Tränen
Interdisziplinäre Tagung des Kunstgeschichtlichen Instituts
der Ruhr Universität Bochum
03. November 2006 - 05. November 2006
Tränen
Das Vergießen von Tränen ist nicht nur eine körperliche Reaktion. Es ist
eine elementare und, neben der Fähigkeit zu lachen, allein und
ausschließlich menschliche Ausdrucksform, es ist, mit Helmuth Plessner
gesprochen, das Monopol des Menschen. Mit dem Erscheinen der Tränen im Auge,
ihrem Fließen auf der Haut, haben sie die Grenzen des Körpers von innen nach
außen überschritten, sind das sichtbare Zeichen der Entäußerung eines
inneren Zustands. Ihr Verströmen ist nicht nur ein bewegtes, sondern
zugleich ein bewegendes Motiv, und es ist gerade das Appellhafte der Tränen,
ihr eigentümliches Vermögen, Affekte zu übertragen oder zu kristallisieren,
das sich in der Bildenden Kunst, in Theater, Film und Dichtung immer wieder
als ihre grundlegende dramatische Funktion erweist. Das Motiv der
Entäußerung von Innerlichkeit, der Vermischung von innerer und äußerer Welt
bietet einen ersten Ausgangspunkt für die Betrachtung der Tränen: den Aspekt
der Entgrenzung. Das bis heute gültige Verständnis von einem durch die Haut
begrenzten und eingeschlossenen Einzelkörper verdrängte die bis ins späte
18. Jahrhundert vorherrschende Vorstellung von der porösen und offenen
Körperoberfläche des dreidimensionalen grotesken Körpers. Seither ist die
Funktion der Haut, zwischen Innen und Außen zu trennen, für das neue
Körperbild maßgeblich. An kultur- und medienwissenschaftliche Studien
anschließend, welche diese historisch bedingten Vorstellungen von
geschlossenen bzw. durchlässigen Haut- und Körpermodellen untersuchen, soll
der Frage nachgegangen werden, in welcher Weise das Vergießen von Tränen als
Zeichen körperlicher wie mentaler Überschreitung und Erweiterung, ja
Auflösung von Körpergrenzen verstanden werden kann. In sprachlichen Bildern
wird diese Auflösungstendenz artikuliert, im Zerfließen in Tränen. Auf
welche Weise und in welchen Medien sie visualisierbar ist, gehört zu den
zentralen Fragen der Tagung. Ein zweiter, hier anschließender Aspekt ist das
medienreflexive Potential der dargestellten Tränen. Denn so wie die Haut
auch eine Metapher für die ästhetische Grenze des Bildes ist, thematisiert
der Tränenfluss - metaphorisch und zugleich materialiter - die
Durchdringbarkeit der Bildoberfläche. Der Entkonturierung des Mediums durch
die Träne steht deren Erstarrung in Malerei und Fotografie entgegen. Diese
Dynamik von Bewegung und Fixierung gilt es näher zu untersuchen. Hiermit
verbunden ist die Frage nach der spezifischen Adressierung durch Tränen. Was
geschieht beispielsweise in der direkten Konfrontation des Publikums mit dem
"unmittelbarsten Inneren", wie etwa bei einer Performance? Wenn der Körper
selbst als Darstellungsmedium des Inneren eingesetzt wird und in seiner
Kreatürlichkeit, in der körperlichen Auswendigkeit des Inneren Authentizität
verspricht? Derartige Inszenierungen des Körpers zielen auf ein
unmittelbares Bewegen, ja Aufwühlen der Emotionen. Doch die Affekt-Brücke,
die hier geschlagen oder eingerissen wird, überschreitet die Aufgabe, die in
der Ästhetik dem Pathos zukommt. Das Verhältnis von Wirkungsästhetik und
Körpertheorie ist im Angesicht der Träne neu zu bedenken. Von besonderem
Interesse sind gattungsverschleifende Tendenzen. Das Motiv der Träne
schließt Literatur-, Theologie-, Medizin- und Wissenschaftsgeschichte
zusammen, in künstlerischen Verfahren werden Haut, Körper und Schrift
miteinander verknüpft. Die im achtzehnten Jahrhundert gestiftete Liaison von
Schrift und Innerlichkeit verflüssigt die Grenzen zwischen Wort und Bild mit
Hilfe der Träne, die das Fließende und Überschreitende ebenfalls
metaphorisch und materialiter darstellt. Ist die Fixierung in Schrift- und
Bildzeichen der paradoxe Versuch, das Transitorische und Flüchtige zu
bannen, oder gerät die Darstellungsform, das Zeichenmaterial selbst, in den
Prozess der Verflüssigung und Auflösung? Die hier skizzierten Fragen von
Entäußerung und Entgrenzung, von Medienreflexivität und Affektübertragung
bieten erste Ansätze zu einer Diskussion der Tränen, Ansätze, die, so hoffen
wir, in verschiedenste Richtungen überschritten werden.
Programm:
Freitag, 3. November 2006
14.00 Uhr
Beate Söntgen und Geraldine Spiekermann
Begrüßung und Einführung
Moderation: Geraldine Spiekermann
14.30 Uhr
Barbara Vinken (München)
Tränende und trockene Herzen
15.30 Uhr
Christiane Voss (Berlin)
Zum Leib-Seele-Verhältnis beim Lachen und Weinen
16.30 Uhr
Pause
17.00 Uhr
Joseph Imorde (Berlin)
Die Gabe der Tränen
18.00 Uhr
Manfred Schneider (Bochum)
Tränen vor Gericht
Samstag, 4. November 2006
Moderation: Peter Risthaus
10.00 Uhr
Beate Söntgen (Bochum)
Schauplätze des Weinens
11.00 Uhr
Hermann Kappelhoff (Berlin)
Das sentimentale Genießen. Die Inszenierung künstlicher Gefühle im
melodramatischen Kino
12.00 Uhr
Pause
12.15 Uhr
Jörg Wiesel (Basel)
In Tränen lesen. Politik der Trauer bei Franz Grillparzer
13.15
Mittagspause
Moderation: Beate Söntgen
14.15
Irmgard Müller (Bochum)
Dakryologia: Physiologie und Pathologie der Tränen aus medizinhistorischer
Sicht
15.15 Uhr
Jörn Steigerwald (Bochum)
Lust-Tränen. Das Zerfließen des empfindsamen Subjekts im libertinen Raum
16.15 Uhr
Pause
16.45
Claudia Benthien (Hamburg)
Perverse Liebe oder Die Tränen des Eros (Kleist, Jahnn, Strauß)
17.45 Uhr
Pause
18.00 Uhr
Georges Didi-Huberman (Paris)
The Image as Lament (Vortrag in englischer Sprache)
Sonntag, 5. November 2006
Moderation: Vera Beyer
10.00 Uhr
Gerald Schröder (Bochum)
"Weinkrampf" - Tränen im gespaltenen Selbstbildnis von Arnulf Rainer
11.00 Uhr
Petra Löffler (Regensburg)
Fluid(um). Über die Medialität der Träne
12.00 Uhr
Pause
12.15
Geraldine Spiekermann (Bochum)
Das Polaroid als Reliquie
Tagungsort: Situation Kunst (für Max Imdahl) - Haus Weitmar, Schloßstr. 1a,
44795 Bochum
Konzeption: Beate Söntgen, Geraldine Spiekermann
Anmeldung und Fragen: geraldine.spiekermannrub.de, Tel: 0234-3222552.
Tagung und Publikation werden gefördert durch den Verein Situation Kunst -
Haus Weitmar, einen privaten Sponsor und vom Ministerium für Innovation,
Wissenschaft, Forschung und Technologie des Landes Nordrhein-Westfalen.
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Geraldine Spiekermann
Wissenschaftliche Mitarbeiterin
Ruhr-Universität Bochum
Fakultät für Geschichtswissenschaft
Kunstgeschichtliches Institut
Gebäude GA 6/160
Universitätsstr. 150
D-44801 Bochum
Telefon: +49(0)234 32- 22552
mail: geraldine.spiekermannruhr-uni-bochum.de
Reference:
CONF: Traenen (Bochum, 3-5 Nov 06). In: ArtHist.net, Oct 12, 2006 (accessed May 13, 2025), <https://arthist.net/archive/28630>.