REV-CONF 11.03.2015

Dmitry Prigov’s legacy as a multimedia artist and writer

Prag, Tschechische Nationalbibliothek, 05.–06.12.2014

Bericht von Marion Rutz, Universität Passau, Lehrstuhl für Slavische Literaturen und Kulturen
Redaktion: Constance Krueger

Bericht aus dem Referierendenkreis

Der international besuchte Workshop fand am 5. und 6. Dezember 2014 in Prag in den Räumen der Tschechischen Nationalbibliothek statt, unterstützt durch die Abteilung Slavische Bibliothek und ermöglicht durch die Dmitry Prigov Foundation. Organisiert wurde er von Tomáš Glanc und Sabine Hänsgen, die im Projekt „Performance art in Eastern Europe (1950–1990)“ (Zürich) arbeiten. Der Workshop reiht sich ein in die sich nach dem Tod von Dmitrij A. Prigov, einem der Väter des russischen Konzeptualismus, im Jahre 2007 merklich intensivierenden Bemühungen um Bewahrung, Verbreitung und Erforschung seines künstlerischen Erbes.

Der thematische Schwerpunkt lag auf der kunstübergreifenden Vielfalt des Prigov’schen Werkes, wobei der gewählte Titel nicht zufällig den Künstler vor dem Schriftsteller nennt. Die Veranstalter Sabine Hänsgen und Tomáš Glanc stellten einführend neben dem Gesamtkonzept der Tagung ein für 2016 geplantes Ausstellungsvorhaben vor. In Prag sollen Arbeiten Prigovs zusammen mit Werken tschechoslowakischer KünstlerInnen aus den 1950er–1970er-Jahren (unter anderem Václav Havel) gezeigt werden. Geplant ist weiterhin ein Band mit Texten von Prigov in tschechischer Übersetzung, der im Rahmen des Übersetzerworkshops am 6. Dezember besprochen wurde. Der Workshop begann mit Beiträgen zu Prigov als Schriftsteller und schritt zum Maler, Performer und Multi-Media-Künstler fort.

Gerald Janecek (Kentucky) beschäftigte sich in seinen „Remarks on Prigov’s preduvedomleniia and mertsanie“ mit den für Prigov charakteristischen „preduvedomlenija“ („Vorbekundungen“). Er wies darauf hin, dass diese Vorbemerkungen den sich anschließenden Texten polyphone Bedeutungsdimensionen verleihen, da sich die Autor-Stimmen in den Vorworten von denen im eigentlichen Text unterscheiden und nicht selten konträre Deutungen entwickeln. Eine weitere Funktion der quasi-theoretischen Einleitungen besteht wohl auch in der (parodistischen) Legitimation der jeweiligen Werke als „ernsthafte Bücher“.

Philipp Kohl (Berlin) vollzog in seinem Vortrag „Pre-life and afterlive of genre. On Prigov’s conversions between verse, prose and performance“ einen Brückenschlag zwischen den verschiedenen Künsten, in denen der Konzeptualist Prigov tätig war. Er untersuchte drei Beispiele für „Konversionen“, Verwandlungen: mathematische Operationen aus dem Buch „Isčislenija i ustanovlenija“ (Berechnungen und Bestimmungen); eine Performance mit Saša Bruskin, die dem „Golem Sovieticus“ durch das magische Wort UdSSR Leben einhauchte, sowie den Roman „Živite v Moskve“ (Lebt in Moskau).

Marion Rutz (Passau) legte den Fokus mit „D.A. Prigov playing the literary critic“ auf Prigovs nicht-fiktionale Texte und ihre, vor dem Hintergrund des fiktionalen Werks, überraschende Qualität als direkte auktoriale Aussagen. Neben Texten, in denen normative Stellungnahmen zu Literatur und Kunst getätigt werden, gibt es jedoch auch einige, die diese Ideologizität aufbrechen. In „Čto by ja poželal uznat’ o russkoj poėzii, budʼ ja japonskim studentom“ (Was wünschte ich über russische Dichtung zu wissen, wäre ich ein japanischer Student) spricht beispielsweise ein (unzuverlässiger) „Erzähler“, wodurch die eigenen Inhalte relativiert werden.

Hana Kosaková (Prag) beschäftigte sich am Beispiel vor allem literarischer Texte mit „Concepts of subjectivity in Prigov’s work“, insbesondere dem Fehlen eines stabilen Subjekts. In ihrem typologischen Vergleich mit Werken von Vladimir Majakovskij deutet sich eine wichtige Perspektive der zukünftig noch zu leistenden Forschung an: der Vergleich der historischen mit der neuen Avantgarde.

Alena Machoninová (Prag, Moskau) wählte mit „Vsevelod Nekrasov’s and Dmitrii Prigovs Prague poems“ ein angesichts des Tagungsortes überaus passendes Thema. Der Textvergleich zeigte charakteristische Unterschiede im Umgang mit dem gemeinsamen Thema. Nekrasovs Zyklus „Vospominanija o Prage“ (Erinnerungen an Prag) beschreibt authentische Eindrücke, während Prigovs „Izučenija vospominanija Pragi“ (Untersuchungen der Prag-Erinnerung) klischeehafte Topoi aufzählt. Prigovs Imitation des tschechischen Konsonantismus in „Izučenie sokraščenija glasnych“ (Untersuchung der Vokalkürzung) stellt ein interessantes Beispiel für translinguale Dichtung dar.

Valentina Parisi (Mailand, Delmenhorst/Bremen) verließ den literarischen Bereich und wählte als Untersuchungsgegenstand „Late DAPʼs performances, between self-portrait and family album“. Im Zentrum standen Performances und Fotos der „Prigov family group“, die Prigov, seine Frau Natal’ja Mali und seinen Sohn Andrej zeigen. Die autobiographischen, häuslichen Repräsentationen sind charakteristisch für das Spätwerk des Künstlers. Parisi zeigte auch Prigovs Beitrag zu der Rock-Oper von Iraida Jusopova, in dem er sich nach Kräften bemüht, einer Katze das Wort „Rossija“ (Russland) beizubringen. Exemplarisch zeige sich hier die Entwicklung hin zu „Theatralität“, zur Auffassung der eigenen Arbeit als Gesamtkunstwerk.

Giada dalla Bontà (Venedig) wandte sich mit „Beasts on stage. ‘Bestiaries’ and ‘Stichogrammy’ as the core of Prigov’s performative strategy“ dem graphischen Werk zu. Sie ging zum einen auf seine Zeichnungen von Monstern ein, die immer die gleichen Motive variieren und denen jeweils Namen von FreundInnen bzw. KollegInnen zugeordnet sind; zum anderen den mit Hilfe der Schreibmaschine erstellten Buchstaben-Objekten. Hier seien Ideen greifbar, die in den späteren Performances und theoretischen Postulaten wiederkehren. In den „Bestiarii“ manifestieren sich etwa persönliche Dimensionen, die später mit Prigovs Idee des kurzzeitigen Aufflackerns („mercanie“) des auctors ins Zentrum des Werks rücken.

Brigitte Obermayr (Berlin) stellte in ihrer Präsentation „Newspaper – news-paper. Temporality and dimension“ Prigovs Zeitungsinstallationen, etwa die Übermalungen der Pravda, in den Kontext der internationalen Zeitungskunst. Grundsätzlich sei zwischen der Verwendung von Zeitung als Material (etwa in der Collage) oder als Dispositiv (On Kawaras Serien, die jeweils Datum und Zeitungstitelseite archivieren) zu unterscheiden. Weiterhin gebe es von KünstlerInnen in realen Zeitungen platzierte Texte sowie auch Zeitung-im-Text. In der Diskussion wurde auf unterschiedliche mit der Zeitung verbundene symbolische Bedeutungen im Westen (Temporalität) und in der Sowjetunion (Ideologie) hingewiesen.

Ebenfalls um die vergleichende Einordnung ging es Sabine Hänsgen (Zürich) im Vortrag „Poetic Performance – Hugo Ball and Dmitry Prigov“. Programmatisch forderte sie die Berücksichtigung von über den reinen Text hinausgehenden medialen Dimensionen. So gebe es zu Hugo Balls legendärer Performance von „Karawane“ zwar keine Aufnahme, aber über Fotos und Erinnerungen ließen sich einzelne Aspekte seines Züricher Auftritts rekonstruieren. Balls Streben nach Sakralität (kirchenähnliche Rezitation, goldfarbenes Kostüm) und Transzendierung des Alltags stellte Hänsgen vergleichend Prigovs Banalisierungs- und Entsakralisierungsstrategien gegenüber. Die Möglichkeit des Gegeneinanders von Text und Stimme/Performance illustrierte sie durch eine Video-Aufzeichnung, in der das von Prigov vorgetragene pathetische Lob auf den Moskauer Stadtteil Beljaevo mit dem Ausblick auf trostlose Plattenbauten kollidiert.

Tomáš Glanc (Berlin, Zürich) zeigte in seinem Beitrag „Prigov’s universal truths“ Prigov als ein Genie der Konversionen. Besonders in dem Zyklus „Isčislenija i ustanovlenija. Stratifikacionnye i konvertacionnye teksty“ (Berechnungen und Bestimmungen. Stratifikations- und Konvertierungstexte) inszeniere er aus konzeptualistischer Distanz die Verfahren eines philosophischen Traktats im Stil von Spinoza oder Wittgenstein. Prigovs universalistische dichterische Gesten konfrontieren, so Glanc, die Axiologie jedes Systems und die Objektivität jeder Behauptung mit ihrer semantischen Fragilität.

Der Workshop endete mit einem Rahmenprogramm. Der in Prag heimisch gewordene Viktor Piovarov, selbst Künstler aus dem Moskauer Konzeptualistenkreis, erzählte von Prigov, den er Ende der 1960er Jahre auf einer Lesung kennenlernte. Er sprach unter anderem vom Wandel des „hysterischen jungen Mannes“ zum souveränen Intellektuellen, wobei die als Schutz erfundene Maske „Dmitrij Aleksandrovič Prigov“ schließlich mit ihm verwachsen sei. Für ihn sei Prigov im Herzen in erster Linie Bildhauer gewesen, auch wenn er systematisch alle Künste – von der Literatur bis zum Ballett – ausprobiert habe.

Anschließend gaben zwei tschechische Gegenwartskünstler Einblick in ihr Schaffen, das in der Vielseitigkeit – Text, Objekt, Audio, Multimedia – an Prigov erinnert.
Jaromír Typlt (geb. 1973) stellte zum einen Verbindungen von Literatur und Kunst vor: in beliebige Richtungen lesbare Texte, in Eis eingebettete beschriebene Seiten, Buch-Objekte. Zum anderen führte er eine „mutierte Autorlesung“ auf (Stimmperformance mit Audio-Aufzeichnung) und zeigte einen 3-D-Clip.

Pavel Novtonýs (geb. 1976) Schwerpunkt liegt auf der Verbindung von Text und Audio-Experiment („Radio-Art“). Aus gesammelten Sprachaufnahmen erstellt er Audiocollagen, darunter sein zentrales Werk „Tramvestie“: Menschen erzählen während Straßenbahnfahrten von Liberec nach Jablonec, was sie jeweils sehen. Aus dem gesammelten Tonmaterial entstehen zunächst Audiocollagen, dann Textfassungen, die wiederum auf verschiedene Flächen aufgetragen und im öffentlichen Raum ausgestellt werden.

Das Konzept des Workshops hat sich in vieler Hinsicht als sehr produktiv erweisen. Die Verknüpfung renommierter ExpertInnen mit NachwuchswissenschaftlerInnen wird den einen oder die andere für die Prigov-Forschung gewonnen haben. Es wurde deutlich, dass gerade die künstlerischen Arbeiten ein noch weitgehend offenes und überaus vielversprechendes Forschungsfeld darstellen. Die Slavistik muss die analytischen Werkzeuge im Umgang mit Stimme, Bild und bewegten Bildern allerdings noch verfeinern, um über die Präsentation und Kontextualisierung interessanter Exempla hinauszukommen. Wegweisend war die Entscheidung, Prag als Veranstaltungsort zu wählen, was den innereuropäischen Austausch ins Zentrum stellte.

Empfohlene Zitation:
Marion Rutz: [Tagungsbericht zu:] Dmitry Prigov’s legacy as a multimedia artist and writer (Prag, Tschechische Nationalbibliothek, 05.–06.12.2014). In: ArtHist.net, 11.03.2015. Letzter Zugriff 29.03.2024. <https://arthist.net/reviews/9694>.

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