Heterogenität, Diversität, Anderssein erhitzen aktuell in identitätspolitischen Auseinandersetzungen die Gemüter. Doch neu scheinen Thematik und Problematik nicht zu sein, nur eine gendertheoretische Zuspitzung ist hinzugekommen. Liest man Philosophinnen, so fällt auf, dass Anderssein, Fremdheit und Differenz übergreifende Themenschwerpunkte in den Schriften von Philosophinnen sind. Da es zugleich genuin philosophische Themen sind, erscheint es überaus sinnvoll, eine darauf fokussierte Relektüre von Philosophinnen zu betreiben. Dabei zeigen sich kritische Reflexionen von traditionell patriarchalischen Zuweisungen an das Andere ebenso wie neue Betrachtungsweisen und Versuche, Anderssein freizusetzen.
„Die Geschichte der Philosophie ist phallogozentrisch“ (Jacques Derrida). Obwohl das Denken von Frauen in der Geschichte immer wieder eingebracht wurde und auch einwirkte, fand es lange Zeit keine philosophiegeschichtliche Berücksichtigung. Männlich konnotierte Schlüsselkonzepte fungierten und fungieren immer noch vorrangig als normativer Maßstab für andere Welterfahrungen und deren Ausdrucksweisen. Damit verbunden sind Auslegungen des Anderen, auch eine epistemologische Strategie der Auslegung von Frauen als „das andere Geschlecht“ (Simone de Beauvoir). Doch wie wird das Andere des anderen Geschlechtes verstanden und wie äußert sich das „andere Geschlecht“ selbst dazu?
Simone de Beauvoir, Luce Irigaray oder Julia Kristeva haben verdeutlicht, dass es stets das Selbe nur anders gedacht ist, das Andersartigkeit aus männlicher Perspektive von Platon bis Freud und Lacan definiert. Die „phallogozentrische“ Philosophiegeschichte, nach der Platon das griechische Substantiv ἑτερότης (Andersheit, lat. alteritas; engl. otherness; frz. différence / auch Verschiedenheit, lat. diversitas; engl. diversity; frz. diversité) im Kontext seiner Ideenphilosophie einbrachte, umgeht diese Andersartigkeit identitätslogisch, denn der Grund für das Andersartige wird nicht im Andersseienden, sondern in der graduell unterschiedlichen Teilhabe an einer Idee gesucht.
Mit anderer Aufmerksamkeit leisten Philosophinnen eine Decouvrierungsarbeit, wenn sie das Andere, Fremde, Rätselhafte als das in patriarchalen Kulturen und Gesellschaften Verdrängte reflektieren. Derart treten die Schauplätze des Unbewussten, das „Fremde in uns“ (Julia Kristeva) ebenso in den Fokus wie ein zumeist ausgeschlossenes Gefühlswissen (Susanne K. Langer oder Ágnes Heller). Dadurch zeigt sich „mehr Körper und deshalb mehr Schrift“ (Hélène Cixous), mehr Traum und deshalb mehr Kunst, lässt sich mit Rücksicht auf „die Kindheit der Kunst“ (Sara Kofman) hinzufügen. Ein „präsentativer Symbolismus“ (Susanne K. Langer) wird im Diskursfeld von Philosophinnen einbedacht und in den Künsten vielfältig erkennbar. Eine tiefere Beschäftigung und Wechselwirkung mit den Künsten erweist sich bei vielen Philosophinnen als grundlegend.
Die Fragestellung des Symposions bedarf insofern der Ergänzung. Wie anders äußern sich Künstlerinnen von Lotte Laserstein bis Tomma Abts, von Käthe Kollwitz bis Rita McBride, von Katharina Sieverding bis Jorinde Voigt, von Nan Hoover bis Hito Steyerl, von Mary Wigman bis Anne Teresa De Keersmaeker, von Luna Alcalay bis Olga Neuwirth, von Emily Dickinson bis Elfriede Jelinek usw. usw.?
Mit Aufgeschlossenheit für Anderssein in vielfältiger Eigenart werden auch andere „Schreibweisen“ erprobt, die der Dichtung, Literatur und anderen Künsten nahestehen und andere Vorstellungswelten versinnlichen. „Die Vorstellungswelt der Frauen ist unerschöpflich, wie Musik, Malerei, Schrift: (…)“ (Hélène Cixous).
Zugleich entstanden und entstehen andere Konzepte von „Philosophieren. Wider Theorie und Begründungszwang“ (Ute Guzzoni) im Diskursfeld von Philosophinnen, die versprechen, auch aktuell politisch relevant zu sein.
„Ein bisher verkannter Teil unserer Wahrheit kann uns dank der anderen erscheinen, wenn wir akzeptieren, unseren eigenen Horizont ein wenig zu öffnen, um den anderen als anderen wahr- und aufzunehmen, ohne ihn beherrschen, ihn kolonisieren oder in unsere Vergangenheit integrieren zu wollen.“ (Luce Irigaray).
Die „Solidarität“ (Karen Gloy) mit dem Anderen des Anderen, dem Fremden führt Philosophinnen auch in die Bereiche von Ethik und Politik. Schon Hannah Arendt setzt der traditionell bevorzugten „vita contemplativa“ ihren Entwurf einer „vita activa“ entgegen, in dem Natalität, immer wieder neu geboren zu werden, Menschen die Freiheit gibt, die Welt zu verändern. Zugleich verabschiedet sie sich von einem solipsistischen Cogito, betont die Existenz des Menschen nur in der Pluralität und ein multiperspektivisches Denken aus Erfahrung. Corine Pelluchon richtet eine Philosophie des Genusses gegen dominante Mangeltheorien, will ebenfalls die Existenz des Menschen nicht mehr – wie traditionell vorrangig – vom endlichen Dasein aus, sondern vom Geborensein verstehen, wodurch die „Dimension der Intersubjektivität“ grundlegend wird. Zugleich nimmt sie eine Umwertung eines weiteren Zentralbegriffs der Philosophie vor. „Geschmack“ interessiert weniger als Vermögen zur reflektierten Beurteilung, sondern der „Geschmackssinn als Empfindungs- und Beziehungsorgan“. Mit einer „Phänomenologie der Nahrung“ reagiert sie auf ökologische Gegenwartsprobleme. Sie stellt nicht die traditionellen Fragen nach dem Warum oder Wozu, sondern die Frage danach „Wovon wir leben“ steht im Zentrum ihrer Reflexionen.
Diese vielfältigen Perspektivenwechsel, die Philosophinnen uns eröffnen, stehen ebenso im Zentrum der Zusammenkunft wie die vielfältigen künstlerischen Versinnlichungen von Anderssein, die Künstlerinnen einbringen.
Die interdisziplinäre Zusammenkunft geht mit Rekurs auf Philosophinnen und Künstlerinnen der Frage nach, wie anders hier Anderssein / Andersheit verstanden und versinnlicht wird. Es geht dabei jedoch nicht um Gegensätze der Geschlechter, denn differenzorientierte Philosophen (von den Vorsokratikern über Leibniz, Nietzsche bis Merleau-Ponty, Deleuze oder Derrida etc.) oder Künstler wie Lautréamont, Joyce oder Duchamp haben die Freisetzung und Behauptung von Anderssein ihrerseits vorangetrieben. „Das Anderssein ist das Anderssein des Einen wie des Anderen. Es wahrt, gerade indem es dem Einen wie dem Anderen zukommt, das Eigensein der Einzelnen“ (Ute Guzzoni). Mit Fokus auf Philosophinnen und Künstlerinnen gilt es, abseits neuer ideologischer Tendenzen um Differenziertheit bemüht zu sein, aber zugleich den Ansatz von Philosophinnen aufzugreifen, um Anderssein differenzlogisch zu denken, was auch aktuell politisch relevant zu sein verspricht. (Petra Maria Meyer)
Freitag, 20.09.2024
15:00 Uhr Dr. Arne Zerbst: Grußwort des Präsidenten der Muthesius Kunsthochschule
15:15 Uhr Prof. Dr. Petra Maria Meyer: Wie anders? Einführung in die Thematik und Programmgestaltung des Symposions
16:00 Uhr Prof. Dr. Dirk Westerkamp: Ästhetische Wahrheit. Bedeutung, Form und Fühlen in Susanne K. Langers Philosophie der Kunst
17:30 Uhr Dr. Astrid von der Lühe: Ein anderes Verhältnis zur Welt. Corine Pelluchons Projekt einer neuen Aufklärung
Sonnabend, 21.9.2024
10:00 Uhr Prof. Dr. Elisabeth Oy-Marra: Eine Bildsprache der Liebe? Jorinde Voigts Words and Views
11:30 Uhr
Dr. des. Maike Mastaglio: "Impossible to fix" – Maria Martins / Maríee
15:00 Uhr Dr. Sabine Kock: Hélène Cicoux – Vergiß dich nicht, vergiß nicht das/die Andere/n
16:30 Uhr Dr. Barbara Uppenkamp: Mit den Augen einer Katze: Das intelligible Bestiarium der Sarah Kofman
18:00 Uhr Prof. Dr. i. R. Martin Zenck: »Selbstsein /Andersheit und das Abjekthafte«. Überlegungen und Annäherungen an die Musik von Chaya Czernowin mit besonderem Blick und Ohr auf das Orchesterwerk The Fabrication of Light und die Opern Zaïde/Adama,
Infinite Now (2017) und Heart Chamber (2019)
Sonntag, 22.9.2024
10:00 Uhr Dr. Monika Boll: Politik und Identität im Denken Hannah Arendts
11:30 Uhr Dipl.Des. Heidi Krautwald: DDR-Frauen fotografierten anders
Reference:
CONF: Wie anders? Philosophinnen und Künstlerinnen (Kiel, 20-22 Sep 24). In: ArtHist.net, Sep 15, 2024 (accessed Dec 27, 2024), <https://arthist.net/archive/42613>.