Gerechte Gewalt? Moralische Ambivalenzen in der Kunst der Frühen Neuzeit.
[English below] [updated Jun 24, 2025]
Die Frage, wann Gewalt moralisch verwerflich ist und unter welchen Bedingungen sie sich rechtfertigen lässt, ist gegenwärtig hochaktuell. Gleichzeitig erfordert sie eine kritische Reflexion und historische Perspektivierung – zu beiden soll der an der Biblioteca Hertziana-Max-Planck-Institut in Rom und der DFG-Kolleg-Forschungsgruppe 'Imaginarien der Kraft' an der Universität Hamburg veranstaltete Workshop einen Beitrag leisten. Ziel ist es, die vielfältigen Darstellungsstrategien zu untersuchen, mit denen Gewalt in der Frühen Neuzeit (14. – 18. Jh.) legitimiert, kritisiert oder ambivalent inszeniert wurde. In vormodernen Diskursen unterlag die moralische Bewertung von Gewalt komplexen Differenzierungen und war keineswegs pauschal verwerflich. Vielmehr war entscheidend, warum Gewalt ausgeübt wurde und gegen wen sie sich richtete. Dante zum Beispiel verortet in der Divina Commedia die Gewalttätigen (violenti) im siebten Kreis der Hölle, doch liegt die Sünde für ihn nicht im Gewaltakt als solchem, sondern in der Absicht und Bosheit der Ausführenden begründet. Deutlich zugespitzt findet sich dieser Aspekt bei Machiavelli, der unmoralisches Handeln als Herrschertugend umdeutet, solange es ‚höheren Zielen‘ diene: Mittels eines an die Kraft (vis) gebundenen Tugendmodells (virtus/virtù) wird Gewalt hier als Durchsetzungsfähigkeit legitimiert, z.B. gegenüber Neidern, zu deren Tötung Machiavelli den „guten und weisen Mann“ explizit animiert. Mit der Aufklärung erhält der Blick auf Gewalt nochmal eine neue moralphilosophische Rahmung, die im Licht von Vernunft, Freiheit und Autonomie beurteilt wird: Denker wie Rousseau begreifen Gewalt nun pauschal als Widerspruch zur menschlichen Natur und zur Idee einer zivilisierten Gesellschaft; für andere bleibt sie hingegen ein notwendiges Übel – etwa in der Strafjustiz oder in revolutionären Umbrüchen.
Die Kunst scheint gerade an diese Uneindeutigkeit moralischer Urteile anzuknüpfen und den schmalen Grat zwischen Gewalt und Macht, Tugend und Unrecht auszuloten. Künstler:innen der Frühen Neuzeit stellen Gewalt nicht nur dar, sondern entwickeln Bildstrategien, die die vielschichtigen moralischen Dimensionen von Gewalt reflektieren. So kann beispielsweise selbst Caritas, Sinnbild der Liebe Gottes, als gewalttätige Personifikation auftreten und in Tugendkreuzigungsdarstellungen den Leib Christi mit einem Dolch verwunden. Und obgleich Judiths Sieg im Kampf gegen Holofernes traditionell als Triumph des Guten über das Böse gilt, bringen in der Nachfolge Caravaggios Künstler:innen wie Artemisia Gentileschi, Peter Paul Rubens oder Adam Elsheimer gerade durch die Darstellung roher Brutalität die moralische Rechtfertigung der Tat an ihre Grenzen. Analoge Bedeutungsverschiebungen und Akzentuierungen lassen sich in den künstlerischen Ausdeutungen zahlloser weiterer biblischer Erzählungen, von Mythen wie auch Personifikationen beobachten - Darstellungen, denen jedoch stets auch Bilder gegenüberstehen, die umgekehrt gerade Gewaltlosigkeit und eine stoische Haltung als Zeichen des Triumphs und von moralischer Überlegenheit feiern. Eine weitere Dimension eröffnet sich bei Inszenierungen von Gewalt gegen die Natur oder Tiere. Die künstlerische Auseinandersetzung öffnet in diesem Zusammenhang den Blick auf moralische Ordnungen jenseits des Zwischenmenschlichen und wirft Fragen nach der Rolle des Menschen in der Schöpfung, nach Verantwortung und nach der Grenze zwischen Legitimität und Grausamkeit auf. Und schließlich gilt es das gewaltvolle Potential von Kunstwerken selbst mit einzubeziehen, etwa in Form visueller Überwältigungsstrategien, und die Frage, inwieweit dieses im Untersuchungszeitraum nicht nur reflektiert, sondern auch moralischen Bewertungen unterzogen wurde.
Der Workshop untersucht vor dem Hintergrund des skizzierten Spannungsfeldes moralischer und rechtlicher Beurteilungen das Verhältnis von Gewalt und Moral in der frühneuzeitlichen Kunst und Kunsttheorie. Wo beginnt aus vormoderner Sicht gerechte Gewalt und wo kippt sie ins Unrecht? Wie wird diese Grenze in den Künsten visualisiert bzw. reflektiert? Welche Vorstellungen von Moral lassen sich aus Inszenierungen der Gewalt im Bild herauslesen und welche Normen und Anschauungen von Gerechtigkeit? Inwiefern reflektieren Künstlerinnen und Künstler der Frühen Neuzeit Gewalt kritisch? Und wann führen sie sie als ambivalentes Phänomen vor, das zwischen Zerstörung und Erneuerung, Macht und Ohnmacht, Rechtfertigung und Grausamkeit, Tugend und Laster oszilliert?
Der Workshop wird in zwei Teilen stattfinden, die jeweils unterschiedliche Perspektiven auf das Verhältnis von Gewalt und Moral in der Kunst der Frühen Neuzeit eröffnen. Der erste Teil findet am 11.12. 2025 in der Bibliotheca Hertziana – Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte in Rom statt, mit Fokus auf den Wechselwirkungen zwischen künstlerischer Praxis und theologisch-moralischen, politischen und juristischen Diskursen. Teil zwei wird am 22.01. 2026 in der DFG-Kolleg-Forschungsgruppe 'Imaginarien der Kraft' in Hamburg stattfinden. Der Schwerpunkt wird hier auf der Frage liegen, wie Gewalt in Verbindung mit Vorstellungen von Stärke, Durchsetzungsfähigkeit und Herrschaftskraft verhandelt wird. Die Veranstaltung ist als zusammenhängender Workshop konzipiert, bei dem die Teilnahme an beiden Teilen vorgesehen ist.
Wir bitten um Vorschläge für Vorträge von 20 Minuten (Abstracts von 300-500 Wörtern und kurzen Lebenslauf), einzureichen bis 30.6.2025 auf: https://recruitment.biblhertz.it/position/17924101: Doktorand:innen sind ausdrücklich eingeladen, sich zu bewerben.
Kontakt:
Franca Buss (franca.bussuni-hamburg.de)
Jana Graul (jana.grauluni-hamburg.de)
Anna Magnago Lampugnani (anna.magnagolampugnanibiblhertz.it)
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[English version]
Righteous Violence? Moral Ambivalence in Early Modern Art.
The question of when violence is morally reprehensible and under what conditions it can be justified is a pressing issue in contemporary humanistic discourses. It is a topic that necessitates critical reflection and historical perspective, both of which this workshop, which will take place at the Bibliotheca Hertziana, Max-Planck-Institut in Rome and at DFG Research Group Imaginaria of Force, endeavors to provide. The aim is to examine the diverse strategies used to legitimize, criticize, or ambivalently portray violence in the early modern period (14th–18th centuries). In premodern discourse, the moral evaluation of violence was subject to complex differentiations and was by no means universally reprehensible. Rather, the decisive factor in determining the morality of violence was why violence was used and against whom it was directed. Dante, for example, places the violent (violenti) in the seventh circle of hell in his Divina Commedia, but for him the sin lies not in the act of violence as such, but in the intention and malice of the perpetrators. This aspect later comes to be exaggerated in Machiavelli, who reinterprets immoral actions as virtues of rulers as long as they serve 'higher goals': By means of a model of virtue (virtus/virtù) linked to power (vis), violence is legitimized as the ability to assert oneself, e.g. against envious people, whom Machiavelli explicitly encourages the “good and wise man” to kill. During the Enlightenment, the view of violence was given a new moral-philosophical framework, which was judged in the light of reason, freedom, and autonomy. Thinkers such as Rousseau now understood violence as going against human nature and the idea of a civilized society. For others, however, it remained a necessary evil—for example, in criminal justice or revolutionary upheavals.
Art seems to draw on this ambiguity of moral judgments, exploring the fine line between violence and power, virtue and injustice. Early modern artists not only depicted violence, but also developed visual strategies that reflect the complex moral dimensions of violence. For instance, even Caritas, the symbol of God's love, was rendered at times as a violent personification, piercing the body of Christ with a dagger in depictions of the Crucifixion. And although Judith's victory over Holofernes is traditionally seen as the triumph of good over evil, artists following in Caravaggio's footsteps, such as Artemisia Gentileschi, Peter Paul Rubens, and Adam Elsheimer, push the moral justification of the act to its limits precisely by depicting raw brutality. Analogous shifts in meaning and emphasis can be observed in artistic interpretations of countless other biblical narratives, myths, and personifications – depictions that are always countered by images that celebrate nonviolence and stoicism as signs of triumph and moral superiority. Yet another aspect of this discourse emerges when considering representations of violence against nature or animals. In this context, artistic depictions uncover a view of moral imperatives beyond the interpersonal, raising questions about man's role in creation, personal responsibility, and the boundary between violence that is justified and pure cruelty. Finally, we cannot discount the violent potential of artworks themselves, for example as visual strategies to overpower the viewer, which can also be examined from the point of view of its period reception in how it was both actively reflected upon and subjected to moral evaluation.
Against the backdrop of the tension between moral and legal judgments outlined above, the workshop will examine the relationship between violence and morality in early modern art and art theory. From a premodern perspective, where does just violence begin and where does it tip over into injustice? How is this boundary visualized or reflected in art? What notions and norms of morality and justice can be gleaned from representations of violence in images? To what extent did early modern artists critically reflect on violence? And when do they present it as an ambivalent phenomenon, oscillating between destruction and renewal, power and powerlessness, justification and cruelty, virtue and vice?
The workshop will take place in two parts, each offering different perspectives on the relationship between violence and morality in early modern art. The first part will take place on December 11, 2025 at the Bibliotheca Hertziana - Max Planck Institute for Art History in Rome and will focus on the interactions between artistic practice and theological, moral, political and legal discourses. The second part will take place on January 22, 2026 at the DFG Research Group Imaginaria of Force in Hamburg. The focus here will be on how violence is negotiated in connection with notions of strength, assertiveness, and power. The event is designed as a coherent workshop, with participants expected to take part in both Hamburg and Rome.
We invite proposals for presentations of 20 minutes (abstracts of 300-500 words and short CV), to be submitted by 30 June 2025 via the following link: https://recruitment.biblhertz.it/position/17924101: We especially encourage PhD students to apply.
Contact:
Franca Buss (franca.bussuni-hamburg.de)
Jana Graul (jana.grauluni-hamburg.de)
Anna Magnago Lampugnani (anna.magnagolampugnanibiblhertz.it)
Quellennachweis:
CFP: Gerechte Gewalt? (Rom/Hamburg, 11 Dec 25-22 Jan 26). In: ArtHist.net, 02.06.2025. Letzter Zugriff 01.07.2025. <https://arthist.net/archive/49412>.