen Versenkung und Fesselung
- Suspensionen: Aufhebungen von Zeit und Körperlichkeit
- Rahmungen: Dispositive der Fokussierung und Distanzierung
- Schwellen: Brücken und Störungen der Rezeption
- Fluchtpunkte: Strategien der Perspektive
- Direktiven: Räumliche Anlagen und Strukturen der Wegführung
- Skalierungen: Spielarten der Formatierung und Detaillierung
- Kontraktionen: Verschränkungen durch Gesten und Blickbeziehungen
- Werkstoffe: Reiz und Irritation von Material- und Oberflächenqualitäten
- Techniken: Praktiken und Theorien der Zurichtung und Hervorbringung
Einreichungen für einen Vortrag können auf Deutsch oder Englisch erfolgen. Ein passives Verständnis beider Sprachen wird vorausgesetzt. Besonders willkommen sind auch Beiträge, die eine inter- oder transdisziplinäre Perspektive auf die »Zugkräfte« und ihre ästhetischen Artikulationen einbringen.
Neben einem eröffnenden Abendvortrag am 6. Mai im Warburg-Haus Hamburg sowie den einzelnen Beiträgen, die über mehrere Sektionen verteilt am 7. und 8. Mai im Seminarraum der DFG-Kolleg-Forschungsgruppe »Imaginarien der Kraft« vorgestellt werden, bietet das Workshop-Format ausreichend Zeit für intensiven Austausch, auf Wunsch auch Raum für Lektürediskussionen.
Geplant ist zudem eine Besichtigung der Bibliotheca Christianei. Dort werden wir gemeinsam eine illustrierte Handschrift der Divina Commedia (sog. Codex Altonensis; ab ca. 1360) sowie von Boccaccios Filostrato (um 1360) begutachten.
Bitte senden Sie Ihre Beitragsvorschläge mit einem max. 1-seitigen Abstract und dem Stichwort »Zugkräfte« in der Betreffzeile bis zum 15. Dezember 2025 an die E-Mail-Adresse: imaginarien.der.kraftuni-hamburg.de
Die Kosten für die An- und Abreise sowie die Unterkunft am 6. und 7. Mai können vom Veranstalter übernommen werden.
Kontakt:
DFG-Kolleg-Forschungsgruppe »Imaginarien der Kraft«
Gorch-Fock-Wall 3, 1. Stock (links)
D-20354 Hamburg
E-Mail: imaginarien.der.kraftuni-hamburg.de
Website: www.imaginarien-der-kraft.uni-hamburg.de
Organisiert von Wolf-Dietrich Löhr und Gerd Micheluzzi.
[English version]
»Tractive Forces«.
Potentials of Art in the Trecento.
Workshop of the DFG-Centre for Advanced Studies »Imaginaria of Force«.
Pull, draw, attract, and captivate. The question of »tractive forces« in fourteenth-century Italian art has so far received only limited scholarly attention. Yet these forces illuminate qualities that allow us to examine production processes, materiality, and mediality, as well as motifs and their beholders, in their physical, metaphysical, technical, and aesthetic dimensions. It is not by chance, we hypothesise, that Francesco Petrarca speaks of a “force” (vis) in his Remedies for Fortune Fair and Foul (De remediis utriusque fortunae, 1350–1366) to warn his readers of the power of art – its capacity to make beholders “cling” (inhaere) to paintings and even to “capture” (capere) their intellect.
The workshop takes such »tractive forces« in an expanded sense as its point of departure, bringing art-historical analyses into dialogue with approaches from the history of science, literature, and philosophy. How are »tractive forces« modelled in Trecento works of art? Are they primarily derived from iconographic sources, or do they reveal a particular interest in tracing visible and invisible chains of effect? To what extent does this perspective allow us to consider works of art in relation to their reception? What visual strategies and technical procedures are adopted, refined, or developed to depict and generate pull and attraction? What roles do architectures, frames, and other devices (such as curtains, parapets, and grilles) play in the dynamics of attraction and distancing? Which literary, rhetorical, natural-philosophical, or moral-theological considerations underlie these dynamics?»Tractive forces« (lat. trahere; ital. trarre, tirare, etc.) refer, in the Aristotelian sense, first of all to a physical movement compelled by direct external force – “motion from something else to oneself or to something else […].” (Physics 244a) As such, »tractive forces« appear in the Trecento across a wide range of motifs: the pulling of carts, the drawing out of nails, the gentle tug or violent tearing at garments or hair, and in the form of pulleys of all kinds. Giotto’s frescoes in the Cappella degli Scrovegni (c. 1303–1307), Altichiero’s Miracle of St Lucy and the Bulls (c. 1379–1384), or the two wooden forearms mounted on a crossbeam in the Sala del Mappamondo of Siena’s Palazzo Pubblico, by means of which lamps could be raised before Simone Martini’s Maestà, are by no means the only examples in which »tractive forces«, in differing variations and intensities, are brought prominently into view.
Beyond mechanical force, however, »tractive forces« in the fourteenth century also encompass dynamics that manifest without direct contact between mover and moved. The key term here is »attraction« (lat. attractio, allicere, etc.). As such, it has left traces not only in scholastic treatises on natural philosophy – appearing, for example, in discussions of magnetism, gravitation, optics, magic, and alchemy. It also recurs as a literary motif in various texts of the fourteenth century. For instance, in Purgatorio XXXII of the Divina Commedia (c. 1307–1321), Dante Alighieri recounts how Beatrice’s “holy smile” attracts (a sé traéli) the gaze of his alter ego so powerfully that turning away is possible only at the forceful call (con forza) of the Virtues: “Too fixedly!” (Troppo fiso!)
In Trecento art, »attraction« can likewise be situated within the tension between admiration and moral-theological critique. At times condemned as “lust of the eyes”, at others praised as an expression of artistic discernment, the gaze – and with it the beholder – enters into a dialogue with the form and finish of the artwork, its materiality and scale, and ultimately with the artists and their technical capacities. In this context, the “ritratto” may be mentioned as a literal “drawing out” or “pulling forth” (lat. protrahere) from nature, from a model, or from memory. One might also think, among other things, of artistic details and small-scale formats that force beholders to move closer in order to engage with them.
The focus on »tractive forces« opens up new ways of engaging with Trecento art and the phenomena underlying it across diverse thematic and disciplinary perspectives.
Contributions to the workshop should address one of the following topics:
- Attractions: imaginaria of moving and being moved between natural philosophy and art
- Immersions: intensifications of gaze between absorption and captivation
- Suspensions: withdrawal of time and corporeality
- Framings: arrangements of focusing and distancing
- Thresholds: bridges to and disturbances of reception
- Vanishing points: strategies of perspective
- Directives: spatial configurations and structures of guidance
- Scalings: modes of formatting and detailing
- Contractions: entanglements through gesture and gaze
- Materials: allure and irritation of material and surface qualities
- Techniques: practices and theories of preparation and creation
Submissions for a paper may be in German or English; passive comprehension of both languages is expected. We particularly welcome contributions that adopt an inter- or transdisciplinary perspective on »tractive forces« and their aesthetic articulations.
In addition to an opening evening lecture on 6 May at the Warburg-Haus Hamburg and the individual papers presented across several sections on 7 and 8 May in the seminar room of the DFG-Centre for Advanced Studies »Imaginaria of Force«, the workshop will allow ample time for discussion and exchange, and – if desired – for collective reading sessions.
An excursion to the Bibliotheca Christianei is also planned, during which we will jointly examine an illustrated manuscript of the Divina Commedia (the so-called Codex Altonensis, c. 1360) and Boccaccio’s Filostrato (c. 1360).
Please send your proposals, including an abstract of no more than one page and the keyword ‘Tractive Forces’ in the subject line, by 15 December 2025 to: imaginarien.der.kraftuni-hamburg.de
The cost of travel and accommodation can be covered by the organisers.
Contact:
DFG-Centre for Advanced Studies »Imaginaria of Force«
Gorch-Fock-Wall 3, 1st floor (on the left)
D-20354 Hamburg
E-Mail: imaginarien.der.kraftuni-hamburg.de
Website: www.imaginarien-der-kraft.uni-hamburg.de
Organised by Wolf-Dietrich Löhr and Gerd Micheluzzi
Quellennachweis:
CFP: Tractive Forces. Potentials of Art in the Trecento (Hamburg, 6-8 May 26). In: ArtHist.net, 10.11.2025. Letzter Zugriff 12.11.2025. <https://arthist.net/archive/51107>.