[English version below]
weissensee kunsthochschule berlin / Universität Siegen
Gefördert durch den DFG–Sonderforschungsbereich 1472 „Transformationen des Populären“
Kunstgeschichte als Geschenk
In der Novelle Ein Bild des Schriftstellers Friedrich Brunhold, die 1863 in der Gartenlaube erscheint, wird einer jungen Frau aus armer Familie zu Weihnachten „ein prächtiges Murillo-Album“ auf den Gabentisch gelegt. In dem Geschenk eines Verehrers wird man ein Produkt des Photographischen Kunst- und Verlags-Instituts Gustav Schauer vermuten dürfen. Die Firma gab zu der Zeit einen „Kunsthistorischen Cyclus“ heraus, deren Alben zu „Rafael, Murillo, da Vinci und Correggio“ schon 1860 im Börsenblatt für den deutschen Buchhandel als weihnachtliche „Fest-Geschenke“ angepriesen wurden.[1]
Am 24. Dezember 1897 überrascht der Kunsthistoriker Ernst Steinmann den Ersten Sekretär des Deutschen Archäologischen Instituts in Rom, Eugen Petersen, mit einer Fotografie Domenico Andersons. Abgebildet ist der Moses Michelangelos. Die Ehefrau, Ina Petersen, erhält eine große Aufnahme von Raffaels Parnass. Die Reproduktionen sind mit einigem Bedacht gewählt und zuerst einmal auf die vermeintlichen Vorlieben der Adressat:innen ausgerichtet, doch lässt sich der Moses auch auf das sehr intime Verhältnis beziehen, das Steinmann in jenen Jahren mit Eugen Petersen zu unterhalten versucht.[2]
In seinem 2006 erschienenen autobiografischen Text Beim Häuten der Zwiebel schildert Günter Grass zu Beginn seine kindliche Leidenschaft für kunsthistorische Zigaretten-Sammelbilder. Sie gaben noch vor dem Zweiten Weltkrieg die Meisterwerke der europäischen Malerei in farbigen Reproduktionen wieder, anhand denen Grass lernte, „die Namen der Künstler Giorgione, Mantegna, Botticelli, Ghirlandaio und Caravaggio falsch auszusprechen“. Die Alben, in denen die Bilder einzukleben waren, kamen vom Zigaretten-Bilderdienst Hamburg-Bahrenfeld und waren, so vermutet Grass, „Weihnachts- oder Geburtstagsgeschenke“.[3]
Die geplante Tagung möchte anhand aussagekräftiger Fallbeispiele Praktiken einer bisher kaum beachteten Form populärer Kunstvermittlung untersuchen. Es wird dabei von der These ausgegangen, dass kunsthistorische Inhalte um und nach 1900 erst durch die technischen Entwicklungen der Reproduktions- und Druckindustrie zum Gegenstand einer sich schnell etablierenden Geschenkkultur breiter Schichten werden können. Das bezieht sich auf Reproduktionen aller Art, etwa solche, die in Einzelbildern, in Galerie- und Mappenwerken angeboten, aber auch auf solche, die in stark bebilderten Monographien, Einführungs- oder Überblickswerken vermarktet werden. Von besonderem Interesse sind die Werbestrategien der einschlägigen Verlagsanstalten (Bruckmann, Seemann, etc.), aber auch die Zusammenhänge, mit denen versucht wird, die Popularisierung und Proliferation von Bildern für die Vielen zu begründen und gegen Kritik in Schutz zu nehmen (unmittelbare Anschauung, Einfühlung, Kunstgenuss, etc.). Hinter den offenkundigen Bildungsidealen wirken allerdings auch handfeste kommerzielle Interessen der verschiedenen Akteure, Interessen sowohl der Verlagsanstalten wie auch der Museen selbst. In den vielen Angebotsformaten heutiger Museums-Shops spiegelt sich eben auch die Aufwertung des Massenprodukts Reproduktion gegenüber dem originalen Kunstwerk. Die Praxis, kunsthistorische Inhalte zu verschenken, scheint dabei besonders durch gesellschaftliche Dynamiken bestimmt zu sein. Diese wären nicht nur in jedem einzelnen Fall zu analysieren, sondern sollen auf der Tagung auch auf ihre kulturellen, sozialen, geschlechtsspezifischen, ökonomischen und politischen Dimensionen hin befragt werden und das aus möglichst interdisziplinärer Perspektive.
Organisiert von Joseph Imorde (weissensee kunsthochschule berlin), Mirja Beck (weissensee kunsthochschule berlin) und Franziska Lampe (Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München)
Vorschläge für 30-minütige Vorträge werden bis zum 30. Juni erbeten an: imordekh-berlin.de; mirja.beckuni-siegen.de; F.Lampezikg.eu
[1] Friedrich Brunhold (d. i. August Ferdinand Meyer), Ein Bild. Novelle, in: Gartenlaube (1863), S. 321–324, S. 337–340, hier S. 323.
[2] MGP-Archiv III. Abteilung Rep. 63 Nr. 35 (16. Juni 1894–5. Dezember 1909), 25r.
[3] Günter Grass, Beim Häuten der Zwiebel. Göttingen: Steidl Verlag 2006, S. 11 und S. 13.
-----
[English version]
Art History as a Gift
In the short story Ein Bild by the writer Friedrich Brunhold, which appeared in the magazine Gartenlaube in 1863, a young woman from a poor family is given "a magnificent Murillo album" for Christmas. The gift from an admirer is thought to be a product of the Photographisches Kunst- und Verlags-Institut Gustav Schauer. At the time, the company was publishing an "Kunsthistorischer Cyclus", whose albums on "Rafael, Murillo, da Vinci and Correggio" were advertised as "Christmas gifts" in the Börsenblatt für den deutschen Buchhandel as early as 1860.
On December 24, 1897, the art historian Ernst Steinmann surprised the First Secretary of the German Archaeological Institute in Rome, Eugen Petersen, with a photograph by Domenico Anderson. The picture shows Michelangelo's Moses. His wife, Ina Petersen, receives a large photograph of Raphael's Parnassus. The reproductions are chosen with care and are initially geared towards the supposed preferences of the addressees, but the Moses can also be related to the very intimate relationship that Steinmann tried to maintain with Eugen Petersen in those years.
In his autobiographical text Beim Häuten der Zwiebel, published in 2006, Günter Grass begins by describing his childhood passion for art-historical collectible pictures from cigarette packets. Even before the Second World War, they reproduced the masterpieces of European painting in color, from which Grass "learned to mispronounce the names of the artists Giorgione, Mantegna, Botticelli, Ghirlandaio, and Caravaggio". The albums in which the pictures were to be glued came from the Hamburg-Bahrenfeld cigarette picture service and were, Grass assumes, "Christmas or birthday presents".
Through significant case studies, the planned conference wants to examine practices of a form of popular art communication that has received little attention to date. It is based on the assumption that art historical content around and after 1900 could only become the object of a rapidly establishing gift culture among broad sections of the population thanks to the technical developments of the reproduction and printing industry. This refers to reproductions of all kinds, such as those offered in individual pictures, in gallery and portfolio works, but also to those marketed in heavily illustrated introductory or overview art historical works. Of particular interest are the marketing strategies of the relevant publishing houses (Bruckmann, Seemann, etc.), but also the contexts in which attempts are made to justify the popularization and proliferation of images for the many and to defend them against criticism (direct contemplation, empathy, enjoyment of art, etc.). Behind the obvious educational values, however, are the strong commercial interests of the various protagonists, whether publishing houses or the museums themselves. The many products offered in today's museum stores also reflect the revaluation of the reproduction as mass product in relation to the original work of art. However, the practice of giving away art historical content seems to be determined by social dynamics, as indicated in the examples mentioned above. These should not only be analyzed in each individual case but should also be questioned with regard to their cultural, social, genderspecific, economic and political dimensions.
Organised by Joseph Imorde (weissensee kunsthochschule berlin), Mirja Beck (weissensee kunsthochschule berlin) and Franziska Lampe (Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München)
Proposals for 30-minute presentations are requested by June 30 to imordekh-berlin.de;
mirja.beckuni-siegen.de; F.Lampezikg.eu
Quellennachweis:
CFP: Kunstgeschichte als Geschenk. Art History as a Gift (Siegen, 6-9 Nov 24). In: ArtHist.net, 01.03.2024. Letzter Zugriff 29.04.2025. <https://arthist.net/archive/41349>.