CFP 14.09.2021

Tierstudien, 22/2022: Kohabitation, Koexistenz, Konvivialität

Eingabeschluss : 01.02.2022

Jessica Ullrich

Tierstudien, Ausgabe 22/2022
Herausgegeben von Jessica Ullrich

In der kommenden Ausgabe von Tierstudien wird es um Praktiken, Theorien und Visionen des Zusammenlebens der Arten gehen. Dabei soll das Miteinander- oder Beieinanderwohnen von Menschen und anderen Tieren und die Koexistenz unterschiedlicher Spezies in kulturellen Räumen im Fokus stehen. Alle Tiere richten sich auf ihre Art in der Welt ein und sind auf ihre Weise in ihr zuhause. Dies geschieht immer in relationalen Zusammenhängen. Sie lassen sich an Orten nieder, die nie ganz unbesetzt sind oder arrangieren sich in Räumen, die ihnen zugewiesen wurden. Das soziale Zusammenleben wird dann jeweils im gemeinsamen Wohnen organisiert.

Will Kymlicka und Sue Donaldson unterscheiden bekanntermaßen kategorial zwischen Haustieren, Wildtieren und sogenannten liminalen bzw. Grenzgängertieren. Aus deren unterschiedlicher Situiertheit in Bezug auf den Menschen leiten sie unterschiedliche Wohn-, Bleibe- und Aufenthaltsrechte ab. Ausgehend von dieser Unterscheidung und nachdem es vor einigen Jahren bereits eine Tierstudien-Ausgabe zu Wildtieren gegeben hat, sollen diesmal vor allem domestizierte Tiere und Kulturfolger:innen im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Diese Tiere leben mit Menschen gezwungenermaßen oder freiwillig auf problematische oder auch auf gelingende Art und Weise in geteilten Räumen zusammen. Auch wenn die Stadt oft als ausschließlich menschlicher Raum imaginiert wird, waren Tiere immer schon Teil eines gemeinsam konstituierten urbanen Umfelds. Das wird zunehmend in der Stadt- und Freiraumplanung und in Architekturprojekten, teilweise unter dem Stichwort Animal Aided Design, berücksichtigt. Künstlerische Projekte aller Sparten entwerfen kreative Möglichkeiten eines solidarischeren Zusammenlebens der Arten und auch in philosophischen, politik- und gesellschaftswissenschaftlichen, theologischen sowie juristischen Diskursen spielt eine gerechte Koexistenz von Menschen und anderen Tieren vermehrt eine Rolle. 2021 etwa trägt dieser Entwicklung u.a. die Ausstellung und Veranstaltungsreihe Co-Habitation im Kunstraum Innsbruck und im Silent Green Berlin, das Thema der Architektur-Biennale von Venedig „How will we live together?“ sowie die interdisziplinäre und internationale Konferenz Togetherness of all Species im tak Theater Aufbau Kreuzberg Rechnung.

Für die Diskussion des Zusammenlebens der Arten sollen nun drei unterschiedliche Begrifflichkeiten produktiv gemacht werden. Während ‚Kohabitation‘ vor allem das gemeinsame Wohnen meint, bezeichnet ‚Koexistenz‘ das Nebeneinanderbestehen verschiedener Arten im gleichen Lebensraum unter Ausschluss von Konkurrenz. ‚Konvivialität‘ hingegen wird als freundliche Form des Miteinanders und der Gemeinschaftlichkeit verstanden. Thom von Dooren und Deborah Bird Rose (2012) definieren die Konvivialität als eine ethische Praxis in Multispeziesgesellschaften, Orte und Räume auf aufmerksame und bedeutungsvolle Weise miteinander zu teilen.

Wohnen kann eine Form des Territorialverhaltens sein. Eine Wohnstatt zu teilen oder teilen zu müssen oder nicht selbst über (s)ein Zuhause verfügen zu können, wirft vielfältige gesellschaftliche, philosophische und praktische Fragen auf. Menschen organisieren mithilfe ihrer Behausungen ihr gesamtes Sozialgefüge einschließlich ihrer „Haustiere“, als deren natürlicher Lebensraum ohnehin das Haus bzw. ein menschengestalteter Raum gilt. Insbesondere Praktiken der Domestikation oder Ko-Domestikation spielen dabei eine große Rolle in der Tier-Mensch-Beziehung. Domestizierte Tiere wohnen auf sehr unterschiedliche Art und Weise: Sogenannte Nutztiere leben zuweilen zusammengepfercht zu Tausenden in quälender Enge in durchtechnologisierten High-Tech-Ställen ohne jeden Kontakt zu Menschen. Manche Heimtiere hingegen werden im sprichwörtlichen goldenen Käfig von liebenden Halter:innen ‚verwöhnt‘, lernen aber nie Artgenossen kennen. In beiden Fällen üben Menschen Kontrolle über die Wohnverhältnisse und die Bedingungen des Zusammenlebens aus – allerdings nie unbeeinflusst von der Agency der betroffenen Tiere. Meist konstituiert sich die konkrete Ausgestaltung des Zusammenlebens über komplexe Aushandlungsprozesse.

Kulturfolger:innen wiederum nehmen oft gegen den Willen von Menschen Kulturräume in Besitz und lassen sich nicht wieder vertreiben. Auch hier entstehen dialogische Situationen, die Machtverhältnisse sind nicht immer eindeutig. In allen Fällen gilt es darüber nachzudenken, warum und in welcher Form und von wem Wohn- und Lebensräume beansprucht, zugewiesen oder geteilt werden (können/sollten) und wer vom Zusammenleben profitiert und wer dabei verliert.

Gesucht werden Beiträge mit einem dezidierten Animal Studies-Schwerpunkt aus allen Fachbereichen, die sich mit dem Themenkomplex ‚Kohabitation, Koexistenz, Konvivialität‘ auseinandersetzen.
Artikel könnten sich beispielsweise mit der Wohnsituation von sogenannten Haus- und Heimtieren beschäftigen und dabei die Spezifika der jeweiligen Mensch-Tier-Kohabitation reflektieren. Mögliche Fragestellungen könnten sein: Wo und wie richten sich Tiere in menschlichen Wohnungen und in urbanen Räumen ein oder wie wird ihnen ein Heim bereitet und welche Schlüsse lassen sich daraus für die aktuelle, historische bzw. sich wandelnde Tier-Mensch-Beziehung ziehen? Gibt es eine moralische Verpflichtung, Städte umzugestalten, um Grenzgängertieren das (Über-)Leben in einer Multispezies-Gesellschaft zu erleichtern? Inwiefern tragen Animal-Aided-Design-Ansätze zu einer gerechteren Koexistenz der Arten bei? Welche Vorstellungen entwerfen Literatur, Film, Kunst, Populärkultur von Kohabitation? Welche Rolle spielen Ko-Evolution, Ko-Domestikation oder auch De-Domestikation im gegenwärtigen Diskurs um das Zusammenleben von Menschen und anderen Tieren? Können über den Begriff der Konvivialität Konzepte wie Becoming-with und Gefährtentum neu theoretisiert und veranschaulicht werden?

Abstracts von nicht mehr als 2.000 Zeichen senden Sie bitte bis zum 1. Februar 2022 an jessica.ullrichneofelis-verlag.de. Die fertigen Texte dürfen eine Länge von bis zu 22.000 Zeichen haben (inklusive Leerzeichen und Fußnoten) und müssen bis zum 1. Juni 2022 eingereicht werden. Danach gehen sie zur Peer Review an den wissenschaftlichen Beirat von Tierstudien. Auf Grundlage der Gutachten des wissenschaftlichen Beirats wird über die Annahme der Texte zur Veröffentlichung entschieden. Erscheinungsdatum für die angenommenen Texte ist Oktober 2022.

Quellennachweis:
CFP: Tierstudien, 22/2022: Kohabitation, Koexistenz, Konvivialität. In: ArtHist.net, 14.09.2021. Letzter Zugriff 19.04.2024. <https://arthist.net/archive/34710>.

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