WWW 22.11.2007

Geisteswissenschaften i. d. deutschsprachigen Feuilletons (14.-20.11.07)

Hans Selge

Wissenschaftsjahr 2007

Im Blickpunkt

Jochen Hörisch zur Zukunft der Geisteswissenschaften

Zum Abschluss der Spiegel-Serie zum Jahr der Geisteswissenschaften stellt
der Medienwissenschaftler Jochen Hörisch zehn entscheidende Fragen zur
Zukunft der Geisteswissenschaften, von "Gibt es universale Werte?" bis
(unkommentiert) "Warum und worüber lächelt die Mona Lisa?" Hier ein Auszug
aus Hörischs Erläuterung zur derzeit wieder heiß diskutierten Frage "II.
Stiftet Religion Frieden?": "Gläubige Menschen sind schon in ihrem irdischen
Leben bessere Menschen. Denn sie haben Respekt vor der Schöpfung, handeln in
Verantwortung vor Gott und dürfen hoffen beziehungsweise müssen fürchten,
nach ihrem Tod für gute Taten reich belohnt beziehungsweise für Missetaten
bestraft zu werden. Stimmt nicht, lautet ein Einwand: Wenn und weil es um
letzte Wahrheit geht, neigen Köpfe in dem Maße zur Militanz, zur Mission,
zum Kampf gegen die Ungläubigen, in dem sie fromm sind. Es gibt Konflikte
zwischen Kulturen, Überzeugungen, Meinungen, unterschiedlichen
Offenbarungen: Ist Religion ein Beitrag zur Lösung oder der heiße Kern des
Problems?"
Das jüngste Buch von Jochen Hörisch, die einschlägige Essaysammlung "Das
Wissen der Literatur", wird unterdessen von Roman Luckscheiter in der FAZ
vorgestellt: "Jochen Hörisch und verweist auf das ungeheure Welt- und
Handlungswissen in den Gedichten, Romanen, Dramen und Liedern, mit denen er
sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten beschäftigt hat. Extra für das Jahr
der Geisteswissenschaften hat er seine kleineren und größeren Publikationen,
die daraus entstanden sind, zu einem Buch binden lassen und zum vereinigten
'Plädoyer für eine problem- und themenzentrierte Literaturwissenschaft'
erklärt."

Spiegel, 19.11.
[Geisteswissenschaften, Philosophie]
FAZ, 20.11.
[Literaturwissenschaft]

Themen der Woche

Wehrmacht im Fernsehen

Im Deutschlandradio Kultur spricht der in Mainz lehrende Historiker Jörg
Neitzel über die ZDF-Fernsehserie "Die Wehrmacht", bei der er als
wissenschaftlicher Berater tätig war. Den Vorwurf, die Dokumentarserie nehme
die Opfer zu wenig in den Blick, weist er zurück: "Ich glaube schon, dass
wir eine sehr breite Opferforschung haben. Wenn wir mal sehen, was die
Holocaustforschung geleistet hat, da haben wir sehr detaillierte Studien,
die jetzt sozusagen nicht alle natürlich in diese Serie eingeflossen sind,
weil es ja kein Film etwa über den Holocaust, sondern ein Film über die
Wehrmacht ist, aber die Opferfrage ist eigentlich in der Forschung relativ
gut aufgearbeitet worden. Das Desiderat würde ich eher darin sehen, zu
sagen: Wie sah eigentlich der Alltag der Soldaten aus? Wir neigen natürlich
- Historiker wie Journalisten - dazu, uns sehr stark auf die Verbrechen, auf
Täter und Opfer, zu konzentrieren, aber das ist natürlich nur - so schlimm
das war und so wichtig das natürlich für uns ist - ein Segment dieses
Krieges, und wir müssen versuchen, auch die anderen Realitäten des Krieges
darzustellen."

Deutschlandradio Kultur, 13.11.
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/695344/
[Geschichte]

Dantes Philosophie menschlicher Laster

In der FAZ setzt sich der in Stanford lehrende Romanist Robert P. Harrison
mit Dantes Philosophie menschlicher Laster auseinander - und mit Dantes
Schlussfolgerungen für eine politische Ordnung. Sein Glaube an die
Notwendigkeit autokratischer Herrschaft sei natürlich veraltet - anders als
die diesem zugrundeliegenden Motive: "Die geradezu messianische Hoffnung,
die Dante mit Heinrich VII. verband, erscheint uns verrückt, aber die
Überlegungen, auf denen diese Hoffnung beruhte, waren höchst vernünftig. Im
Grunde waren es die gleichen Überlegungen, die zur Errichtung des
Völkerbundes und der Vereinten Nationen führten. Diese Auffassung besagt,
dass der Weltfrieden nur durch eine Institution gesichert werden kann, deren
Autorität größer und umfassender ist als die der Nationalstaaten. Das
Scheitern dieser modernen Institutionen ist genauso tragisch, es ist sogar
noch viel tragischer als das Scheitern von Dantes Weltherrscher, dem es
nicht gelang, die Wölfin der Habgier in die Hölle zurückzujagen."

FAZ, 14.11.
[Romanistik]

Kontraproduktive Standortpolitik

Bis vor kurzem hat Stefan Plaggenborg noch Osteuropa-Geschichte in Marburg
unterrichtet - jetzt hat er freudig einen Ruf nach Bochum angenommen. In der
FAZ erzählt er die traurige hochschulpolitische Groteske der sinnlosen
Verlagerung der Osteuropa-Geschichte von Marburg nach Gießen: "Studenten und
Dozenten der osteuropäischen Geschichte müssen nach Marburg in die
Bibliotheken fahren. Ein DFG-Forschungsprojekt muss in Marburg bleiben. In
Gießen könnten die Mitarbeiter nur Däumchen drehen. Die vorzügliche
Marburger Bibliothek der slawischen Philologie hat man nach Gießen
transportiert. Dort steht sie seit über einem Jahr in Kartons und ist nicht
benutzbar. Das Herder-Institut muss nun mit einer Universität kooperieren,
mit der es zuvor buchstäblich nichts zu tun hatte. Heute gibt es vier
Professoren der osteuropäischen Geschichte in Gießen. Die Zahl der Studenten
übersteigt die ihre nicht. Im Vergleich dazu lehrte ich in Marburg ein
Massenfach."

FAZ, 20.11.
http://www.faz.net/s/Rub117C535CDF414415BB243B181B8B60AE/Doc~E3823609B0A5C47
C886C7D4D3E88E6C24~ATpl~Ecommon~Scontent.html
[Geschichte]

Leopoldina als Nationale Akademie

Deutschland hat eine Nationale Wissenschaftsakademie - erwählt wurde, für
viele überraschend, die eher naturwissenschaftlich orientierte Leopoldina in
Halle. Der Tagesspiegel informiert über mögliche Aufgaben und hat die
Generalsekretärin Jutta Schnitzler-Ungefug befragt, die folgende Auskunft
gibt: "Dass die Leopoldina die älteste ununterbrochen aktive Akademie der
Welt ist, mit starkem naturwissenschaftlich-medizinischem Inhalt, hat ihr
jetzt die Möglichkeit eröffnet, auch im internationalen Kontext die
deutschen Akademien zu vertreten. Es gibt ein Bedürfnis, dass dort, wo es um
konzertierte Aktionen geht, auch Deutschland mit seinem Rat vertreten sein
sollte. Deswegen wird die Leopoldina auch künftig nicht alleine auftreten."
In der FAZ kann Jürgen Kaube über den avisierten Politberatungsauftrag nur
spotten: "Dem Schicksal ihrer Politisierung wird auch die Leopoldina, sofern
sie tatsächlich in erster Linie politikberatend tätig würde, nicht
entrinnen. (...) Man wird noch bei jedem Politologen, Maschinenbauer,
Biologen oder Astronomen, den man neu in die Nationale Akademie wählt,
vorher testen, was er denn über Gentechnik und Atomkraft, den Klimawandel
oder Sterbehilfe denkt."

Tagesspiegel, 19.11.
http://www.tagesspiegel.de/magazin/wissen/;art304,2422684 (Bericht)
http://www.tagesspiegel.de/magazin/wissen/;art304,2422648 (Interview)
FAZ, 17.11.

Bücher und Rezensionen

In seinem neuen Buch "Denken und Selbstsein" entwickelt Dieter Henrich
Gedanken zur Begründung der Subjektivität. Uwe Justus Wenzel ist für die NZZ
den nicht immer einfachen Gedanken mit großem Interesse und sogar Genuss
gefolgt: "Die 'Unverständlichkeit des Zentrums der Subjektivität' und die
daraus erwachsende Irritation des bewussten Lebens, das der Mensch ist und
führt, bilden die leitmotivisch wiederkehrende These. Sie wird in einer
Exposition und drei Durchführungen variiert und entfaltet. Die Gedankengänge
sind komplex und ihrer Umsichtigkeit wegen bisweilen umständlich (wie ihr
Urheber nüchtern festhält). Sorgsame Umständlichkeit entwickelt allerdings,
so sie sich in einer fließenden Sprache artikuliert, eine eigene Eleganz."

NZZ, 17.11.
http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/literatur_und_kunst/vertraut_und_undurc
hsichtig_1.585628.html
[Philosophie]

Für so ambitioniert wie überzeugend hält Jürgen Renn in der FAZ den Versuch
des Kunsthistorikers Horst Bredekamp, am Beispiel von Galileo Galilei die
"Schlüsselrolle visueller Denkformen in der Begründung der modernen
Naturwissenschaft" aufzuzeigen: "Das Ziel des Buches besteht offenbar
weniger darin, Kunst- und Wissenschaftsgeschichte einfach in einer
übergeordneten Kulturgeschichte aufgehen zu lassen, sondern darin,
etablierte Grenzziehungen in Frage zu stellen. (..) Das Buch ist klar,
detailreich, umfassend auch in der Auseinandersetzung mit der Literatur
zweier Fachwelten, seine Aussagen abgestützt durch ein beeindruckendes
Netzwerk von Kooperationen, geradezu betörend illustriert und in jeder
Hinsicht auch vom Verlag gut ausgestattet."

FAZ, 16.11.
[Kunstgeschichte, Wissenschaftsgeschichte]
[Bild]

Konferenzen und Tagungen

Thomas Manns Josephs-Roman und die Theologie

In der Katholischen Akademie in München ging es um Thomas Manns
Josephs-Roman - und damit nicht zuletzt um Fragen der Theologie und
insbesondere des Monotheismus. Alexander Kissler berichtet in der SZ und
referiert den Rat, den der Theologe Klaus Berger Thomas Manns Roman
entnimmt: "Manns zukunftsweisendes Projekt, Individualität sei 'ein
gehorsamer Wandel in vielfach nachgetretenen mythischen Fußstapfen',
übersetzte der vielseitige Theologe ins Praktische: Die christliche Kirche
müsse, wolle sie sprachfähig bleiben, wieder reden von den 'großen
mythischen Themen Besessenheit, Dämon, Apokalypse'. Sonst drohten Atheismus
oder Satanismus. Man sieht: Von Jakob, Joseph und Thomas Mann ist immer noch
unendlich viel zu lernen."

SZ, 20.11.
[Theologie, Literaturwissenschaft]
[Religion]

Tagung zum 100. Geburtstag von Thrasybulos Georgiades

In München erinnerte eine Tagung zum 100. Geburtstag von Thrasybulos
Georgiades an den Musikwissenschaftler. Klaus Peter Richter stellt in der
FAZ Georgiades und Theodor W. Adorno einander gegenüber: "Während Adornos
Philosophie Schule machte, blieb die Münchner Schule exotisch, denn sie
entsprach weder dem Zeitgeist noch den Deutungstraditionen des Faches. Ihr
Kern ist das fundamentale Verhältnis von Rhythmus und Sprache, mit dem
Thrasybulos Georgiades die Musikgeschichte neu beleuchtete. Während die
antike Musik als untrennbare Einheit von Sprache und Klang durch die starre
Quantitätsrhythmik des Altgriechischen geprägt ist, trennen sich später die
Ebenen, bis in der Wiener Klassik das musikalische Geschehen gegenüber dem
'leeren Taktmetrum' ganz neue Möglichkeiten quasi sprachlicher Artikulation
eröffnet."

FAZ, 14.11.
[Musikwissenschaft]

Quellennachweis:
WWW: Geisteswissenschaften i. d. deutschsprachigen Feuilletons (14.-20.11.07). In: ArtHist.net, 22.11.2007. Letzter Zugriff 12.05.2025. <https://arthist.net/archive/29844>.

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