CFP 12.12.2021

Archiv für Mediengeschichte 20: Das Schiff

Eingabeschluss : 30.04.2022

Mark Potocnik

Mediengeschichte als historiographische Praxis steht vor der Herausforderung gewandelter medientheoretischer Fragestellungen und Interessenslagen. Zurückgreifen kann eine solche Mediengeschichte auf Marshall McLuhan, der Medien nicht als Techniken und Technologien zur Speicherung und Verbreitung von Botschaften verstand, sondern als ermöglichende Umwelten oder gar als »Infrastrukturen des Seins« (John Durham Peters). Einerseits wird eine solche Art der Mediengeschichte Technologien auf ihre umwelterzeugenden, umwelttransformierenden und habitaterschaffenden Wirkungen hin untersuchen – Medien also im Sinne von Sørlin und Wormbs als »environing technologies« verstehen. Andererseits aber kann die alte Idee, dass Medien Umwelten sind, auch umgedreht werden: Umwelten sind Medien, und sie sind es umso mehr, je stärker die Ununterscheidbarkeit von Natur und Technologie zunimmt. Beide Ideen sind also tendenziell als zwei Seiten ein und derselben Medaille zu sehen. Wie weit diese Verflochtenheit von Medien als Umwelten und Umwelten als Medien historisch zurückreicht, was ihre Konvergenzbedingungen, Kristallisationspunkte, Antriebsmomente und Beschleunigungsphasen waren, dies herauszufinden ist Teil der genannten Herausforderung der Mediengeschichte. Schon das ho periéchon aër des Anaximenes, »das Umgebende«, antiker Vorläufer des Ambiente- und des Milieubegriffs, meinte ein Lebensformen ermöglichendes, aus Atmosphäre und spirituellen Eigenschaften bestehendes Umgebungsmedium.
Um die Möglichkeiten und Methoden von Mediengeschichten, die Medien als seinsermöglichende Infrastrukturen in den Blick nehmen, am Beispiel eines speziellen Artefakts auszuloten, wird sich die nächste Ausgabe des Archivs für Mediengeschichte dem Schiff widmen.

Selbstredend ist das Beispiel kein bloßes Beispiel. Denn wie das Schiff schon Sophokles als erste aller Kulturtechniken galt, mit denen der Mensch, dieses allerunheimlichste Wesen, sich die Erde, Gaia, untertan gemacht hat, so gilt es heute einer Philosophie der elementaren Medien als »arch-medium« (Peters), das heißt als Erz- oder Ur-Medium. Denn auf See kann nicht vergessen werden, dass die menschliche Existenz technisch basiert ist. Daher entnimmt der Mensch, der Landtreter, seine Daseinsmetaphern dem Meer, dem ihm fremden Element. Es soll also nicht darum gehen, die bereits zahlreich vorhandenen Geschichten der Schiffsarchitektur, der Navigationstechniken, der nationalen Flottenprogramme, des Seekriegs, der Piraterie, des Schiffs als Motiv in Literatur, Kunst und Film zu vermehren. Vielmehr erbitten die Herausgeber Beiträge, die das Schiff als Welten machendes Medium, als Generator und Transformator von Umwelten, von Sicht- und Sagbarkeiten und von Geschichte selbst thematisieren. Die im Folgenden umrissenen fünf Gegenstandsfelder können dabei vielleicht Orientierung geben:

Erstens kann das Schiff im buchstäblichen Sinne in seiner Rolle als »environing technology« untersucht werden. Damit sind jedoch nicht nur die landschaftsverändernden Auswirkungen des Schiffbaus (etwa die Abholzung Englands im 17. Jahrhundert) gemeint. Damit ist vor allem die Rolle gemeint, die bestimmte Schiffstypen, bestimmte Navigationstechniken, bestimmte ökonomische und militärische Strategien bei der Hervorbringung verschiedener ›Ontologien‹ des Meeres gespielt haben. Denn ohne Schiff gäbe es kein Meer. Was das Meer je und je historisch war, wird von den maritimen Infrastrukturen der (militärischen wie polizeilichen) Macht, der Ökonomie und des Wissens bestimmt. So kann heute z. B. gesagt werden, dass innerhalb der episteme der »mikrobialen Ozeanographie« Mikroben nicht einfach nur im Meer sind, sondern das Meer selbst sind (Stefan Helmreich). Und vielleicht wird eines Tages das Meer selbst verschwunden sein, verschwunden in einer gigantischen Datenbank.

Zweitens fungiert das Schiff als Teil einer Infrastruktur, von der es selbst auch wiederum abhängig ist. Das Interesse richtet sich hierbei einerseits auf die infrastrukturelle Konstitution von geographischen und Kulturräumen: Welche Infrastrukturen der Synchronisation von zeitlichen Rhythmen, von Transaktionen und von lokalem Wissen zum Beispiel erzeugen ein Konstrukt wie ›der Pazifik‹? Andererseits richtet sich das Interesse auf von in Logistik fundierten Herrschafts- und Ausbeutungssystemen. Harney und Moten etwa behaupten in The Undercommons, dass die moderne Logistik im atlantischen Sklavenhandel gründet. Und schließlich richtet sich das Interesse auf die infrastrukturell bedingte Transformation von Häfen in Ports und die damit einhergehende Umgestaltung ganzer Küstenstriche.

Im Zusammenhang damit ist das Schiff drittens Medium einer Geschichte der Globalisierung. So sehr allerdings einerseits »oceans remain the crucial space of globalization«, so sehr macht andererseits die Containerbox als Teil einer internationalen trägerunabhängigen Nachschubkette das Meer als Meer »somehow obsolete« (Sekula und Burch). Tatsächlich lässt sich das Schiff in vielfacher Hinsicht als Prototyp eines technischen Milieus verstehen, das den Planeten überzieht, aber die Erde nicht als das Andere dieses technischen Milieus bestimmt, sondern als ihr epistemisches Korrelat.

Viertens lässt sich nach den spezifischen ästhetischen Eigenschaften der maritimen Milieus fragen, die durch die unterschiedlichen Funktionen verschiedener Schiffstypen hervorgebracht werden. Hier wäre zum einen an die Repräsentationsfunktion von Kriegsschiffen zu denken, durch die das Schiff im 17. und 18. Jahrhundert insbesondere in den Niederlanden und England mit der Marinemalerei in eine Syntax verwoben wurde, durch die bestimmte politische Aussagen formulierbar waren. Es ließe sich aber auch fragen, ob nicht die unterschiedlichen Navigationstechniken, die in unterschiedlichen Küstenmilieus praktiziert wurden, unterschiedliche Malereistile bedingt haben. Gibt es einen Bezug zwischen der Navigation mittels Meeresbodenproben und dem für die Niederlande spezifischen Umgang mit Farbe? Schließlich wäre mit Virilio nach der spezifischen Ästhetik des Verschwindens zu fragen, die mit der Strategie der Fleet in being oder des Unterseebootes wirksam geworden ist.

Fünftens sollte es um das Schiff als Medium der Historiographie selbst gehen. Ökonomische wie munizipale bzw. staatliche Kontrolltechniken, in die die Seefahrt seit dem 13. Jahrhundert (mit dem Aufkommen der doppelten Buchhaltung) zunehmend eingebunden ist, sorgen dafür, dass Schiffe in den Häfen, die sie anlaufen, Aktenstöße produzieren. So konnte (worauf schon Foucault hinwies) Pierre Chaunu mithilfe der im Archivo General de Indias in Sevilla aufbewahrten Akten der Casa de la Contratación nicht weniger als eine neue Art der Historiographie erfinden: die für die Annales-Schule typische serielle Geschichtsschreibung. Das Ein- und Auslaufen der Schiffe produziert damit einen neuen, statistisch konstruierten Gegenstand der Geschichte, der sich nicht aus vorgegebenen Kategorien der Geschichtswissenschaft ergibt. Aber auch wenn sie auf dem Meer sind, hinterlassen Schiffe archivalische Spuren (man denke an das Amt des Bordschreibers, an Logbücher, Skizzenbücher und Schiffsjournale), die oft unterschiedlichste Darstellungsformen, Bild- und Textsorten auf einer Papierseite miteinander kombinieren.

Um die Einsendung von Themenvorschlägen einschließlich Abstracts (bis zu 2500 Zeichen) und Kurzbiographien an die Redaktion (mark.potocnikgmx.de) wird bis zum 30.04.2022 gebeten. Die ausgearbeiteten Beiträge (bis zu 30.000 Zeichen) sollen bis zum 31.08.2022 bei der Redaktion eingehen.

Die Herausgeber
(Friedrich Balke, Bernhard Siegert, Joseph Vogl)

Quellennachweis:
CFP: Archiv für Mediengeschichte 20: Das Schiff. In: ArtHist.net, 12.12.2021. Letzter Zugriff 20.04.2024. <https://arthist.net/archive/35525>.

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