REV 11.10.2005

Olaf Breidbach: Bilder des Wissens

Rezensiert von Jan von Brevern, FU Berlin
Redaktion: Carolin Behrmann

Eine Geschichte der Beobachtung, so eine streitbare These von Jonathan Crary, sei nicht möglich. Nur innerhalb eines kollektiven Gefüges von Wahrnehmungsbedingungen könnten Wahrnehmung, Sehen und Beobachtung beschrieben werden, nicht jedoch als eigenständige Phänomene [1]. Ohne dass sie sich direkt darauf beziehen würde, kann die vorliegende Arbeit als ein Versuch verstanden werden, Crarys Diktum zu widerlegen. Olaf Breidbach beschäftigt sich darin mit der wissenschaftlichen Wahrnehmung als kulturhistorischem Phänomen. Insbesondere die „Bedeutung der Geschichte des Beobachtens für eine Wissenschaftsgeschichte“ (15) soll herausgearbeitet werden, um Fragen der Bedingtheit wissenschaftlicher Wahrnehmung und die Rolle der Bilder zu klären. Einer der Ausgangspunkte ist die Überlegung, dass Naturwissenschaftler ihre Objektivität wesentlich über ihre Beobachtungen definieren, denen sie einen direkten Zugriff auf die Welt zuschreiben: „Ihrer Wirklichkeiten sind sie sich sicher, weil sie beobachten können.“ (14)

Diese Definition der Beobachtung als direkte Repräsentation der Wirklichkeit stellt Breidbach in Frage; Beobachtung ist für ihn ein aktiver Prozess, bei dem immer schon bewertet wird. Vor allem aber ist die Beobachtung in den Naturwissenschaften selbst historisch bedingt und nur in ihrer eigenen Geschichte zu begreifen. Einer ausführlichen Einführung in das Problemfeld folgt ein längeres Kapitel über die Geschichte der wissenschaftlichen Beobachtung. Von den antiken Naturbeschreibungen des Aristoteles über mittelalterliche Buchmalerei bis zu den heutigen Rasterelektronenmikroskopen spannt sich der Bogen. In einem eigenen Kapitel ‚Sehen und Illustration‘ widmet sich der Autor hier unter anderem den Mondskizzen Galileo Galileis und Haeckels ‚Kunstformen der Natur‘. Hier entwickelt Breidbach die These, dass ein Bild „nicht einfach als Spiegel einer (simplen) Erfahrung, sondern zugleich als Kondensat einer Bildtradition“ (114) zu bewerten ist. Der zweite große Abschnitt ist mit ‚Theorie‘ betitelt und versucht das bisher behandelte Material an philosophische und wissenschaftshistorische Diskurse anzuschließen. Hier geht Olaf Breidbach unter anderem auch seiner These nach, dass es den vielfach beschriebenen Bruch um 1800, in dem die Naturwissenschaften zu ‚Erfahrungswissenschaften‘ wurden, so nicht gegeben habe: „Die Idee, dass die Erfahrung die Naturwissenschaften nach 1800 gegenüber der vormaligen Naturforschung in einer neuen, umfassenden Weise leitet, ist so falsch.“ (157) Ein weiteres Problemfeld, das angesprochen wird, ist die apparativ geleitete Beobachtung und deren Übersetzung in Bilder.

Der Zusammenhang von Beobachtung, Bildern und Theorien in den Wissenschaften ist in den letzten Jahren vor allem von Seiten der Kunst- und Wissenschaftsgeschichte verstärkt in den Blick genommen worden. So hat David Freedberg in seiner Studie über die „Accademia dei Lincei“ die komplexe Stellung der Bilder für die Naturforscher des 17. Jahrhundert herausgearbeitet. Besonders die Spannung zwischen ihrer Funktion als genauen Beobachtungsprotokollen auf der einen und als Ordnungsinstrumenten auf der anderen Seite beschreibt er dabei als ein grundlegendes Phänomen wissenschaftlicher Bilder [2]. In dem unter anderem von Gabriele Dürbeck herausgegebenen Band „Wahrnehmung der Natur – Natur der Wahrnehmung“ geht es dagegen um die Rolle der künstlerischen und wissenschaftlichen Darstellungen von Naturphänomenen für die Formung des ‚richtigen Sehens’ um 1800. Die Einsicht, dass Sehen eine erlernte Fähigkeit ist, machte es den Autoren zufolge notwendig, den visuellen Repräsentationen wissenschaftlicher Theorien eine größere Bedeutung beizumessen [3]. Der von Barbara Orland und David Guggerli herausgegebene Sammelband schließlich handelt – um ein letztes Beispiel zu nennen – von der Konstruktion „ganz normaler Bilder“. Wie die Autoren an verschiedenen Fallbeispielen herausarbeiten, lenken und normalisieren solche (technisch hergestellten) Bilder die wissenschaftliche Wahrnehmung, werden in ihrer Konventionalität aber unsichtbar und daher in ihrem epistemischen Status oftmals nicht weiter hinterfragt [4].

Olaf Breidbach beschäftigt sich in seinem Buch also mit einigen der aktuellsten und spannendsten Problemen, die zur Zeit an den Schnittstellen zwischen Bild- und Wissenschaftsgeschichte verhandelt werden. Leider gelingt es dem Autor nur selten, an die bereits weit fortgeschrittene Diskussion anzuschließen oder sie gar voranzutreiben. Woran liegt das?

Zum einen liegt dies am äußerst ungenauen Umgang mit Begriffen in diesem Buch. Zwar werden wichtige Begriffe wie ‚Wahrnehmung‘ und ‚Beobachtung‘ in einer Begriffsdefinition anfangs sorgsam auseinanderdividiert, im Verlauf der Argumentation werden sie jedoch immer wieder synonym verwendet. Solche Ungenauigkeiten machen es vielfach tatsächlich unmöglich, herauszufinden, über was eigentlich gesprochen wird.

Ein zweites Problem ist, dass der Verdacht aufkommt, der Autor unterschätze seine Leser. Einen Eindruck davon vermittelt die Lieblingswendung dieses Buches, die beinahe jeden Gedanken Breidbachs begleitet. Sie lautet: ‚nicht einfach‘. So ist es seine grundsätzliche These, „dass in der Beobachtung die Gegenstände nicht einfach repräsentiert werden.“ (45). Auch die Bilder der Naturgeschichte sind keine „einfache Repräsentation eines von einem Beobachter umschriebenen Naturalen”, und „Illustrationen […] dokumentieren nicht einfach, was gesehen wurde“ (60).Wer aber bisher immer vermutet hatte, dass wenigstens Fotografien einfach genaue Reproduktionen der Realität seien, dem wird nun unmissverständlich beschieden: “Und selbst eine Photographie ist nicht einfach eine genaue Reproduktion der Realität.” (115) Diese Einsichten werden zig-fach reproduziert und großzügig über den Text verteilt. Angesichts solcher Redundanz würde man es der Arbeit wünschen, zumindest ab und zu über derartige Merksätze hinauszugehen und zu erläutern, wie es denn nun ist, wenn es nicht so einfach ist, wie man immer dachte. Dies aber gelingt dem Autor kaum.

Der Grund dafür ist das dritte und größte Problem dieses Buches: der Umgang mit den bildlichen und schriftlichen Quellen. In dichter, oft sprunghafter Folge wird Beispiel an Beispiel gereiht, ohne dass ein rechter Zusammenhang erkennbar würde. Es ist schade, dass der Autor sich nur in wenigen Fällen genauer mit dem historischen Material auseinandersetzt; an den Stellen, an denen er sich einer solchen Auseinandersetzung stellt, kommt er durchaus zu anregenden Gedanken. So arbeitet er im Falle der astronomischen Beobachtungen Galileis die Rolle der Bilder bei der Entdeckung neuer Himmelskörper anschaulich heraus und knüpft damit an die seit Panofsky geführte Debatte an [5]. Viel zu oft aber bleibt es nur bei der vagen Erkenntnis, dass der Beobachter „Teil eines Wahrnehmungsgefüges [ist], das von der Theorie her ausgerichtet ist“ (69). Wie dieses Wahrnehmungsgefüge konstituiert ist, um welche Theorie es sich genau handelt – solche Fragen bleiben vielfach unbeantwortet.

„Bilder des Wissens“, das sagt uns der Titel, möchte von Bildern handeln. Es ist bezeichnenderweise gerade der Umgang mit Bildern in diesem Buch, der es so problematisch macht. Zwischen zwei Arten von Bildern kann unterschieden werden: Zum einen sind dies die etwa zwanzig Abbildungen, die über den Text verstreut sind. Sie spielen in der Argumentation des Autors keine Rolle und werden im Text meist weder untersucht noch überhaupt erwähnt. Die zweite Art sind Bilder, die zwar nicht abgebildet sind, über die aber gesprochen wird – ohne sie allerdings je genau anzusehen. Das hört sich dann etwa so an:

„Im Mittelalter verwies die Naturgeschichte in diesen Illustrationen [der Autor bezieht sich ganz allgemein auf „Illustrationen im Bereich der Naturgeschichte“, J.v.B.] auf bekannte Erklärungszusammenhänge. Entsprechend sind die Illustrationen schematisiert. Sie erinnern an Wappen, in denen in graphischen Zeichen ein komplexer Wissenskontext repräsentiert und nicht einfach eine Naturform abgebildet wurde. […] Sehen wir uns dagegen die Illustrationen an, die uns aus der mittelalterlichen Tafelmalerei überliefert sind, so muß demgegenüber bei Darstellungen wie denen des Jan van Eyck (1390-1441) der hohe Detaillierungsgrad überraschen.“ (62) Die mittelalterlichen Bestiarien sind dagegen „alles andere als realistisch.“ Das Falkenbuch Friedrichs II. zeigt dann aber wieder einen hohen „Reichtum an Detaildarstellungen“. (63) Unvermeidliches Fazit: „Beobachtung und deren Notation in der Naturkunde sind eben nicht einfach als Wiedergabe des sinnlich Erfahrenen zu begreifen.“ (63)

Viel anschaulicher hätte der Autor seine These, dass unreflektierte „Beobachtungen“, wie er sie den Naturwissenschaftler vorhält, immer nur die Vorurteile reproduzieren, die man bereits hatte, tatsächlich kaum vorführen können. Wenn man Bilder nur illustrativ benutzt – sie also in ihrer eigenständigen epistemischen Qualität nicht ernst nimmt – kommt es wohl unweigerlich zu dieser Art von erkenntnisfreier Geschichtsschreibung, in der „das Mittelalter“ immer ganz „schematisch“ vorgeht, während am Horizont der Lichtblick des „Realismus“ auftaucht, der offenbar für einen unverstellteren – weil „detailgetreueren“ – Blick auf die Welt herhalten muss. Ob in den Augen Breidbachs auf Jan van Eycks Gemälden „einfach eine Naturform abgebildet wurde“, darüber ließe sich an dieser Stelle trefflich spekulieren.

Den oben erwähnten Veröffentlichungen von Freedberg, Dürbeck und Gugerli/Orland ist eines gemeinsam: Sie erschließen das historische Material im Rahmen von detaillierten Fallstudien, sehen sich die Beobachtungsbedingungen, die Bildproduktion und das wissenschaftliche Umfeld also genau an. Darauf verzichtet Breidbach weitgehend. Die Spezifik der verschiedenen Bild- und Schriftmedien, ihr je eigener Zugriff auf die beobachtete Natur gerät so kaum einmal in Gefahr, ins Blickfeld der Untersuchung zu geraten. Damit bleibt aber auch die angepeilte „Geschichte der Beobachtung“ größtenteils konturlos. Crarys These von der Unmöglichkeit einer eigenständigen Geschichte der Beobachtung jedenfalls ist durch diese Arbeit noch nicht widerlegt.

Für den am Ende etwas ratlosen Leser hat der Autor in seinem „Epilog“ aber noch ein aufmunterndes Wort übrig: „Haben wir somit ein Rad geschlagen und sind von der Bestimmung des Beobachters im Experiment zum Experiment als Beobachtung gekommen, um dann das Beobachtete in diesem Beobachter zu bestimmen? […] Nur auf den ersten Blick macht diese Argumentation ratlos, zeigt sie doch auf das Chaos der Bestimmungen, das wir in unserer heutigen Diskussion um die Wissenschaften und deren Bestimmtheiten mit uns tragen.“ (187) Wer also in Breidbachs Argumentationen nur Chaos entdecken konnte, hat zwar vielleicht nicht genau genug hingeschaut, aber doch immerhin den Kern seiner Gedanken begriffen: Es ist alles nicht so einfach, wie man bisher dachte.

Anmerkungen:

[1] Vgl. Jonathan Crary, Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden 1996, S. 17.

[2] David Freedberg, The Eye of the Lynx. Galileo, his Friends, and the Beginnings of Modern Natural History, Chicago 2002.

[3] Gabriele Dürbeck u.a. (Hg.), Wahrnehmung der Natur – Natur der Wahrnehmung. Studien zur Geschichte visueller Kultur um 1800, Dresden 2001.

[4] David Gugerli u. Barbara Orland (Hg.), Ganz normale Bilder. Historische Beiträge zur visuellen Herstellung von Selbstverständlichkeit, Zürich 2002.

[5] Vgl. Erwin Panofsky, Galileo as a Critic of the Arts. Aesthetic Attitude and Scientific Thought, in: Isis 47, No. 147 (March 1956), S. 3-15; Hans Blumenberg, Das Fernrohr und die Ohnmacht der Wahrheit, in: Galileo Galilei, Sidereus Nuncius, hg. v. Hans Blumenberg, Frankfurt 1965, S. 7-75; Horst Bredekamp, Gazing Hands and Blind Spots. Galileo as Draftsman, in: Jürgen Renn (Hg.), Galileo in Context, Cambridge 2001, S. 153-192.

Breidbach, Olaf: Bilder des Wissens. Zur Kulturgeschichte der wissenschaftlichen Wahrnehmung (= Bild und Text), München: Wilhelm Fink Verlag 2005
ISBN-10: 3-7705-4087-5, 196 S.

Empfohlene Zitation:
Jan von Brevern: [Rezension zu:] Breidbach, Olaf: Bilder des Wissens. Zur Kulturgeschichte der wissenschaftlichen Wahrnehmung (= Bild und Text), München 2005. In: ArtHist.net, 11.10.2005. Letzter Zugriff 20.04.2024. <https://arthist.net/reviews/97>.

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