(english version below)
DAS MITTELALTER, ZEITSCHRIFT DES MEDIÄVISTENVERBANDES
Themenheft: „Kleine Dinge von größerer Bedeutung: Die Erforschung der sensorischen Beziehung des mittelalterlichen Menschen zu den Objekten“
Special Issue: “Small Things of Greater Importance: Exploring the Sensory Relationship of Medieval People and Objects”
Während die Erforschung der materiellen Kultur seit Langem etabliert ist, steht die Analyse der dynamischen sensorischen Beziehung zwischen Objekten und Menschen noch immer an ihrem Anfang. Vom „material turn“ inspirierte Untersuchungen haben ergeben, dass insbesondere die kleinen Dinge, die nicht größer als eine Hand sind, eine bestimmte Wirkungskraft besitzen: Sie hatten einmal einen besonderen Stellenwert im Leben der Menschen. Das Miniaturformat verstärkt das Potenzial der Objekte: Es erzwingt und aktiviert persönliche Beziehungen zwischen den Dingen und ihren Besitzern oder Nutzern. Kleine Objekte wie beispielsweise Gebetsnüsse, Spinnwirtel oder Münzen unterscheiden sich von großformatigeren Gegenständen wie Schreinen, Altären oder Truhen, da sie eine andersartige Erfahrung vermitteln. Kleine Dinge sind meist tragbar und stehen häufig in intimem Kontakt mit dem menschlichen Körper. Aus diesem Grund werden sensorische und emotionale Erlebnisse von kleinen Artefakten ausgelöst und mit ihnen verknüpft.
Ein interdisziplinärer Dialog über die Frage, wie mittelalterliche Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen mit kleinen Objekten umgingen, hilft uns, die komplizierte sensorische Beziehung zwischen Menschen und Dingen zu verstehen. Diese Beziehung braucht sich nicht auf die positiven emotionalen Erfahrungen zu beschränken, sondern kann das gesamte Spektrum menschlicher Gefühle umfassen. Dieses Themenheft sucht nach neuen Wegen, um das Sozialleben der kleinen Dinge zu erforschen: Mit Blick auf den Geschmacks-, Seh-, Tast-, Geruchs- und Gehörsinn fragen wir uns, weshalb Kleinobjekte vom mittelalterlichen Menschen gehegt, gepflegt und oft auch bewundert wurden. Zu diesem Zweck begrüßen wir ausdrücklich Beiträge von Wissenschaftler*innen aus den unterschiedlichsten Disziplinen, die sich mit der europäischen und globalen Geschichte des Mittelalters beschäftigen.
Wir sind davon überzeugt, dass die Untersuchung der „kleinen Dinge von größerer Bedeutung“ unseren Kolleginnen und Kollegen aus der mittelalterlichen Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft, Philosophie und Theologie bis hin zur Archäologie, Geografie und Medizin Gelegenheit bietet, die Debatte über die Art und Weise, wie kleine Dinge als Vehikel sensorischer Erfahrungen dienten, zu vertiefen:
- Artefakte, die um den Hals getragen und in der Hand gehalten wurden, wie etwa eine spätmittelalterliche, kunstvoll geschnitzte Gebetsnuss mit Miniaturszenen aus dem Leben Christi, die die innere Andacht fördern sollte, konnten sowohl durch Berührung, Bewegung und Anblick als auch durch ihre Materialität aktiviert werden. Die sensorischen und materiellen Erfahrungen, die von den Objekten hervorgerufen wurden, trugen auch zu ihren emotionalen und memorialen Eigenschaften bei.
- Archäolog*innen haben herausgefunden, wie scheinbar profane Dinge ebenfalls besondere Beziehungen zum Körper gestiftet haben. So wird beispielsweise der Spinnwirtel als ein Gegenstand verstanden, in den die Kenntnis des Spinnens, aber auch die Erinnerung an das Tauschen und Schenken eingegangen ist. Kleinere persönliche Gegenstände können bisher Unbekanntes über die Identität einschließlich Geschlecht und Alter enthüllen.
- Literaturhistoriker*innen haben aufgezeigt, dass Miniaturobjekte in der (volkssprachigen) Literatur eine wichtige symbolische Rolle spielen, wie es zum Beispiel bei den Orangen in der persischen Geschichte Yusuf u Zulaykha von Jami der Fall ist. Das Obst wird als farbenfroh und schmackhaft beschrieben, aber auch seine beißende Wirkung wird erwähnt. Dinge wie diese, ob nun in Texten oder als Requisiten in Theaterstücken, sind oft mit starken Gefühlen behaftet und trotz ihres geringen Formats von ausschlaggebender Bedeutung für die Handlungsführung.
- Obwohl nicht immer das Hauptaugenmerk der Verfasser darauf liegt, kommen kleine Objekte in historischen Texten vor, beispielsweise im Zusammenhang mit Pilgerreisen, Wundern und Schenkungen. Im ersten Buch des Sachsenspiegels werden Haushaltsgegenstände (Paraphernalien) von Frauen beschrieben, die von Mutter zu Tochter vererbt wurden. Dies eröffnet Einblicke in familiäre Bindungen und die Bedeutung, die kleinere, tragbare Gegenstände für das Leben von Frauen hatten. Es wird auch in Testamenten sichtbar, in denen persönliche Gegenstände ebenfalls auftauchen.
- Insbesondere die Sinne spielen in den Schriften der Theologen und Exegeten eine wichtige Rolle. Über Augen und Ohren können die Menschen geistlich unterwiesen sowie moralisch in Versuchung geführt werden. Wir können uns die Auswirkung großer religiöser Objekte wie Moscheelampen oder bunter Kirchenfenster auf die Spiritualität leicht vorstellen, aber wie haben kleine Objekte wie die Nägel bei der Kreuzigung Christi die Ideen der Theologen und Exegeten beeinflusst?
- Mediävist*innen, die an Emotionen interessiert sind, könnten beispielsweise untersuchen, inwieweit die kleinen Abbildungen, die die Seiten vieler Manuskripte oder größere Textilien wie den Krönungsmantel Roger II. von Sizilien zieren, Konzeptionen des Selbst im Geist der Schöpfer oder moralische Bedenken – wie die sexuelle Gewaltszene am Rand des Teppichs von Bayeux impliziert – offenbaren könnten. Deren große Ausdruckskraft enthüllt unausgesprochene emotionale Erfahrungen.
- Gewürze wie Nelken und Safran oder Farbstoffe wie Indigo waren kleine Dinge, die, aus Indonesien und Indien kommend, lange Strecken zurücklegen mussten. Natürlich hatten Gewürze einen ungeheuren sensorischen Effekt; winzige Dinge machten riesige Unterschiede aus. Das kann für Ernährungswissenschaftler*innen oder Medizinwissenschaftler*innen von Interesse sein.
Abstracts im Umfang von max. 650 Wörtern werden bis zum 31.5.2019 erbeten. Bitte senden Sie Ihre Vorschläge an Karen Dempsey (K.Dempseyreading.ac.uk) und Jitske Jasperse (jitske.jaspersehu-berlin.de)
Zeitplan 2019/2020 Das Mittelalter (eine peer reviewte Zeitschrift)
31.05.2019: Einsendung der Abstracts
Mitte Juli 2019: Zusage an die Autoren
07.01.2020: Einsendung des ausformulierten und formatierten Beiträge zum Peer Review
26.03.2020-27.03.2020: Autorenkonferenz in Berlin (weitere Infos werden später bekannt gegeben)
15.05.2020: Abgabe der überarbeiteten Beiträge (auf der Grundlage der Gutachten und der Workshopdiskussion)
Ende November 2020: Erscheinungstermin
DAS MITTELALTER, ZEITSCHRIFT DES MEDIÄVISTENVERBANDES
Special Issue: “Small Things of Greater Importance: Exploring the Sensory Relationship of Medieval People and Objects”
Themenheft: „Kleine Dinge von größerer Bedeutung: Die Erforschung der sensorischen Beziehung des mittelalterlichen Menschen zu den Objekten“
While the study of material culture is longstanding, the dynamic sensorial relationship of objects and people is a still emerging field. Research inspired by the material turn has acknowledged that especially small things, no bigger than one’s hand, have a particular agency: they played special roles in people’s lives. A miniature scale enhances objects’ potency: it forges and activates personal connections between items and their owners or users. Small objects, such as prayer nuts, spindle whorls or coins, differ from larger scale items, such as shrines, altars, or chests, because they offer an alternate experience. Small items are usually portable and often have an intimate relationship with the human body. For that reason, sensorial and emotional experiences were triggered by and connected to small artefacts.
An interdisciplinary dialogue addressing questions of how medieval people from different worlds engaged with small objects helps us to understand the entangled sensorial relationship of people and things. This does not have to be constrained by positive emotional experience but can capture the full spectrum of human feelings. This issue seeks new pathways to explore the social lives of small things; why they were curated, contemplated on, and often adored by medieval people through the sensorial lens of taste, sight, touch, smell, and sound. To this end we expressly welcome proposals by scholars from a variety of disciplines working on the European and Global Middle Ages.
It is our belief that studies of ‘small things of greater importance’ offer colleagues working in the disciplines from medieval art history, literature, philosophy and theology to archaeology, geography and medicine an opportunity to deepen discussions about how small things served as vehicles of sensory experiences:
- Artefacts worn around the neck and held in one’s hand, like a late medieval intricately carved prayer nut with miniature scenes from the life of Christ that were meant to stimulate private devotion, could be activated through touch, movement, and view as well as through its materiality. The sensorial and material experiences enticed by objects also contributed to their emotional and memorial qualities.
- Archaeologists have revealed how seemingly mundane items also mediated special relationships with the body. For example, spindle whorls, are understood to be embodied with knowledge of weaving but also with memories of exchange and gift-giving. Smaller personal items may reveal previously unknown things about identity including gender and age.
- Literary historians have shown that in (vernacular) literature, miniature objects play important symbolic roles, as is exemplified by the oranges in the Persian story Yusuf u Zulaykha by Jami. The fruit described as colourful and flavourful but noted too is their stinging qualities. Things like these, whether in texts or as props in plays are often imbued with strong emotional feelings, and despite their small scale are crucial to storytelling.
- Although not always writers’ primary concern, historical texts feature small scale objects, for example in connection to pilgrimage, miracles, and gift-giving. Book 1 of the Sachsenspiegel details household items (paraphernalia) inherited by women which were passed from mother to daughter. This gives insights into familial bonds and the important emphasis placed on smaller portable items in women’s lives. This is visible in wills where personal items also surface.
- The senses, in particular sight, play an important role in writings of theologians and exegetes. It is through the eyes and ears that people can be spiritually instructed, as well as morally tempted. We can easily imagine the impact of large religious objects such as mosque lamps or church stained glass on spirituality, but how did small objects such as the nails used in the crucifixion of Christ play a role in the ideas of theologians and exegetes?
- Medievalists interested in emotion may want to explore how the smaller images that wrap the pages of many manuscripts or form parts of larger textiles such as the coronation robe of Roger II of Sicily could reveal conceptions of self in the mind of the creators or moral musing such as the implied sexual assault scene hidden in the margins of the Bayeux Tapestry. Their expressivness captures unspoken medieval emotional experiences.
- Spices such as cloves and saffron or dyes like indigo were small things that travelled long distances from Indonesia and India. Spices of course, had an immense sensorial impact; the smallest of things may have made the biggest of differences. They could be of interest to food or medical scholars.
650-word abstracts can be submitted until 31 May 2019. Please send your proposals to Karen Dempsey (K.Dempseyreading.ac.uk) and Jitske Jasperse (jitske.jaspersehu-berlin.de)
Schedule 2019/2020 Das Mittelalter (a peer reviewed journal)
31.05.2019: Submission abstracts
Mid July 2019: Confirmation of contributors
07.01.2020: Submission of formatted articles for peer review
26.03.2020-27.03.2020: One- or two-day workshop with authors to discuss their contributions in Berlin (detailed information follows later)
15.05.2020: Submission of revised articles based on peer review and the workshop
End November 2020: Publication of issue
Quellennachweis:
CFP: Das Mittelalter, Themenheft: „Kleine Dinge von größerer Bedeutung". In: ArtHist.net, 18.04.2019. Letzter Zugriff 23.12.2024. <https://arthist.net/archive/20669>.