WWW 04.10.2007

Geisteswissenschaften in den Feuilletons (26 Sep-2 Oct 07)

Philipp Mehne

Feuilletons, NL Nr. 31 (26 Sep - 2 Oct 07)

Jahr der Geisteswissenschaften 2007

Aus den Feuilletons vom 26.9-2.10.2007

Die Berichterstatter vom Orientalistenkongress in Freiburg konstatieren ?
teils mit kritischem Akzent ? die zunehmende Aktualiät der beteiligten
Fächer. Die Stimmen zum Germanistenkongress in Marburg gehen auseinander:
Die FAZ fand die Fixierung aufs Evolutionsbiologische eher lächerlich, die
SZ erkannte Fortschritte zu den vorangehenden Germanistentagen. Außerdem:
Der Romanist Jürgen Trabant plädiert für den selbstbewussteren Umgang mit
der deutschen Sprache. Und Günter Grass lauschte Vorträgen über einen
Schriftsteller namens Günter Grass.

Im Blickpunkt

Aktualitätsorientiert: Orientalistentag in Freiburg

Recht einig sind sich die Berichterstatter vom Orientalistentag in
Freiburg darin, dass die beteiligten Fächer seit dem 11. September einen
Aktualitätsschock erfahren haben. Rainer Hermann hält in der FAZ die sich
abzeichnende Tendenz zur Entphilologisierung und Gegenwartsfixierung aber
für nicht unproblematisch: "Allen Fächern der Orientalistik ist gemein,
dass sie sich von der Philologie entfernen und zu Regional- und
Kulturwissenschaften werden. Nicht wenige begegnen diesem Trend mit
Skepsis. Hans van Ess, Professor für Sinologie in München, klagt, dass der
Begriff 'Regionalstudien' missbraucht werde, um die philologische
Kompetenz des Fachs auszuhöhlen. Dabei ließen sich andere Kulturen durch
die Kenntnis ihrer Sprachen erschließen."
Ganz ähnlich argumentiert Elisabeth Kiderlen in der NZZ: "Dem
überwältigenden Druck aus der Politik gegenüber spielten Literatur,
Architektur, Geistes- und Kulturgeschichte nur eine periphere Rolle. Aber
begegnet uns der Orient inzwischen tatsächlich nur noch als Problem und
nicht immer auch als Möglichkeit, eine große Kultur zu erfahren und zu
verstehen? Der alles andere dominierenden Fokussierung auf aktuelle
politische und gesellschaftliche Fragestellungen hätte ein großer
geisteswissenschaftlicher Vortrag entgegenwirken müssen."
Im Tagesspiegel berichtet Andrea Dernbach aus Freiburg.

FAZ, 2.10.
NZZ, 2.10.
http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/aktuell/der_orient__kultur_oder_problemkomplex_1.563557.html
Tagesspiegel, 2.10.
http://www.tagesspiegel.de/magazin/wissen/Islam;art304,2391513
Website des Orientalistentags: http://www.dot2007.de/index2.php?art=30
[Islamwissenschaft, Sinologie, Orientalistik]
[Orient]

Evolutionsbiologisch: Germanistentag in Marburg

Mit unterschiedlicher Akzentuierung wird vom diesjährigen Germanistentag
in Marburg berichtet. In der FAZ zeigt sich Oliver Jungen wenig begeistert
davon, dass nun sogar die Germanisten auf die Evolutionsbiologie verfallen
sind: "Immer kürzer werden zudem die Halbwertszeiten der Moden. Die neuste
Sau im Germanistendorf ist, ohne jede Ironie, ein Affe. Durch frappierend
viele Vorträge des Verbandstreffens, das unter dem nicht eben innovativen
Titel 'Natur ? Kultur' stand, rasten die Primaten. Die Kokosnuss geklaut
hat diesmal die Evolutionsbiologie - wohl deshalb die jüngste
Wahlverwandte der Germanistik, weil man eine gemeinsame anthropologische
Basis unterstellt."
In der SZ konstatiert Florian Kessler dagegen eine Besserung gegenüber den
vorangegangenen Germanistentagen: "Die Oberthemen der vorangegangenen
Germanistiktage in Erlangen 2001 und München 2004 konnten die schiere
Masse beliebiger Methoden kaum deckeln, die Kongressteilnehmer
präsentierten einfach nur noch vor sich hin. Diesmal aber waren zahlreiche
Sektionsthemen und Podien so klug auf das Generalthema zugespitzt, dass
die Teilnehmer schlichtweg nicht ganz aneinander vorbei argumentieren
konnten. Kleinster Nenner ihrer verschiedenen Panele war die Faszination
hart empirischer Wissenschaftsverfahren."

FAZ, 28.9.
SZ, 28.9.
Website des Germanistentags:
http://www.germanistenverband-hochschule.de/kev/germtag07/index.php?id=2
[Germanistik]

Themen der Woche

Deutsches Bellen und globalisiertes Englisch

Der Romanist Jürgen Trabant hält es in einem von der FAZ abgedruckten
Vortrag für so begreiflich wie bedauerlich, dass die Deutschen sich in der
globalisierten Wissenschaft so wenig für ihre eigene Sprache einsetzen.
Schließlich habe man das deutsche "Bellen" der Nationalsozialisten aus
gutem Grund noch im Ohr. Die Folgen dieser "Sprachscham" seien, so
Trabant, dennoch fatal: "Die deutschen Eliten haben also in den
internationalen Prestige-Diskursen das Deutsche aufgegeben. Sie sprechen
globalesisch mit der Welt und untereinander. Dass dies so ist, ist nicht
nur der Effekt der anglo-amerikanischen Weltdominanz, sondern, in seiner
besonderen Willfährigkeit, Geschwindigkeit und Gründlichkeit, auch eine
Folge der durch das Sprachgebell erzeugten Sprachscham. Englisch sprechend
distanziere ich mich von der Bellgemeinschaft. Englisch sprechend bin ich
nicht nur international, sondern vor allem auch nichtdeutsch, nicht schuldig."

FAZ, 28.9.
[Sprachwissenschaft]

Zur Aktualität des Christentums in Europa

Für ganz falsch hält der an der Penn State University lehrende Professor
für Religion und Geschichte Philip Jenkins in einem Beitrag für die SZ das
Klischee eines sich von der Religion abwendenden Europa: "In den meisten
Teilen Europas sind die christlichen Traditionen überraschenderweise
stärker denn je - ausgerechnet auf einem Kontinent, den man lange für
einen Sumpf verschiedenster Glaubensrichtungen hielt. Doch obwohl
unzählige Statistiken den Verfall von formal festgelegten religiösen Riten
und den Abfall von den staatlich anerkannten Kirchen beweisen, kann man
deutliche Hinweise für ein neues Wachstum der Religion entdecken."

SZ, 1.10.
[Religionswissenschaft, Geschichte]
[Religion]

Das Marxismus-Leninismus-Projekt

Auf der Geisteswissenschaften-Seite der FAZ zeichnet Tim B. Müller die
Geschichte des erstaunlichen New Yorker "Marxismus-Leninismus-Projekts"
nach, an dem der marxistische Philosoph Herbert Marcuse prägend mitwirkte:
"Das 'Marxismus-Leninismus-Projekt' folgte der Logik des kalten Krieges.
Wissenschaft sollte nicht einfach nur eine Waffe im Arsenal des Kalten
Kulturkriegs sein. Hoch über New York ging man davon aus, dass eine von
Politik und Verwaltung unbehelligte, zwar politisch reflektierte, aber
unpolitischen geisteswissenschaftlichen Objektivitätsidealen verpflichtete
Forschung einen nicht unbedeutenden Nutzen abwerfen könnte. Welcher
chilenische oder indische Jungakademiker würden noch nach Moskau blicken,
wenn erwiesen wäre, dass selbst die Marxismusforschung im Westen
ideologisch unbehinderter, philologisch und historisch genauer, in ihrer
Texttreue gegenüber den revolutionären Denkern unübertroffen war?"

FAZ, 26.9.
[Philosophie, Geistesgeschichte]

Theater als Fest

Anlässlich eines Kongresses über Dramaturgie sprechen die
Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann und Patrick Primavesi in der FR
über die Perspektiven ihres Fachs wie des Gegenwartstheaters. Primavesi
stellt fest: "Theater ist ein Fest, das sich selbst reflektiert, ein
Ritual, das mit seinen Gesetzen spielt. Es ist das Fest und die
Infragestellung des Festes zugleich. Dadurch begreifen sich die Zuschauer
neu als Teil ihrer Gesellschaft. Dadurch sind auch die Versuche, den
Rahmen des Theaters umzudefinieren, nicht einfach Fortsetzungen des
Regietheaters nach dem Motto 'Wie weit kann man noch gehen', beim Brechen
von noch mehr Tabus. Es geht jetzt darum, den Kontext des Theaters zu
thematisieren."

FR, 26.9.
http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/feuilleton/?em_cnt=1215999
[Theaterwissenschaft]

Porträt des Literaturwissenschaftlers Helmut Lethen

Lorenz Jäger porträtiert in der FAZ den Literaturwissenschaftler Helmut
Lethen, dessen "Verhaltenslehren der Kälte" Jäger für "eines der
literaturwissenschaftlichen Bücher" hält, "von denen man sagen kann, dass
sie in ihrer Disziplin Epoche gemacht haben... Die Heroen des einstmals
scharf linksgerichteten Literaturwissenschaftlers wie Brecht und Benjamin
offenbarten mit wachsendem zeitlichem Abstand eine so frappierende
Ähnlichkeit mit ihren Widersachern, dass die Lektüre von Lethens Buch
wirkte, als betrachte man sehr schnell sehr viele alte Familienfotos:
Großväter und -mütter erscheinen uns ja stets weniger individuell,
überraschend tritt der Typus hervor."

FAZ, 26.9.
[Literaturwissenschaft]

Historiker Richard J. Evans feiert sechzigsten Geburtstag

In der FAZ gratuliert Patrick Bahners dem britischen Historiker Richard J.
Evans zum sechzigsten Geburtstag, der mit umfangreichen Studien zur
Geschichte der Cholera, zur deutschen Todesstrafe, zur Frauenemanzipation
und zuletzt zur Geschichte des Dritten Reiches nicht zuletzt eines
beweise: "Richard Evans, der in Oxford studierte, in Norwich und am
Birkbeck College der Universität London unterrichtete und 1998 den
ehrenvollen Ruf auf einen der wenigen Lehrstühle der Universität Cambridge
annahm, beweist, dass der Leviathan der heutigen Hochschulbewirtschaftung
einen energischen und ausdauernden Autor nicht vom Bücherproduzieren
abhalten kann."

FAZ, 29.9.
[Geschichte]

Bücher und Rezensionen

Für höchst lobenswert hält es Arno Widmann in der FR, dass die "edition
suhrkamp" mit dem neuen Buch "Über das Politische - Wider die
kosmopolitische Illusion" der in Westminster lehrenden Politphilosophin
Chantal Mouffe die schärfste Kritikerin an der von Ulrich Beck
verkörperten Mehrheitslinie des Verlags selbst veröffentlicht: "Die
Illusion, die Gesellschaft setze sich aus Einzelnen zusammen, die als
Einzelne angesprochen werden müssten, führt dazu, dass die eigentliche
Aufgabe der Politik nicht mehr gesehen und also auch nicht mehr
wahrgenommen wird. Politik ist, so Chantal Mouffe, dazu da, Interessen zu
bündeln gegen andere Interessen. Politik kommt nicht aus ohne den Feind.
Politik schafft ihn. Wer hier Carl Schmitt zu hören glaubt, der hört
richtig. Chantal Mouffe gehört zu der Spezies der linksradikalen
Schmittianer."

FR, 26.9.
http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/literatur/?em_cnt=1215982
[Sozialphilosophie, Politische Theorie]

Im Deutschlandradio staunt Michael Opitz über Umberto Ecos neues Buch,
seine "Geschichte der Hässlichkeit", das Gegenstück zu seiner vor einigen
Jahren vorgelegten "Geschichte der Schönheit": "Es gehört zu den Vorzügen
von Ecos 'Geschichte der Hässlichkeit', dass seine Thesen provokant sind.
Die ausgewählten Bilder sowie die Zitate aus der Literatur, der
Philosophie und der Ästhetik fordern dazu heraus, sich mit dem, was man
sehen und lesen kann, auseinanderzusetzen... Eco hat eine Einführung in
die Kunst der Bildbetrachtung geschrieben, und er hat das Kunststück
fertig gebracht, darin die schönen Seiten des Hässlichen aufzuzeigen."

Deutschlandradio, 2.10.
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/676036/
[Kunstgeschichte]

Konferenzen und Tagungen

Religion in der Gegenwart

Johan Schloemann war für die SZ beim Symposium des "Philosophicum Lech"
und hat den Vorträgen und Diskussionen zur Frage nach der Gegenwart und
der Notwendigkeit der Religion gelauscht. Die Diagnosen waren durchaus
kontrovers, eine vermittelnde Position nahm der Philosoph Martin Seel ein,
"der nach der 'Denkbarkeit' einer rein säkularen Gesellschaft fragte und
zum Ergebnis kam, eine solche könnte zwar wohl 'halbwegs gerecht'
funktionieren, sie wäre aber 'historischer Tiefe und kultureller
Differenz' verlustig. Die Erfahrungen der 'Selbsttranszendenz', die eine
'fundamentale Quelle der Normativität' sei, könnten wohl auch rein
innerweltlich bleiben; als Religion habe dieser Vorgang aber gleichsam
mehr Saft und Kraft - fiele sie weg, dann fehlte der ganzen Gesellschaft
ein besonders intensives 'Weltvertrauen und Weltmisstrauen'."

SZ, 1.10.
[Religionswissenschaft, Philosophie]
[Religion]

MedienGrass

In Bremen fand eine Konferenz statt, in der es um das Verhältnis des
Schriftstellers Günter Grass zu den Medien ging. Germanisten und Fans
waren gekommen, vor allem aber auch der Gegenstand der Tagung selbst, wie
Frank Keil in der Welt berichtet: "Er sprach knapp und dunkel von einer
schweren Zeit, die er hinter sich gebracht habe, empfahl den Gästen, die
ähnliches durchlebt hätten als Tröstung die Literatur des Jean Paul und
setzte dann hinzu: 'Sie können mir glauben, es ist schon etwas seltsam,
wenn man da in der ersten Reihe sitzt und es wird so viel über jemanden
gesprochen, der meinen Namen trägt.'"
Wolfgang Schneider erfuhr, wie in der FAZ nachzulesen ist, auf der Tagung,
dass Grass in der arabischen Welt den allerbesten Ruf genießt: "Jedes
Statement gegen den Irakkrieg und die 'heuchlerische' Bush-Politik wird
auf islamischen Websites gefeiert. Seit seiner Parteinahme im
Karikaturen-Streit gegen die Meinungsfreiheit gilt Grass als 'eine der
bedeutendsten europäischen Persönlichkeiten auf Seiten der Muslime'; sein
Vorschlag, eine Lübecker Kirche in eine Moschee umzuwidmen, hat ihm den
Ruf als 'Urheber der mutigsten Ideen' eingebracht."

Welt, 2.10.
http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/feuilleton/?em_cnt=1218792
FAZ, 2.10.
[Literaturwissenschaft]

Quellennachweis:
WWW: Geisteswissenschaften in den Feuilletons (26 Sep-2 Oct 07). In: ArtHist.net, 04.10.2007. Letzter Zugriff 12.03.2025. <https://arthist.net/archive/29773>.

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