WWW Oct 25, 2007

Geisteswissenschaften in den Feuilletons (17-23 Oct 07)

Hans Selge

Date 24 Oct 2007
Subject: Geisteswiss. NL Nr. 34

Jahr der Geisteswissenschaften 2007

Aus den Feuilletons vom 17.-23.10.

Die letzten Entscheidungen im ersten Durchgang der Exzellenz- und
Elite-Entscheidungen werden von den Feuilletons ohne Enthusiasmus
kommentiert. In der taz sieht der Soziologe Richard Münch das
Verfahren aus geisteswissenschaftlicher Perspektive sehr kritisch.
Die NZZ widmet einen Schwerpunkt dem Denken und Schreiben mit
Textverarbeitungen. Und in der FR findet der Theologe Gerd Lüdemann,
der nach dem Bekenntnis seines Unglaubens nicht mehr Theologie lehren
darf, dass die Theologie an deutschen Universitäten fehl am Platz ist.

Im Blickpunkt

Elite, Exzellenz (Forts.)

Die vorerst letzte Elite-Entscheidung vom letzten Freitag wird in den
Feuilletons kommentiert, wenn auch fast völlig frei von Enthusiasmus.
In der taz kommt der Soziologe Richard Münch im Interview mit Ines
Kappert zu Wort, der die ganze Veranstaltung prononciert kritisch
sieht - und vor allem glaubt, dass der Zuschnitt für die
Geisteswissenschaften ganz falsch ist. "Auch wenn die Geistes- und
Sozialwissenschaften bei der zweiten Runde der Exzellenzinitiative
etwas mehr abbekommen haben als bei der ersten Runde, profitieren sie
gar nicht davon. Weil diese großen Verbünde, die hier geschaffen
werden, für die Geistes- und Sozialwissenschaften Gift sind. Die
leiden darunter mehr, als sie dadurch gefördert werden."
Im Tagesspiegel sind eine Reihe von Artikeln den Auswirkungen der
Elite-Entscheidung (die FU wird Elite-Uni, die Humboldt-Universität
nicht) auf die Berliner Universitätslandschaft gewidmet. Tina
Rohowksi bietet Impressionen von Reaktionen: "'An unserer exzellenten
Uni' begrüßt Jutta Müller-Tamm ihre Studierenden am Montagmorgen in
der Literaturvorlesung. Danach geht es direkt weiter im Stoff." Und
Forschungssenator Jürgen Zöllner sieht die Sache im Interview anders
als die meisten: "Das ist ein äußerst erfolgreicher Tag für die
Humboldt-Universität."

Taz, 19.10.
http://www.taz.de/nc/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=me&dig=2007%
2F10%2F19%2Fa0123&src=GI&cHash=71cd3b9ea6http://www.taz.de/nc/1/
archiv/digitaz/artikel/?ressort=me&dig=2007%2F10%2F19%
2Fa0123&src=GI&cHash=71cd3b9ea6
Tagesspiegel, 23.10.
http://www.tagesspiegel.de/magazin/wissen/Exzellenz-Initiative-Elite-
Universitaet;art304,2404841
Tagesspiegel, 20.10.
Interview mit Jürgen Zöllner:
http://www.tagesspiegel.de/magazin/wissen/Hochschulen-Elite-
Unis;art304,2403217
[Geisteswissenschaften]

Textverarbeitung, Schreiben und Denken

Die NZZ widmet einen Schwerpunkt Fragen der Textverarbeitung. Die
Geschichte des Schreibens (und Denkens) am Computer nimmt dabei
Stefan Betschon in den Blick: "Noch immer ist die Tastatur das
Nadelöhr, durch das die Gedanken sich hindurchzwängen müssen, noch
immer gibt es beim Schreiben ein Wettrennen zwischen den Fingern und
dem Kopf, einmal eilen die Gedanken davon, einmal preschen die Finger
vor und reißen Gedanken mit sich, manchmal ruhen beide gebannt vor
dem weißen Papier."
Der Literaturwissenschaftler Sandro Zanetti stellt ein Projekt der
Universität Basel über die "Genealogie des Schreibens" vor, das sich
mit ähnlichen Fragen befasst: "Zu den wichtigsten Ergebnissen des
Projektes gehört die Einsicht, dass Schreibprozesse vor allem dann
thematisch werden und somit Einblick in die entsprechende
Schreibszene geben, wenn sich im Ensemble der beteiligten Faktoren
semantischer, gestischer oder instrumenteller Art Widerstände
bemerkbar machen, die überwunden werden müssen: Der entscheidende
Einfall will nicht kommen, die Hand wird müde, die Tastatur klemmt -
man kennt die entsprechenden Situationen."

NZZ, 19.10.
[Wissenschaftsgeschichte, Literaturwissenschaft]

Themen der Woche

Barocke Bibliotheken

Die Bibliothekswissenschaftlerin Katja Stopka nimmt in der Welt die
Wiedereröffnung der Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar zum Anlass, die
sich von heutigen durchaus unterscheidenden Funktionen barocker
Bibliotheken vorzustellen: "Als die Herzogin Anna Amalia Mitte des
18. Jahrhunderts den Umbau des Grünen Schlosses zu einem
Bibliotheksgebäude veranlasste, stahlen Bücher ihrem Gehäuse noch
selten die Show. Denn im Barock hatten Büchersäle nicht allein die
Aufgabe, Aufbewahrungsort von Gedrucktem zu sein. In dieser Blütezeit
des Bibliotheksbaus manifestierten die architektonischen Kunstwerke
eine ganzheitliche Idee: Im Mikrokosmos des Bibliothekssaals sollte
sich der Gesamtkosmos spiegeln."

Welt, 20.10.
http://www.welt.de/welt_print/article1281843/
Kosmos_des_Wissens_und_des_Schoenen.html
[Bibliothekswissenschaft]

Aufwertung der Résistance in Frankreich

Der neue Präsident Nicolas Sarkozy will den französischen Widerstand
in der Beurteilung der Haltung während der deutschen Okkupation
stärker in den Vordergrund stellen. In der FAZ erläutert der
Historiker Max Gallo im Interview die Zusammenhänge: "Die Absicht
scheint mir klar zu sein. Nach einer Periode, die mit der Rede
Jacques Chiracs am 16. Juli 1995 über die Mitschuld des französischen
Staates an der Judenverfolgung begann, soll das Gleichgewicht
wiederhergestellt werden. Es spricht für Sarkozys Willen, die
Reuehaltung durch einen historischen Rückblick auszugleichen. Wir
können aus dieser Zeit nicht nur Vichy behalten und die Résistance
ausklammern. Frankreich war nicht nur, aber es war auch eine Nation
von Widerstandskämpfern. Das Ziel ist im Grunde zu sagen, dass wir
stolz auf Frankreich sein können."

FAZ, 22.10.
http://www.faz.net/s/Rub5A6DAB001EA2420BAC082C25414D2760/
Doc~EA010318E72114B0D8DBAB80CC130EE6E~ATpl~Ecommon~Scontent.html
[Geschichte]

Theologen müssen Christen sein

Der Theologe Gerd Lüdemann darf - das hat nun auch das
Bundesverfassungsgericht entschieden - nicht mehr Theologie
unterrichten, weil er seinen Unglauben bekannt hat. Daraus folgt, wie
er in der FR darlegt, für ihn vor allem, dass die Theologie sich
nicht als Wissenschaft verstehen könne - und somit ein Fremdkörper an
deutschen Universitäten ist: "Nun sind sich alle in der Geistes- oder
Naturwissenschaft Tätigen einig, dass Forschung frei sein muss und
nicht von vornherein weiß, zu welchen Ergebnissen sie führt. Diese
Freiheit der Wissenschaft ist erst nach langen Kämpfen gegen
Einsprüche der christlichen Kirchen errungen worden. Da Theologie bis
heute ein Universitätsfach ist, haben die dort Tätigen - so sollte
man eigentlich denken - auch Anrecht auf volle Wissenschaftsfreiheit.
Es war daher skandalös, dass in meinem Fall die Niedersächsischen
Kirchen den Staat zu einer solch massiven Beschneidung dieser
Freiheit bewegen konnten."

FR, 17.10.
http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/feuilleton/?
em_cnt=1227862
[Theologie]
[Religion]

Morddrohungen gegen Bulgarien-Historiker

Zwei Historiker des Osteuropa-Instituts der FU Berlin müssen mit
Morddrohungen leben, weil sie der Mythisierung des historischen
Massakers muslimischer Bulgaren an ihren christlichen Nachbarn in der
der Stadt Batak nachgehen wollten. Sonja Zekri berichtet in der SZ,
wie sie ins Visier der Nationalisten von heute gerieten: "Was ist
Ereignis, was Mythos? Warum wurde ausgerechnet Batak zum
Wallfahrtsort? Darüber hatten Baleva und Brunnbauer diskutieren
wollen, doch dazu kam es nicht. Im Mai, vor der Ausstellung in
Bulgarien, schlug eine Welle des Hasses über den beiden zusammen.
Staatspräsident Georgi Parvanov nannte das Projekt eine 'schlimme
Provokation', weil es das Massaker leugne - ein Vorwurf wie ein
Brandsatz."

SZ, 17.10.
[Geschichte]

Ernst-Robert Curtius und sein Schüler Karl Eugen Gass

In der FAZ schreibt Frank-Rutger Hausmann über den Briefwechsel
zwischen dem Romanisten Ernst Robert Curtius und seinem
Lieblingsschüler Karl Eugen Gass - und denkt über Lehrer-Schüler-
Verhältnisse in der Wissenschaft nach: "Bedeutende Gelehrte machen
die Fragen der Schülerschaft nur selten zum Thema. Darin könnte ein
Stück Vater-Sohn-Komplex verborgen sein, vor allem bei solchen, die,
wie Curtius, keine eigenen Kinder haben. Sein Bild von Schülerschaft
war durch Goethe und Eckermann, Faust und Wagner geprägt, aber auch
durch Stefan George. Bei Curtius Schüler zu sein, bedeutete im
wahrsten Sinne, auserwählt zu werden und sich wissenschaftlich
unterzuordnen, ohne dass man jedoch wie die Georgeaner die eigene
Kreativität opfern musste."

FAZ, 17.10.
[Romanistik]

Philosoph Leszek Kolakowski feiert 80. Geburtstag

Der polnische Philosoph Leszek Kolakowski feiert seinen 80.
Geburtstag. In der FAZ gratuliert Christian Geyer: "Ein Blick auf ein
paar seiner Buchtitel, die hierzulande zumeist bei Piper erschienen,
zeigt, dass Kolakowskis Denken immer wieder auf die Grenzen des
Denkens zurückkam, oder besser gesagt: dass es Kolakowski darum ging,
überzogene Ansprüche des Systemdenkens, sei es marxistischer oder
christlicher Natur, zurückzuweisen und so ex negativo zu bestimmen,
was sinnvoll gedacht werden kann und was Ideologie bleibt."

FAZ, 23.10.
[Philosophie]

Bücher und Rezensionen

Im Deutschlandradio stellt Kirsten Dietrich einen Band vor, in dem
sich Historiker und Theologen erstmals mit der Geschichte der
Theologie im Dritten Reich beschäftigen. Sie staunt, dass das so
lange gedauert hat: "Man mag es kaum glauben, dass es bis jetzt keine
umfassende Untersuchung zur Rolle der katholischen Theologie in der
NS-Zeit gibt. Und doch ist es so. Das hat nach Meinung der
Herausgeber Dominik Burkard und Wolfgang Weiß vor allem zwei Gründe:
Zum einen haben viele katholische Professoren bruchlos auch in der
Zeit nach 1945 weiter unterrichtet - die Loyalität ihre Schüler und
Schülerinnen ist deshalb ein ernstzunehmender Faktor."

Deutschlandradio, 17.10.
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/681685/

[Geschichte, Theologie]
[Religion]

Gleich zwei neue Bände des Literaturwissenschaftlers Peter von Matt
bespricht Friedmar Apel in der FAZ. Einer ist dem Autor Elias Canetti
gewidmet, der andere versammelt Aufsätze zur deutschen Literatur.
Apel charakterisiert von Matt: "Peter von Matt will den 'guten Leser'
in unentdeckte literarische Ländereien locken. Den Grenzübertritt
macht er ihm leicht, aber er verspricht ihm dabei keine entspannte
Reise und gibt ihm auch keine Gewähr, unbehelligt zu bleiben. Nicht
nur unter Palmen kann sich die Wahrheit nämlich verwandeln und 'uns
den Teppich unter den Füßen' wegziehen."

FAZ, 18.10.
[Literaturwissenschaft]

Konferenzen und Tagungen

Herodot und die Mythen

Katharina Wesselmann informiert auf der Geisteswissenschaften-Seite
der FAZ über eine Oxforder Tagung, die dem nicht ganz unumstrittenen
Vater der Geschichsschreibung Herodot gewidmet war: "Ende September
wurde das Thema 'Herodotus and Myth' am Christ Church College in
Oxford verhandelt. Die Problematik ist alt. Schon Thukydides grenzt
sich ausdrücklich von Herodot ab und von dem, was er 'mythodes'
nennt, 'legendenhaft'. Plutarch schreibt eine Philippika gegen den,
wie er meint, unzuverlässigen und parteiischen Geschichtsschreiber.
Der Satiriker Lukian schließlich verbannt Herodot in seinen
Jenseitsschilderungen auf die Insel der Verdammten - als Lügner."
FAZ, 17.10.
[Geschichte]

Hitler darstellen
Andreas Kilb hat für die FAZ eine interdisziplinär mit Historikern
und Filmwissenschaftlern besetzte Berliner Tagung zum Thema "Hitler
darstellen" besucht, bei der es um Hitler-Repräsentationen in Film
und Fernsehen ging. Vor allem eines machte die Tagung für Kilb sehr
deutlich: "Aus den Bildermeeren des weltweiten digitalen Netzes führt
kein Weg mehr in die alte Schriftlichkeit zurück. So wie die
Datenbank dabei ist, die Bibliothek als Medium geschichtlicher
Überlieferung zu ersetzen, wird auch die Erinnerung der
Geschichtszeugen immer mehr vom geschriebenen Wort ins Visuelle
wandern."
FAZ, 18.10.
[Geschichte, Filmwissenschaft]
[Bild]

Kritik an Israel
In New York befasste sich eine Konferenz mit den jüngsten
Diskussionen um die sogenannte "Israel-Lobby" und jüdische Kritik an
Israel. In der Welt informiert Hannes Stein über diese Tagung: "Der
Literaturwissenschaftler Alvin Rosenfeld hat jüngst mit einem Essay
für enormen Wirbel gesorgt, in dem er Texte solcher 'progressiver
Juden' wie Noam Chomsky und Tony Judt analysierte [...]. Er nutzte
diese Konferenz, die von der Organisation 'Camera' veranstaltet
wurde, dem 'Committee for Accuracy in Middle East Reporting in
America', um klarzustellen: Es sei ihm dabei gar nicht um Kritik an
Israel gegangen, sondern vielmehr um eine Haltung, die sich als
Kritik an Israel nur maskiert."

Welt, 24.10.
http://www.welt.de/welt_print/article1290125/
Juden_als_Kronzeugen_gegen_das_Judentum.html
[Zeitgeschichte]

Reference:
WWW: Geisteswissenschaften in den Feuilletons (17-23 Oct 07). In: ArtHist.net, Oct 25, 2007 (accessed May 10, 2025), <https://arthist.net/archive/29766>.

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