Forum:
Kultur der Urbanität. Die dichte Stadt im 20. Jahrhunder
Von Wolfgang Sonne, Department of Architecture, University of
Strathclyde in Glasgow
E-Mail: <w.sonnestrath.ac.uk>
Die Historiografie des Städtebaus im 20. Jahrhundert konstatiert
üblicherweise zwei revolutionäre Brüche: der erste besteht in der Abkehr
von der traditionellen dichten Stadt des 19. Jahrhunderts durch die
antiurbanen, landschaftsbetonenden Modelle der Avantgarde wie Ebenezer
Howards "Garden City" (1898), Bruno Tauts "Auflösung der Städte" (1920),
Le Corbusiers "Il faut tuer la rue corridor" (1925), Frank Lloyd Wrights
"Broadacre City" (1935) oder Hans Scharouns "Stadtlandschaft" (1946);
der zweite wird markiert durch die Rückkehr der Postmoderne zu
traditionellen Stadtformen und -konzepten wie in Aldo Rossis
"Architettura della città" (1966), Rob Kriers "Stadtraum in Theorie und
Praxis" (1976), Andres Duanys Seaside und der Bewegung des New Urbanism
(ab 1980) oder Joseph Paul Kleihues' Internationaler Bauausstellung in
Berlin und der "kritischen Rekonstruktion" (1984/87).[1]
Entgegen dieser Revolutionsmythen – meist getragen von den Helden der
jeweiligen Entwicklung selbst – lässt sich ebenso eine Geschichte
zeichnen, in der Vorstellungen einer urbanen "dichten Stadt" das ganze
20. Jahrhundert hindurch verfochten und verwirklicht wurden.[2] Der
Begriff der dichten Stadt definiert sich nicht allein durch die
numerische Bevölkerungsdichte, sondern bezieht eine Reihe kultureller
Aspekte mit ein, die bei den jeweiligen Planungen eine Rolle spielten,
wie:
- Mischung von Funktionen
- Soziale Integration
- Gebäudedichte
- Öffentliche Plätze
- Architektonisch definierte Räume
- Architektur mit urbanem Charakter
- Beachtung typologischer und regionaler Traditionen
- Kulturelle Auffassung von Stadt
Die These lautet deshalb: Städtebau im 20. Jahrhundert war nicht allein
von den avantgardistischen Stadtauflösungstendenzen dominiert, er war
ebenfalls nicht allein von revolutionären Brüchen geprägt. Vielmehr
fanden das ganze Jahrhundert heftige Diskussionen zwischen "Urbanisten"
und "Desurbanisten" statt, bei denen zu keiner Zeit eine Partei die
alleinige Herrschaft reklamieren konnte. Urbanisierung und Urbanität
erscheinen vor diesem Hintergrund in einem neuen Licht. Sie sind weit
weniger radikalen Wechseln unterworfen, die meist durch historische
Daten der politischen, ökonomischen oder sozialen Geschichte markiert
werden. Vielmehr erweist sich die dicht gebaute Stadt als überraschend
resistent gegen politisch, ökonomisch oder sozial motivierte Wechsel,
wie auch das Stadtleben, die kulturelle Urbanität, eher ein Phänomen der
longue durée denn der saisonalen Mode ist.
Reformierte Wohnblöcke der Großstadt 1890-1940
Eine zentrale Frage des frühen modernen Städtebaus war die der
Wohnungsreform. Diese war keineswegs auf Einfamilienhäuser in
Gartenstädten beschränkt, sondern bezog klassisch-städtische Typen wie
den Block mit ein. Gerade der großstädtische Wohnblock, zumeist mit
Geschäften und Gemeinschaftseinrichtungen als multifunktionale Einheit
ausgestattet, erwies sich als ein ergiebiges Experimentierfeld. Neben
der einfachen Randbebauung mit begrüntem Innenhof zur Verbesserung der
hygienischen Bedingungen operierten die Architekten mit internen
Straßen, internen Plätzen, Straßenhöfen oder kleinteiliger interner
Bebauung – um nur einige Varianten zu nennen. Die Typologie des Blocks
bot zudem den Vorteil, den Straßenraum mit spezifisch entworfenen
Fassaden zu definieren. Großstädtische Reformblöcke wurden sowohl für
Sozialwohnungen als auch für Luxusappartments verwendet.
Berlin war ein Zentrum der Blockreform, berühmt vor allem durch die
Arbeiterwohnbauten Alfred Messels in den 1890er Jahren.[3] Neben den
hygienischen Verbesserungen durch begrünte Höfe legte Messel auch Wert
auf ästhetische Verbesserungen durch malerische Fassaden, die ebenfalls
den Wohnwert der Häuser steigern sollten. Der Wettbewerb "Groß-Berlin"
(1908-10) erwies sich als Versuchsfeld für neue Blockkonfigurationen.
Bruno Möhring und Rudolf Eberstadt schlugen einen hybriden Superblock
vor, der die drei Sphären Großstadt, Kleinstadt und Land vereinte:
Innerhalb einer fünfgeschossigen Randbebauung befand sich eine
dreigeschossige Wohnstraße, die um einen niedrig bebauten Dorfplatz
zirkulierte.[4] Selbst im Berlin der 1920er Jahre, berühmt für seine
Vorortsiedlungen, wurden weiterhin Reformblöcke errichtet wie Erwin
Gutkinds Sonnenhof (1925) – nun im Stilgewand der Neuen Sachlichkeit,
doch mit Geschäft zur Straße.[5]
Auch in London spielte weit weniger das antiurbane Gegenmodell zur
Großstadt, die Gartenstadt, eine Rolle, als vielmehr die
innerstädtischen Wohnblöcke des London County Council (LCC). Vom ersten
Beispiel, dem Boundary Street Estate in Bethnal Green (1893), bis in die
späten 1930er Jahre wurden über 150 Blockanlagen errichtet, die sich
allesamt mit ihrer Typologie und ihrem Stil als Fortsetzung der
Großstadt verstanden.[6] Neben diesen metropolitanen Sozialwohnbauten
entstanden auch monumentale innerstädtische Luxuswohnhäuser, das
beeindruckendste sicherlich Gordon Jeeves' Dolphin Square in Westminster
(1938). Auch in Paris entstand moderner Wohnungsbau, der die Großstadt
zelebrierte. Als Ideenpool erwies sich der Wettbewerb der Fondation
Rothschild für einen Wohnblock in der Rue de Prague (1905), bei dem alle
erdenklichen Arrangements des städtischen Blocks getestet wurden, ohne
jedoch die raumbestimmende und multifunktionale Qualität des Stadthauses
aufzugeben.[7] Selbst in den 1920er und 30er Jahren folgte man bei der
Bebauung des Boulevard Peripherique diesem Modell des reformierten
Blocks – und nicht den Corbusianischen Visionen einer "Ermordung der
Korridorstraße".[8]
Ein anderes Zentrum bildete Amsterdam, in dem auf der Grundlage von
Hendrik Petrus Berlages Plan für Amsterdam-Süd (1917) das vielleicht
erfolgreichste metropolitane Erweiterungsquartier des 20. Jahrhunderts
mit Reformblöcken entstand.[9] In paradigmatischer Klarheit erscheint
das Modell des reformierten Blocks in Kay Fiskers Hornbaekhus in
Kopenhagen (1922/23).[10] Hier folgt eine einfache Blockrandbebauung
strikt dem leicht unregelmäßigen Stadtgrundriss. Auf diese Weise
entstehen ein geräumiger Gartenhof und eine eindeutige Definition des
Straßenraums. Die Fassade ist einerseits in traditionellen Materialien
und Formen gehalten, andererseits entwickelt sie durch die scheinbar
unendliche Repetition des immergleichen Fensterformates eine neuartige
Monumentalität des Alltags. Der Block bot neben anständigem Wohnraum,
ruhigem Erholungsraum und wohl definiertem Stadtraum ebenfalls die
Vorzüge städtischen Lebens: Im Erdgeschoss waren auch Läden
untergebracht.
Öffentliche Zentren und traditionelle Stadträume 1890-1940
Nach all den öffentlichen Boulevards und Plätzen des 19. Jahrhunderts
scheint der Städtebau des 20. Jahrhunderts eher auf die privaten
Wohnbedürfnisse zu fokussieren, versinnbildlicht in der Suche nach der
Wohnung für das Existenzminimum. Mindestens ebenso zutreffend kann
jedoch behauptet werden, dass der moderne Urbanismus überhaupt mit einer
Reflektion über öffentliche Platzanlagen begann. Ob malerisch oder
geometrisch, öffentliche Räume wurden als Zentrum der Stadt gesehen.
Klassische Typologien wie Boulevard, Platz, öffentliches Gebäude und
Monument wurden aufgegriffen und der modernen Großstadt nutzbar gemacht.
Gerade die öffentliche Sphäre war dabei dem Zugriff des Politischen
besonders stark ausgesetzt – jedoch gehört es zu den mittlerweile
widerlegten Märchen, dass allein totalitäre Systeme sich klassischer
Stadtfiguren bedienten. Traditionelle Formen waren in der öffentlichen
Sphäre besonders erfolgreich, da sie am ehesten von einer breiten
Öffentlichkeit verstanden werden konnten.
Den seinerzeit allgemein anerkannten Beginn des modernen Städtebaus
markierte Camillo Sittes Pamphlet "Der Städtebau nach seinen
künstlerischen Grundsätzen" (1889), in dem gestalterische Regeln für die
Anlage öffentlicher Plätze präsentiert wurden, gewonnen aus der
Untersuchung historischer Beispiele.[11] Der öffentliche Raum stand
ebenfalls im Mittelpunkt der nordamerikanischen City-Beautiful-Bewegung,
die nach der Aufsehen erregenden White City auf der World's Columbian
Exhibition in Chicago (1893) begann. Das erste realisierte Civic Center
war das von Cleveland nach dem Plan von Daniel Hudson Burnham (1903): Um
eine grüne Mall gruppierten sich öffentliche Bauten, die der Stadt eine
neue Wertschätzung der Gemeinschaftssphäre bescherten.[12] Werner
Hegemann und Elbert Peets' einflussreiches Buch "American Vitruvius. An
Architects' Handbook of Civic Art" (1922) kann mit seiner Sammlung
historischer und zeitgenössischer Beispiele als das definitive Manual
der City-Beautiful-Bewegung gelten (Abb. 1).[13]
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Abb. 1: Werner Hegemann und Elbert Peets, Arkaden und Kolonnaden aus dem
"American Vitruvius", 1922. Urbanität ist ein langer ruhiger Fluss:
Arkaden und Kolonnaden sind als ewig wiederkehrende urbane Pathosformeln
präsentiert. (Hegemann, Werner; Peets, Elbert, The American Vitruvius.
An Architects' Handbook of Civic Art, New York 1922)
Wenig überraschend leistete Italien, das Land der piazze, die schon
Sitte so stark angeregt hatten, einen gewichtigen Beitrag zur Gestaltung
des öffentlichen Raums im 20. Jahrhundert. Die Bauten und Pläne des
Novecento im Mailand der 1920er und 30er Jahre, vor allem vertreten
durch Giovanni Muzio und Giuseppe de Finetti, waren alle von einer
Bejahung der modernen Großstadt geprägt und bereicherten den
öffentlichen Raum mit modernisiert-klassizistischen Fassaden.[14]
Besonders die Plätze und Straßen Marcello Piacentinis zelebrierten die
italianità mit dem Rekurs auf antike, mittelalterliche und
Renaissance-Vorbilder. Mit der Piazza della Vittoria in Brescia
(1928-32) legte er im Herzen der Stadt einen architektonisch
wohldefinierten Platz an, der mit einer Post, Banken, Geschäften, Cafés,
Restaurants, Büro- und auch Wohnräumen eine typisch urbane
Funktionsmischung bot, die auch unabhängig von seinen faschistischen
Auftraggebern bestens funktioniert. Sein Entwurf der Via Roma in Turin
(1935-37) basierte zwar auf dem Typus der römischen Kolonnadenstraße,
diente aber modernen Zwecken von Büro- und Geschäftsbauten (Abb.
2).[15]
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Abb. 2: Marcello Piacentini, Via Roma in Turin, 1935-37. Die
Kolonnadenstraße bezieht sich ebenso auf den Ruhm des Römischen
Imperiums wie sie Teil der zeitgenössischen internationalen "Civic Art"
ist. (Lupano, Mario, Marcello Piacentini, Rom 1991)
Die ästhetische und semantische Aufwertung des Stadtraumes durch
kleinere Eingriffe und Monumente leistete José Plecnik in Ljubljana in
den 1920er und 30er Jahren.[16] Ein typisch munizipales Projekt stellte
die Errichtung des neuen Rathauses in Oslo nach den Plänen von Arnstein
Arneberg und Magnus Poulsson dar. Zwischen 1930 und 1950 entstand nicht
nur ein monumentaler städtischer Bau in reduktiv-modernistischen Formen,
sondern ebenfalls ein zugehöriger Stadtplatz, der dem Vorbild des Campo
in Siena folgte.[17] Zahllose andere demokratische Beispiele könnten
belegen, dass die Formung klassischer öffentlicher Stadträume keineswegs
eine Domäne der Diktaturen war und mit diesen desavouiert sei.
Hochhäuser als Generatoren von öffentlichen Räumen 1910-1950
Das Hochhaus als neuer Bautyp entstand in den USA im späten 19.
Jahrhundert aus rein privatwirtschaftlichen Interessen und tendierte
dazu, die öffentliche Sphäre rücksichtslos zu vereinnahmen. Schon bald
nach seiner Erfindung jedoch versuchten Architekten, das Hochhaus zu
domestizieren und der Stadt nutzbar zu machen. Neue metropolitane
Stadträume wie sunken plazas, Boulevards mit Türmen, cours d'honneurs
vor Hochhäusern oder Hochhäuser als points de vue im Straßennetz
entstanden. Alle diese Beispiele – die wiederum vom kapitalistischen
Westen bis zum sozialistischen Osten reichten – schufen wohl definierte
Stadträume, im Unterschied zum antiurbanen Modell des isolierten
Hochhauses im Grünen.
Erste Ideen, Wolkenkratzer zur Akzentuierung der Stadtsilhouette
einzusetzen, entstanden 1909 sowohl in Amerika als auch in Europa. In
ihrem "Plan of Chicago" (1909) schlugen Daniel Hudson Burnham und Edward
Herbert Bennett ein neues Civic Center als Turmhaus vor; seine Ville de
l'avenir präsentierte Eugène Hénard mit einem Kranz von Hochbauten.[18]
Eines der prominentesten Beispiele einer Hochhausanlage, die neue
öffentliche Räume in die Stadt einführte, ist das Rockefeller Center in
New York (1929).[19] Auf privatem Baugrund legten die Investoren eine
Esplanade, eine sunken plaza und eine Reihe von Dachgärten an und
multiplizierten auf diese Weise die Ebenen des öffentlichen Raumes (Abb.
3). Darüber hinaus trug die Mischung von Geschäften, Cafés,
Veranstaltungshallen, Kulturinstitutionen und Büroräumen, alles in
Bauten untergebracht, die sich mit ihren exquisiten Fassaden an den
Flaneur wendeten, dazu bei, dass einer der erfolgreichsten öffentlichen
Räume in Manhattan entstand.
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Abb. 3: Harvey Wiley Corbett, Entwurf für das Metropolitan Opera House
(später Rockefeller Center) in New York, 1928. Flankierende Arkaden
sollen einen Platz schaffen, der Michelangelos Kapitol in die moderne
Hochhausstadt übersetzt. (Balfour, Alan, Rockefeller Center.
Architecture as Theatre, New York 1978)
Diesem Produkt kapitalistischer Spekulation lassen sich europäische
Beispiele entgegenstellen, die ähnliches mit sozialistischem Hintergrund
erreichten. Geradezu einen Urbanisierungssprung stellte die Errichtung
von Les Gratte-Ciels (1930) als neuem Zentrum von Villeurbanne dar.[20]
Hochhäuser mit Wohnungen und Geschäften säumten einen zentralen
Boulevard, Hochhäuser markierten die Fluchtpunkte, ein Arbeiterpalast
dominierte den öffentlichen Platz – all dies urbanisierte und
monumentalisierte die proletarische Peripherie Lyons. Voller politischer
Repräsentationsabsichten steckte Stalins Projekt zur Errichtung von
Hochhäusern als Kranz um die neue Stadtkrone des turmartigen
Sowjetpalastes (1949).[21] Diese Bauten besetzten nicht nur sinnvolle
Orte im Gesamtplan der Stadt, sondern integrierten sich mit ihren
unterschiedlichen Funktionen, ihrer städtebaulichen Ausrichtung auf
Straßen und Plätze sowie mit ihrem Stil in die bestehende Großstadt.
Wenn sie auch vom Sieg des Sozialismus über den Klassenfeind künden
sollten, so folgten sie doch gerade Beispielen der kapitalistischen
Bauproduktion in New York und zeigen einmal mehr, dass städtische und
architektonische Formen nicht in den politischen Ambitionen ihrer
Auftraggeber aufgehen müssen.
Traditionalistische Rekonstruktionen 1940-1960
Der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg ist dafür berüchtigt, den
Städten mehr Schaden zugefügt zu haben als die Zerstörungen des Krieges.
Tatsächlich nutzten einige Planer die Chance, ihre Visionen einer
durchgrünten, aufgelockerten und verkehrgerechten Stadtlandschaft zu
realisieren. Dagegen gab es aber – selbst in den Zeiten des florierenden
Funktionalismus in Folge der "Charta von Athen" (1943) – zahlreiche
Beispiele, die eine dichte städtische Bebauung zu rekonstruieren, wieder
zu erfinden oder neu zu definieren trachteten. Ob Traditionalismus in
Westdeutschland, Sozialistischer Realismus in Osteuropa, ob moderner
Klassizismus in Frankreich oder Townscape-Bewegung in Großbritannien –
alle diese Richtungen planten nicht die Auflösung der Städte, sondern
folgten einem dezidiert urbanen Ideal.
Selbst in London – bekannt für seine Garden Cities Letchworth (1903) und
Welwyn (1920), den avantgardistisch-linearen MARS-Plan (1942) und den
pragmatisch-dezentralisierenden Abercrombie-Plan (1944) – bestand die
erste Reaktion of die Zerstörung durch deutsche Bombenangriffe im
klassisch-metropolitanen Plan der Royal Academy mit der Unterstützung
durch Edwin Landseer Lutyens (1942). Sein System von Boulevards und
squares und seine dichten Stadtblöcke können als Adaptierung von
Haussmanns Paris an die Anforderungen des 20. Jahrhunderts gedeutet
werden.[22] In Frankreich bildete der Wiederaufbau von Le Havre nach den
Plänen von Auguste Perret (1945) das umfassendste Beispiel von
Modernisierung, die dennoch einem urbanen Ideal mit klassischen
Stadtelementen wie Boulevard, Platz, Block und Monument folgte. Selbst
die Architektur – vom Meister des Stahlbetons ganz modern konstruiert –
lehnte sich mit Kolonnaden, stehenden Fensterformaten und tektonischer
Fassadengliederung an die Tradition des französischen Klassizismus an
(Abb. 4).[23]
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Abb. 4: Auguste Perret, Rue de Paris in Le Havre, 1945-50. Kolonnaden
und tektonisch gegliederte Fassaden formen eine modernisierte Version
des französischen Klassizismus und der Rue de Rivoli in Stahlbeton.
(Abram, Joseph u.a. [Hgg.], Les frères Perret. L'oeuvre complète, Paris
2000)
In Osteuropa herrschte das Diktat des Sozialistischen Realismus, das
eine Rekonstruktion der Stadtzentren mit traditionellen Stadtelementen
und Architekturstilen vorsah, auch wenn die neuen Bauten meist einen
völlig neuen Maßstab in die bestehenden Städte brachten.[24] Das
überzeugendste Beispiel eines neuen Stadtplatzes in der DDR bietet der
Altmarkt in Dresden nach den Plänen von Herbert Schneider und Johannes
Rascher (1952), dessen neubarocke Stadthäuser mit ihren Arkaden und
ihrer Nutzungsmischung von Geschäften, Cafés, Büro- und Wohnräumen in
sozialistischen wie kapitalistischen, in totalitären wie in
demokratischen Zeiten gleichermaßen gut funktionieren.[25] Selbst in der
Bundesrepublik folgten einige Wiederaufbauplanungen nicht der
antiurbanen Grün- und Verkehrsideologie. Das erfolgreichste Beispiel
einer traditionsbewussten Modernisierung im großstädtischen Maßstab
stellt wohl München dar, dessen innerstädtische Straßenzüge zumeist das
Resultat dezenter Stadthäuser der 1950er Jahre sind.[26]
Desurbanisierung war nach dem Zweiten Weltkrieg keine historische
Notwendigkeit, sondern eine dezidierte Position, zu der es gewichtige
Gegenpositionen gab.
Restaurierung historischer Stadtzentren 1960-1980
Nach den ersten Erfahrungen mit modernistischen Städtebauprojekten, die
bisweilen ganze Stadtquartiere flachlegten, gewann die Frage der
Erhaltung historischer Bauten, Viertel und Städte eine neue
Dringlichkeit. Der Denkmalschutz wurde auf die Umgebung einzelner
Monumente ausgedehnt, ganze Städte konnten einen geschützten Status
erlangen. Die Erhaltung historischer Bausubstanz war das eine, die
Weiterentwicklung der Städte mit Rücksicht auf das Bestehende war das
andere. Hierfür wurde die Theorie der urbanen Typologie entwickelt, die
ein Entwerfen gemäß den Regeln historischer Bautypen ermöglichen sollte,
ohne dabei exakt kopieren zu müssen. Dies unterstrich zum einen die
Rolle der Architektur im Städtebau, andererseits betonte es die
kulturellen Aspekte der Stadt und ihre notwendige Gebundenheit an die
Geschichte.
Saverio Muratori entwickelte in seinen "Studi per una operante storia
urbana di Venezia" (1960) die Technik des typologischen Stadtplans, der
nicht allein öffentliche Räume und Bauten, sondern auch Pläne der
Privathäuser zeigte, um die Haustypen erkennen zu können. Diese Methode
inspirierte Aldo Rossi zu seiner Theorie der Stadtarchitektur in
"L'architettura della città" (1966), bei der er zwischen primären
Elementen (den monumentalen Bauten) und gewöhnlichen Stadthäusern
unterschied. Während die Monumentalbauten oftmals physisch die Zeiten
überdauerten, würden die Privatbauten in kürzeren Fristen erneuert,
behielten dabei aber zumeist ihren Typus bei. Indem so die bestehende
Architektur für die Stadt bestimmender wurde als die jeweils aktuelle
Funktion, kehrte er gleichfalls das funktionalistische Dogma der "Charta
von Athen" um. Im Fall der Restaurierung des Stadtzentrums von Bologna
in den 1970er Jahren wurde diese Theorie flächendeckend verwendet.[27]
Während historische Monumente in ihrer physischen Integrität bewahrt
wurden, wurden die Wohnhäuser analog den historischen Typen restauriert
und modernisiert.
Revitalisierung amerikanischer Städte 1960-2000
In Amerika, wo der Geist der Urbanität seit dem 19. Jahrhundert zwischen
dem puristischen Traum vom Landleben und den ungebremsten Interessen der
privaten Spekulation unterzugehen drohte, war die Produktion von
Municipal Spirit und Civic Art stets eine kritische Aufgabe. Deshalb
verwundert es nicht, die früheste Kritik an modernistischen
Planungsstrategien und die Forderung nach Bürgerbeteiligung in den USA
entstehen zu sehen. Ästhetische, soziale, politische und ökonomische
Aspekte wurden kombiniert, um Revitalisierungsstrategien für
amerikanische Städte zu entwickeln. Dies mündete in die Bewegung des New
Urbanism, der als umfassendes Urbanisierungsprogramm des Suburban Sprawl
die heute kohärenteste Städtebaubewegung darstellt.
Die einflussreichen Publikation zu Beginn dieser Periode waren Kevin
Lynchs "The Image of the City" (1960) und Jane Jacobs' "Death and Life
of Great American Cities" (1961). Der erstere untersuchte die Lesbarkeit
der Stadt, indem er Wahrnehmungsweisen des Individuums analysierte und
fünf wesentliche Elemente der Orientierung extrapolierte: Wege, Grenzen,
Gebiete, Knotenpunkte und Monumente. Die letztere führte essentielle
Theoreme wie Funktionsmischung, soziale Durchmischung und die
Vermischung von Architekturen aus unterschiedlichen Zeiten in die
Stadtplanung ein. Beide kritisierten eine funktionalistische
Planungsideologie, noch bevor diese zu ihren eigentlichen
Zerstörungstaten schreiten sollte. Erst in den 1970er Jahren sollten mit
Baltimores Harbour Place und Bostons Quincy Market (1976) Projekte
entstehen, die innerstädtische Gebiete mit ihren historischen Bauten und
öffentlichen Stadträumen revitalisierten.[28] Als Pionierprojekt einer
stadtkonformen Erweiterung fungierte Battery Park City in New York, bei
der sich 1979 in den Plänen von Alexander Cooper und Stunton Eckstut die
Planungsideologie von autonomen Megastrukturen zu einer Fortsetzung des
Stadtrasters von Manhatten wandelte.[29] Auch die Bauten Cesar Pellis
versuchten, das Bild von Art-Deco-Wolkenkratzer zu evozieren.
Mit der Anlage von Seaside in Florida nach den Plänen von Andres Duany,
Elisabeth Plater-Zyberk und Leon Krier (1980), bei dem sich erstmals
eine neue Ansiedlung an traditionellen Stadtstrukturen orientierte,
entstand in den USA die Bewegung des New Urbanism. Nach anfänglicher
Konzentration auf die Urbanisierung suburbaner Wohngebiete entwickelte
sie umfassende Stadtkonzepte, die mittlerweile auch in den Zentren der
Metropolen wie beispielsweise Chicago oder Milwaukee angekommen
sind.[30] Im Mittelpunkt steht die Überwindung der etwa von Richard
Sennett kritisierten Monadisierung der Stadtgesellschaft durch
fußgängerfreundliche Stadträume mit gemischten Funktionen und
ansprechenden Architekturen, die einen neuen städtischen Gemeinsinn
ermöglichen sollen. Mit "The New Civic Art" legten 2003 Andres Duany,
Elisabeth Plater-Zyberk und Robert Alminana ein umfassendes Manual der
Bewegung vor, das sich mit seiner Anspielung auf die oben erwähnte
"Civic Art" von Hegemann und Peets absichtsvoll in eine langfristige
Städtebautradition stellt.
Reparation von Industrialisierung und Modernisierung in europäischen
Städten 1970-2000
Die Postmoderne im Städtebau war eine direkte Reaktion auf die
Planungsstrategien der avantgardistischen Moderne. Zunächst wurde in
polemischen Essays der Verlust urbaner Kultur beklagt, dann entstanden
theoretische Projekte zur Reparation des Stadtraums, schließlich wurden
modellhafte Planungen realisiert. Hinzu trat die Notwendigkeit,
innerstädtische Areale, die im Zuge der Deindustrialisierung verlassen
worden waren, in den städtischen Kontext einzubinden. Ansätze wie die
Kritische Rekonstruktion in Deutschland, die Stadterneuerung in Spanien,
die Typomorphologie in Frankreich und die Urban Renaissance in
Großbritannien zielen alle auf eine Reparation der städtischen Textur,
der öffentlichen Sphäre und der städtischen Kultur.
Die ersten kritischen Stimmen an den zerstörerischen Folgen antiurbaner
Modernisierung erhoben sich in Deutschland schon bald. Wolf Jobst
Siedler prangerte 1964 in "Die gemordete Stadt" den Verlust urbaner
Kultur vor allem unter einem ästhetischen Blickwinkel an. Alexander
Mitscherlich stellte dem 1965 in "Die Unwirtlichkeit unserer Städte"
einen psychologischen und soziologischen Blickwinkel zur Seite. Doch bis
zu ersten Reformprojekten sollten noch einige Jahre vergehen. 1973
erarbeitete Rob Krier eine grundlegende Studie zum Umbau der Innenstadt
von Stuttgart. [31] An Stelle offener Stadtbrachen und
stadtzerschneidender Autobahnen sah er architektonisch wohl definierte
Platzsequenzen vor, die die Innenstadt dem Fußgänger zurückgeben
sollten. Umgesetzt wurden solche Strategien der Stadtreparatur auf der
Internationalen Bauausstellung (IBA) in Berlin 1984/87 unter Josef Paul
Kleihues.[32] Unter dem Stichwort der "Kritischen Rekonstruktion" wurde
der Stadtplan in Anlehnung an traditionelle Elemente repariert und
ergänzt. Die Bauten folgten traditionellen Typologien, spiegelten aber
die ganze stilistische Breite der zeitgenössischen Architekturszene
wieder. Diese Planungsphilosophie wurde dann zur Grundlage der
Stadtbaupolitik nach der Wiedervereinigung 1990. Am Potsdamer Platz
entstand ein extrem dichtes, durchmischtes und belebtes Quartier auf der
Basis eines gewöhnlichen Blockrasters mit der Absicht, ein "europäisches
Stadtquartier" zu errichten. [33] Besonders die Bauten Hans Kollhoffs
bemühen sich um eine architektonische Definition von Urbanität (Abb.
5).
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Abb. 5: Hans Kollhoff, Walter-Benjamin-Platz in Berlin, 1995-2001. Der
Archetyp der Kolonnadenstraße ist hier zum Platz umgedeutet, tektonisch
gegliederte Fassaden knüpfen an lokale klassizistische Stadtarchitektur
an. (Kollhoff, Hans, Architektur, München 2002)
Barcelona nach den Plänen von Oriol Bohigas ab 1980 ist ein weiteres
führendes Beispiel der stadtkonformen Modernisierung.[34] Je nach Ort
war hier die Strategie unterschiedlich: Erweiterungen folgten dem Modell
des reformierten Blocks auf der Basis von Ildefonso Cerdàs historischem
Plan, die mittelalterliche Innenstadt wurde vor allem durch das Einfügen
neuer Plätze aufgewertet, womit zugleich die hygienischen
Wohnbedingungen und der öffentliche Raum verbessert wurden. Auch Paris
erlebte in den 1980er Jahren die Rückkehr zur traditionellen Stadt: Neue
Wohnquartiere wie etwa in Bercy folgten der Typologie des städtischen
Blocks, neue öffentliche Monumente wie die Grands Projets von François
Mitterand markierten entscheidende Punkte des bestehenden
Stadtnetzes.[35] Alle diese europäischen Projekte – zumeist von
sozialistischen Regierungen initiiert – zielten auf eine Erneuerung der
städtischen Kultur und des Bürgersinns durch die Einbeziehung
unterschiedlicher sozialer Gruppen und Schichten, die Definition
öffentlicher Stadträume, die Kombination unterschiedlicher Nutzungen und
die Fortsetzung traditioneller Stadttypologien und -architekturen.
Schluss
Dieser Überblick zeigt, dass Stadtplanung im 20. Jahrhundert keineswegs
nur avantgardistischen Modellen folgte, die es auf eine Überwindung und
Auflösung der Stadt abgesehen hatten. Trotz Gartenstadt, linearer Stadt,
aufgelockerter Stadt, verkehrsgerechter Stadt, zonierter Stadt und
Stadtlandschaft gab es das ganze 20. Jahrhundert hindurch Initiativen
und Bewegungen, die an Modellen der dichten Stadt arbeiteten, d.h. einer
Stadt, die durch zusammenhängende Bebauung, klar definierte öffentliche
Räume, städtische Architektur, Mischung der Nutzungen, soziale
Durchmischung und historische Kontinuität, kurzum: durch Urbanität
geprägt war. Ein Ende der Urbanisierung ist keineswegs in Sicht, im
Gegenteil: Die bewussten Urbanisierungstendenzen mit der Absicht,
Stadtkultur zu schaffen, haben sich gerade in den letzten 25 Jahren
weltweit massiv verstärkt.
Diese Erkenntnisse haben zum einen Folgen für die Historiografie der
Stadt und des Städtebaus im 20. Jahrhundert. Es ist nicht länger
angemessen, die antiurbanen Heroen der Avantgarde wie Howard, Taut,
Gropius, Le Corbusier oder Wright als die entscheidenden Ideengeber
darzustellen. Weitaus nachhaltiger – sowohl in Hinsicht auf die Substanz
ihrer Theorien als auch den Erfolg ihrer gebauten Beispiele – sind
dagegen die Beiträge von Sitte, Burnham, Hegemann, Berlage, Saarinen,
Piacentini, Perret oder Rossi, um neben den zahlreichen weniger
bekannten Stadtbaumeistern ein paar heldenfähige Namen zu nennen. Es
wäre eine zentrale Aufgabe der Stadtbaugeschichte, die sozusagen anonyme
Stadtarchitektur zu untersuchen, die selbst zwischen 1930 und 1980 dem
traditionellen Muster des Stadthauses im urbanen Block folgte, meist mit
Funktionsmischung von Geschäften im Erdgeschoss und Wohn- oder
Büroräumen in den oberen Geschossen sowie einer urbanen Fassade zur
Straße.
Zum anderen haben sie Folgen für das Verständnis von Urbanisierung und
Urbanität. Hier gilt es, die gebaute städtische Form und die Stadtkultur
als unhintergehbare Faktoren mit einzubeziehen. Nicht jeder politische
Wechsel hat entscheidende Folgen für den Städtebau, nicht jede soziale
Veränderung erfordert eine Veränderung der Stadtform, nicht jede
ökonomische Entwicklung schlägt sich automatisch im Stadtbild nieder,
nicht jede technische Innovation hat Folgen für das Stadtbild. Die
gebaute Stadt entwickelt im Lauf der Geschichte ein Eigenleben, die
Stadtkultur entwickelt eine Sphäre mit eigenen Gesetzlichkeiten. In
diesem Sinn sind Sebastien Merciers Beschreibungen des Pariser
Stadtlebens aus den 1780er Jahren unseren Vorstellungen von Urbanität
noch erstaunlich viel näher als aktuelle Visionen des Global Village –
ungeachtet aller politischen, sozialen, ökonomischen und technischen
Revolutionen, die in der Zwischenzeit stattgefunden haben. Und dies hat
weniger mit der Antiquiertheit unserer Vorstellungen von Urbanität zu
tun, als vielmehr mit der Dauerhaftigkeit des Gegenstands selbst.
Wolfgang Sonne ist Lecturer für Geschichte und Theorie der Architektur
am Department of Architecture der University of Strathclyde in Glasgow.
E-Mail: w.sonnestrath.ac.uk
Literaturempfehlungen:
Cohen, Jean-Louis, Urban Architecture and the Crisis of the Modern
Metropolis, in: Koshalek, Richard; Smith, Elizabeth A. T. (Hgg.), At the
End of the Century. One Hundred Years of Architecture, Los Angeles 1998,
S. 229-274
Dethier, Jean; Guiheux, Alain (Hgg.), La Ville. Art et architecture en
Europe 1870-1993, Paris 1994
Duany, Andres u.a., Suburban Nation. The Rise of Sprawl and the Decline
of the American Dream, New York 2000
Koolhaas, Rem, Delirious New York. A Retroactive Manifesto for
Manhatten, London 1978
Magnago, Vittorio Magnago, Architektur und Staedtebau des 20.
Jahrhunderts, Stuttgart 1980
Sonne, Wolfgang, Culture of Urbanity. Traditions of Center Planning in
20th Century Urbanism, Ausstellungsposter, Zurich 2000, siehe:
<http://web.bsu.edu/perera/iphs/Exhibition1.htm> (10.09.2006)
Ward, Stephen V., Planning the Twentieth-Century City. The Advanced
Capitalist World, Chichester 2002
Anmerkungen:
[1] Hall, Peter, Cities of Tomorrow. An Intellectual History of Urban
Planning and Design in the Twentieth Century, Oxford 1988; Dethier,
Jean; Guiheux, Alain (Hgg.), La Ville. Art et architecture en Europe
1870-1993, Paris 1994; Cohen, Jean-Louis, Urban Architecture and the
Crisis of the Modern Metropolis, in: Koshalek, Richard; Smith, Elizabeth
A. T. (Hgg.), At the End of the Century. One Hundred Years of
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Quellennachweis:
FORUM: W. Sonne: Kultur der Urbanitaet. In: ArtHist.net, 13.09.2006. Letzter Zugriff 15.01.2025. <https://arthist.net/archive/28484>.