REV 30.07.2005

Klaus Bußmann (Hg.): Europa im 17. Jahrhundert

Rezensiert von Claire Gantet
Redaktion: Philipp Zitzlsperger

Die Geschichte der Europavorstellungen ist eine besondere Herausforderung. Schon Lucien Febvre hatte gegen Marc Blochs Feststellung, dass der Historiker seine Fragestellungen im Hinblick auf die Probleme der Gegenwart formuliert, vor der Gefahr des Anachronismus gewarnt. Als Intellektueller beobachtet der Historiker gegenwärtig die Schwierigkeiten der europäischen Integration, als Wissenschaftler strebt er nach einer Europäisierung bzw. Internationalisierung seiner Ansätze, doch als Gelehrter möchte er nicht seine politischen Ideale auf die Vergangenheit projizieren. Elke Anna Werner beschäftigt sich engagiert mit diesem Problem: der von ihr und Klaus Bußmann herausgegebene Sammelband soll „neue Ansätze für die Erforschung der europäischen Geschichte“ vorstellen, „die auch für die weiteren politischen Schritte zur europäischen Einheit von Interesse sein könnten“ (S. 23) – ein Anliegen, worauf die Beiträge unterschiedlich reagieren.

Dieser Sammelband, der im Rahmen des 350-jährigen Jubiläums des Westfälischen Friedens aus der Münsteraner Tagung zu den Europa-Vorstellungen im 17. Jahrhundert von 2001 hervorgegangen ist, behandelt den „Europa-Mythos“. Nach Roland Barthes definiert Elke Anna Werner in der Einleitung einen Mythos als „ein gedankliches Konstrukt, das als positives Leitbild einem politischen Gemeinwesen Orientierung bietet und das Denken und Handeln von Einzelnen oder Gruppen bestimmt“ (S. 13). Es handelt sich deshalb in diesem Buch nicht um vage Vorstellungen von Europa, sondern um die Geschichte einer positiven, identitätsstiftenden und handlungsleitenden Wahrnehmung von Europa im 17. Jahrhundert. Klaus Bußmann und Elke Anna Werner haben zu diesem Zweck 19 Beiträge von Vertretern der Geschichte, der Osteuropäischen Geschichte, der Rechtsgeschichte, der Kunstgeschichte, der Germanistik und der Kulturwissenschaften in einem reich bebilderten Band gesammelt. Die unterschiedlichen Beiträge gliedern sich in vier Teile, in denen (I) Europa als politische Konstruktion, (II) die Gleichzeitigkeit der universitas christiana und der Nationalstaatlichkeit, (III) die Europa-Bilder und schließlich (IV) die europäischen Identitäten behandelt werden. Die Kapitel stehen jedoch nicht isoliert und weisen viele Bezüge untereinander auf, weshalb im Folgenden der Ordnung der Beiträge nicht gefolgt wird.

Die Frage der Grenzen Europas belegt besonders anschaulich den problematischen Charakter der europäischen Identität. Die vermutlich erste wissenschaftliche Europakarte wurde von Martin Waldseemüller im Jahre 1511 veröffentlicht. Im Laufe des 17. Jahrhunderts verfeinerte sich die Darstellung der Binnenstruktur Europas, während die politischen Grenzen im Osten zwischen Europa und Asien fehlten. Obwohl die Gemäldefolge von Jan van Kessel und Erasmus Quellinus die christlichen Religion hoch achtet, fügt sie in ihre Städtebilder Moskau und Konstantinopel ein. Das Problem besteht auch für Skandinavien, das in der Karte von Waldseemüller nicht dargestellt wurde. Sebastian Olden-Jørgensen weist auf das geographische Handbuch des Kopenhagener Professors Holger Jacobäus aus dem Jahr 1693 hin, wo Europa nicht durch politische Grenzen, sondern durch Flüsse und Meere (Don-Fluß, Mittelmeer, Atlantik, Eismeer) begrenzt wurde. Auch die Frage des Zugehörigkeitsgefühls war nicht eindeutig: Karin Hellwig z. B. hebt hervor, dass spanische Künstler Europa vor allem mit Italien und dessen Kunstideal assoziierten.

Das Problem der Begrifflichkeit ist das zweite Leitmotiv des Sammelbandes. Auf der Suche nach einer Definition eines frühneuzeitlichen Europa liefern viele Autoren auch begründet negative Ergebnisse, die die Gefahr des Anachronismus verdeutlichen. In ihrem Beitrag zu der „gegenwärtigen Abwesenheit“ von Europa betont Silvia Serena Tschopp, wie fließend und oft polemisch das semantische Feld ‚Europa’ war (S. 29). Nach Wolfgang Schmale war „‚Europa’ kein Staat und bildete, realistisch gesehen, überhaupt kein politisches Gemeinwesen“ (S. 242). Hans-Martin Kaulbach bestreitet, dass es eine eigene Ikonographie von Europa gebe; vielmehr existierten „verschiedene Bildmuster für ein ‚befriedentes Europa’“ (S. 78).

Was bedeutete ‚Europa’ im 17. Jahrhundert? Die Unterscheidung zwischen ‚Europa’ und ‚Christianitas’ wird in den Beiträgen unterschiedlich bewertet. Das Europa-Motiv verbreitete sich vor allem dann, wenn das Abendland militärischer Bedrohung ausgesetzt war. Während das Bild der europa triumphans gegenüber den amerikanischen und afrikanischen Völkern zum Tragen kam, entwickelte sich nach innen das Gegenbild der durch Bürgerkriege gespaltenen europa deplorans, wie Elke Anna Werner in ihrer Einführung darlegt. Sie interpretiert dieses letzte Bild als eine Metapher „für den drohenden Verlust der politischen Ordnung in Europa, der universitas christiana“ (S. 16). In diesem Fall sind beide Begriffe austauschbar. Die religiöse Dimension ist in der Tat konstitutiv für die Wahrnehmung Europas. In ihrer Analyse der Gemälde „Die Folgen des Krieges“ des Diplomaten und Malers Peter Paul Rubens stellt Elke Anna Werner fest, dass „von innen, von Europa aus betrachtet, Europa und das Christentum im 17. Jahrhundert Synonyme“ sind (S. 316). Die Erdteil-Allegorien suggerieren, so die These von Sabine Poeschel, wie wichtig die Vorstellung von Europa als Religionsstifterin in Abgrenzung zu den anderen Kontinenten war. Karl Schütz betont auch am Beispiel der Gemäldefolge der Antwerpener Maler Jan Van Kessel und Erasmus Quellinus, dass die christliche Religion konstitutiv ist. In seiner Untersuchung des Ostseeraums hebt Janis Kreslins hervor, dass die Religion, insbesondere die Erbauungsliteratur eine wesentliche Grundlage für das Zusammengehörigkeitsgefühl darstellte. Dieser Schluss wird a contrario von Gabriele Scheidegger bestätigt: im ostkirchlich-orthodoxen Russland wurde Europa oftmals als nicht christlich herabgesetzt. Dennoch verwendeten die Flugschriften gegen den Feind des christlichen Europa ‚par excellence’ eher den Begriff ‚Türkenkriege’ als ‚Kreuzzüge’. Die Instrumentalisierung der Türken diente vor allem dazu, die zunehmende Ohnmacht des Papsttums zu kaschieren und eine europäische Identität zu beschwören, so die Thesen von Mustafa Soykut und Josef Imorde. Das heißt, Europa hatte auch eine politische Konnotation.

Georg Schmidt entwickelt die These, dass die Flugschriften, die sich an eine „stärker politisierte Öffentlichkeit“ bzw. eine „bürgerliche, über Politik räsonierende Öffentlichkeit“ (S. 144) wandten, vor allem nationale Werte verbreiteten; Europa diente nur als Horizont: „Die politische Kultur veränderte sich in Deutschland in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nicht zuletzt aufgrund entsprechender Flugschriftendiskurse, die mit Blick auf ein friedliches europäisches Staatensystem und eine erfolgreiche Verteidigung der eigenen Staatsräson gegen die auswärtigen Feinde alle politischen, konfessionellen und sozialen Fragmentierungen im Sinne einer nationalen Integration zu überwölben versuchten“ (S. 148). In seinem Beitrag interpretiert Robert von Friedeburg das zeitgenössische Verständnis von ‚patria’ und ‚natio’ in England, in den Niederlanden und in den protestantischen Territorien des Reiches als Ausdruck eines Bewusstseins für die verfassungsspezifischen Strukturen des eigenen Landes. In den Niederlanden äußerte sich das patriotische Gefühl auch durch gezeichnete und gemalte Landschaften: Tanja Michalsky erläutert, dass diese Gattung sich im Rahmen der Formalisierung der Kartographie, der Institutionalisierung der Historiographie und der Entstehung einer landessprachlichen Literatur verstehen lässt. Hans-Martin Kaulbach schließt aus seiner präzisen Analyse der Friedensdarstellungen, dass die Friedensallegorien auch selbstverständlich der Verherrlichung einzelner Herrscher dienen konnten.

Die universalen und nationalen Dimensionen scheinen sich daher nicht auszuschliessen, sondern komplementär zueinander zu sein. In seinem Beitrag über die Vorworte und Titelkupfer aller 22 erschienen Bände des „Theatrum Europaeum“ von Matthaeus Merian betont Gerd Dethlef, dass Europa nicht nur ein Schauplatz für die Austragung der zwischenstaatlichen Konflikte, sondern auch ein Kommunikationsraum war, durch den friedliche Ideale transportiert wurden. Heinhard Steiger weist auf die Rolle des Rechts im 16. und 17. Jahrhundert in den Kontakten zwischen Europa und dem quasi unbekannten Asien hin. Die Untersuchung dieser Komplementarität, die Artikulation der unterschiedlichen Kulturen sind aber kaum berücksichtigt. Die Erwähnung bekannter Friedensutopien (die Marie-Louise von Plessen zusammenfasst) einerseits und ihre Relativierung durch nationale Tendenzen andererseits bieten keinen befriedigenden Lösungsansatz . In ihrem Beitrag zählt Silvia Serena Tschopp das Postwesen, die Heiratspolitik und die Kartographie zu den wichtigsten einheitsstiftenden Elementen. Wie aber standen diese heterogenen Bereiche zueinander in Bezug? Wolfgang Schmale schlägt den Begriff der „Sedimentierung“ unterschiedlicher Traditionen vor.

Sabine Poeschel und Karl Schütz befassen sich mit der Entwicklung eines Überlegenheitsgefühl von Europa gegenüber den anderen Kontinenten. Ein Blick ‚von außen’ auf Europa sowie die Berücksichtigung der religiösen Minderheiten innerhalb Europas hätten diese These bestätigt, präzisiert, oder korrigiert. Es könnte auch weiter gefragt werden wie, jenseits der rechtlichen Sprache, der Austausch innerhalb Europas und zwischen Europa und dem Rest der Welt konkret verlief. Nur die Heiratspolitik der französischen Herrscher mit ausländischen Prinzessinnen und innerhalb der Verwandtschaft (Beitrag von Fanny Cosandey) zeigt anschaulich Praktiken, mit Hilfe derer europäische Bindungen gefestigt wurden. Beiträge über die diplomatischen Bräuche, die Informationsvermittlung und Wissensverbreitung hätten dem Band gedient.

Die Interpretation des Westfälischen Friedens muss ebenfalls hinterfragt werden. Gegen eine implizite Gleichsetzung zwischen dem 17. Jahrhundert, dem Westfälischen Frieden und einer Ideologie des Friedens äußert sich Hans-Martin Kaulbach zurecht skeptisch: „Der Bezugsrahmen für den Frieden verlagerte sich erst im 18. Jahrhundert von der ‚Christenheit’ auf ‚Europa’. […] Es gibt kein Bild des ‚europäischen Friedens’, weil es diesen Frieden nie gab. Die Friedenskongresse waren europäisch, die Verträge blieben bilateral. Die Bilder [vom Westfälischen Frieden] transportierten zwar Ideale einer überstaatlichen Institutionalisierbarkeit des Friedens, aber eingelöst wurden sie nicht“ (S. 78).

Allgemein stellt sich in dem Sammelband die Frage, welche neue Bedeutungen die christianitas nach diesen Friedensverträgen zwischen drei christlichen Konfessionen annahm. Auch die Chronologie der Verwendung des Europa-Motivs bleibt noch unklar. Das Verdienst des Sammelbands liegt in der interdisziplinären Auseinandersetzung mit dem Europa-Begriff und in dem Dialog zwischen Text und Bild. Er zeigt, wie ein aktuelles und sensibles Thema wie Europa mit Umsicht und Sorgfalt behandelt werden soll und kann.

Bußmann, Klaus (Hrsg.): Europa im 17. Jahrhundert. Ein politischer Mythos und seine Bilder ; [im Juni 2001 veranstaltetes internationales Kolloquium] (= Kunstgeschichte), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2004
ISBN-10: 3-515-08274-3, 436 S

Empfohlene Zitation:
Claire Gantet: [Rezension zu:] Bußmann, Klaus (Hrsg.): Europa im 17. Jahrhundert. Ein politischer Mythos und seine Bilder ; [im Juni 2001 veranstaltetes internationales Kolloquium] (= Kunstgeschichte), Stuttgart 2004. In: ArtHist.net, 30.07.2005. Letzter Zugriff 28.03.2024. <https://arthist.net/reviews/93>.

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