REV 02.07.2005

Kostka/Lucbert (Hgg.): Distanz und Aneignung

Rezensiert von Marc Schalenberg, Berlin
Redaktion: Claudia Sedlarz

Der gehaltvolle Sammelband mit 19 Beiträgen in deutscher oder französischer Sprache und mit englischen Zusammenfassungen geht auf zwei Kolloquien in Paris (Deutsches Forum für Kunstgeschichte) und Berlin (Kunsthistorisches Institut der Freien Universität) zurück, die sich mit Fragen des Austauschs und Transfers zwischen „deutscher“ und „französischer“ Kunst zwischen Deutsch-Französischem Krieg und Zweitem Weltkrieg beschäftigten. Er widmet sich schwerpunktmäßig der Malerei, am Rande auch dem Kunstgewerbe, läßt aber Architektur wie Skulptur außer acht. Eine Mehrzahl der Beiträger waren oder sind an den von Thomas Gaehtgens inaugurierten Projekten zum deutsch-französischen Austausch im Bereich der bildenden Kunst beteiligt [1].

Gaehtgens selbst konstatiert in seiner Einleitung innerhalb der fortgesetzten gegenseitigen Beobachtungen in dem von Spannungen zwischen Deutschland und Frankreich geprägten Zeitraum eine Asymmetrie der Aufmerksamkeit zugunsten der französischen Kunst, wobei er die Erkundung der genauen Gründe der „Aufgeschlossenheit für die französische Moderne durch deutsche Kritiker und Sammler“ (S. 5) als wichtiges Forschungsdesiderat benennt; hier führen die anschließenden Beiträge fraglos weiter, wenn auch – wie bei Sammelbänden üblich – in eher punktuellen, vom jeweiligen Zugang der Autoren abhängenden Vertiefungen. Verbindend wirkt die empirisch untermauerte, aus der Kulturtransfer-Forschung bekannte Annahme, daß die Auseinandersetzung mit externen Objekten und Modellen und ihre Interpretation stets in funktionaler Rückbindung an die „Empfängerkultur“ zu sehen ist; die jeweiligen politischen, weltanschaulichen, professionellen bzw. karrierestrategischen Anliegen überwogen auch in den hier präsentierten Fällen das Bemühen um einen „adäquaten“ oder gar „kongenialen“ Transfer.

Die beiden Herausgeber, Alexandre Kostka und Françoise Lucbert, erläutern in einer methodisch-forschungsgeschichtlich akzentuierten Einführung ihr akteurszentriertes Konzept der „médiation“, demzufolge die vermittelnden Personen als (Schieds-)Richter aufzufassen seien, was zumeist in eine um werbendes Verständnis bemühte Position zwischen zwei entgegengesetzten Vorstellungen, Werten oder Praktiken einmünde, aber auch eine „médiation hostile“ (S. 15) nicht ausschließe. Wie wenig fix und verbindlich gerade auf dem Feld der Kunst nationale Grenzen sind, wird völlig zu Recht unter Hinweis auf „Übergangsregionen“ zwischen Deutschland und Frankreich - wie das Rheinland oder das Elsaß – oder andere, nicht zwangsläufig passive Vermittler in Belgien oder der Schweiz angedeutet. In einer kurzen Vorschau auf die anschließenden Aufsätze wird zudem die Dreiteilung des Bandes in „Netzwerke“, „Kunstvermittler“ (Publizisten, Kunsthistoriker, –kritiker sowie -händler) und „Identifikationsfiguren“ (i.e. individuelle Künstler) begründet.

Der weniger intensiven Perzeption deutscher Kunst in Frankreich, die eher über Korrespondenten als über Ausstellungen in Paris erfolgt sei, wendet sich Françoise Lucbert zu, auf die Untersuchungen zu den „petites revues“ des fin-de-siècle in ihrer Montrealer Dissertation (1999) zurückgreifend. Vor allem Max Klinger und Arnold Böcklin hätten die Aufmerksamkeit der Avantgarde erfahren, weniger der am offiziellen Kunstbetrieb der Salons beteiligte, Frankreich gegenüber durchaus aufgeschlossene Max Liebermann. Allerdings sei seit den 1890er eine zunehmende Verhärtung der Fronten festzustellen. Demgegenüber demonstriert Knut Helms, namentlich am Austausch Liebermanns mit dem Kulturpolitiker und Ausstellungsmacher Antonin Proust und dem Kunstkritiker Gustave Kahn, die Existenz einer „confraternité franco-allemande“ (S. 62) in den Künsten der frühen Dritten Republik, die eine politisch liberale und künstlerisch anti-akademische, naturalistische Haltung geeint und gegenseitig gestärkt habe.

Alexandre Kostka führt seinen in der Einführung getätigten Hinweis auf „transferts culturels triangulaires“, am Beispiel des Neoimpressionisten Georges Seurat aus, der zunächst in Belgien geschätzt und dann, unter Mithilfe des selber nach Deutschland ziehenden Henry van de Velde sowie dessen ästhetischen Gesinnungsgenossen Harry Graf Kessler und Julius Meier-Graefe, auch jenseits des Rheins Zuspruch fand. Hierbei wird ersichtlich, wie dynamisch „Emission“ und „Rezeption“ verbunden sein können. Das Deutsche Kaiserreich war weder monolithisch noch zentralistisch, woran Sabine Benekes Beitrag zur „Kunststadt“ München, hier am Beispiel der auf Bayerischen Kunstgewerbeausstellung von 1910 gezeigten Inneneinrichtungen, erinnert. Bezüglich des deutsch-französischen Austauschs war freilich den intensiven Bemühungen von Otto Grauthoff und Frantz Jourdain kein Erfolg beschieden, da in den um „Geschmack“ und „Tradition“ kreisenden Diskursen in der Presse eine grundsätzliche Unvereinbarkeit zwischen deutschen und französischen Wohnraumgestaltungen postuliert wurde. Geneigtere Aufnahme fand 1928 der persönlich anwesende Fernand Léger in einer Ausstellung seiner Werke in der dezidiert der Moderne verpflichteten Berliner Galerie Alfred Flechtheim, wie Martin Schieder darlegt. Er habe auch deshalb reüssieren können, weil seine rationalistische „Maschinenästhetik“ im Berlin der späten 1920er Jahre an reale Großstadterfahrungen und –deutungen anknüpfen konnte. Freilich bot diese prominente Zurschaustellung französischer Kunst bei einem jüdischen Galeristen auch eine Zielscheibe für konservativ-nationalistische Ressentiments, etwa in den polemischen Attacken Paul Fechters.

Den zweiten Abschnitt des Buches eröffnet die wissenschaftsgeschichtliche Einordnung Louis Réaus von Isabelle Dubois, die nachzeichnet, wie sich der spätere Autor von „L’Europe française au siècle des Lumières“ vor dem Ersten Weltkrieg zwar mit spätmittelalterlicher deutscher Kunst beschäftigt, sich aber nicht auf deren Spezifik eingelassen habe, sondern den normativen Vorannahmen der französischen Ästhetik verhaftet geblieben sei. Dagegen habe sich, wie Rachel Exner darstellt, Antoine Rous de la Mazelière in seinem 1900 publizierten Werk „La peinture allemande au XIXe siècle“ sehr wohl in die deutsche Kultur hineingedacht, allerdings in unverhohlen warnender Absicht an seine französischen Leser. Die „germanische Kultur“ sei im Wettkampf der Nationen bzw. der Rassen besser für das neue Jahrhundert gerüstet, da sie die Hinwendung zum „Realismus“, zum Individualismus und zur Kraft des Stärkeren erfolgreich vollzogen habe, in der Kunst und darüber hinaus. Ein weiteres Beispiel für die verhalten-skeptische Beurteilung deutscher Kunst (und Literatur) in Frankreich ist Guillaume Apollinaire, wie sie Michel Décaudin in einem kurz vor seinem Tod vollendeten Essay ausführt.

Klassisch rezeptionsgeschichtlich – und weitgehend textimmanent – ist die Untersuchung Uwe Fleckners zur Beurteilung Claude Monets bei Richard Muther, Julius Meier-Gaefe und Carl Einstein angelegt. Hier wird deutlich, wie sehr in der narratologischen und wertenden Anlage der Darstellungen des französischen Impressionisten die eigenen ästhetischen und kunstpolitischen Anliegen dieser drei deutschen Schriftsteller zum Tragen kamen.

Dem schon erwähnten Autor der „Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst“ wendet sich, auf der Grundlage umfänglicher Forschungen zu Meier-Graefe, Catherine Krahmer zu, hier fokussiert auf seinen Einsatz für die „dekorative Kunst/art décoratif“. Unter diesen beiden Titeln gab der wohl einflußreichste Vermittler zwischen deutscher und französischer Kunst um die Jahrhundertwende Zeitschriften heraus, jeweils unterstützt von Henry van de Velde, mit denen er dem Publikum beider Länder seine Vision von „moderner Kunst“ plausibel machen wollte. Die Autorin geht, neben den Erfolgen und Rückschlägen bei diesem Unterfangen, vor allem auf Meier-Graefes elaborierten Einsatz von Pseudonymen ein. Noch einmal Belgien steht im Blickpunkt von Christina Kotts Analyse des Buches „Allemagne“ des Kunstkritikers und Publizisten Paul Colin entstanden 1918-1921 und publiziert 1923. Obwohl zeitgenössisch so wenig rezipiert wie der deutsche Expressionismus, den es mit Sympathie zu erschließen trachtet, insgesamt, sei dieses Werk ein wichtiger Indikator für die strategischen Bemühungen belgischer Künstler und Kunstkritiker des frühen 20. Jahrhunderts, sich von der allzu unbesehenen „frankophonen“ Vereinnahmung zu emanzipieren.

Abgerundet wird der Band durch einen dritten, der Rezeption individueller Künstler gewidmeten Teil. Thomas Gaehtgens konturiert Delacroix als Projektionsfläche verschiedener politischer und weltanschaulicher Gruppierungen im Deutschen Kaiserreich, mit Seitenblicken auf Rembrandt und Goethe, zwei anderen zeitgleich stilisierten Kunstheroen. Andrea Meyer spürt der „diskursive[n] Identität“ (300) Jean-François Millets zur gleichen Zeit nach, welche erstaunlicherweise – und als wohl einzige Ausnahme – die sonst so unversöhnlichen begrifflichen Antinomien überwölbte, in die „deutsche“ und „französische“ Kunst gepreßt wurden. Mit einem ähnlichen Zugang vermag Friederike Kitschen den „deutschen Cézanne“ zu profilieren, der hier nicht nur früher Eingang in die Museen fand als in Frankreich, sondern auch zum Kronzeugen expressionistischer Kunst avancierte und als solcher für seine „heroische Einsamkeit“ (Max Raphael) oder sein Gespür für das „Geistige einer Erscheinung“ (Wilhelm Hausenstein) gefeiert wurde.

Stärker essayistisch sind Philip Ursprungs Betrachtungen über das „Phänomen Rochegrosse“ angelegt, den früh mit großformatiger Historienmalerei reüssierenden Salonkünstler, der nach 1900 weitgehend ignoriert wurde, wofür der Autor einen sozialhistorisch grundierten Wandel im Geschmack des Publikums und den Institutionen des Kunstbetriebs - von den Salons zu den Sezessionen – namhaft macht. In Deutschland stieß Rochegrosse indes praktisch durchgehend auf Ablehnung. Annegret Rittmann stellt Marie Laurencin vor, die mit dem Kölner Maler Otto von Wätjen seit 1913 verheiratete, in Deutschland kurz vor und nach dem Ersten Weltkrieg vor allem von Alfred Flechtheim bekannt gemachte Künstlerin, der in der Kritik dezidiert weibliche Attribute wie „zart“, „elegant“, „rokokohaft“ angehängt wurden, welche einer „modernen“ Würdigung zumal in Deutschland im Wege gestanden hätten. Abschließend spürt Andreas Holleczek deutsch-französischen Differenzen in Ideengeschichte und „kultureller Praxis“ nach, um die divergierende Bewertung von Picassos Kubismus diesseits und jenseits des Rheins – Ausgangspunkt metaphysischer Spekulation hier und Formproblem dort - zu erklären.

Welchen Gesamteindruck gewinnt man aus den - fast durchgehend stringent dargelegten – Kontextualisierungen und Dekonstruktionen der von „Distanz und Aneignung“ untermalten Kunstbeziehungen, wie sie hier für den Zeitraum von 1870 bis (faktisch) 1930 vorgenommen wurden? So weit, einen „linguistic turn“ auch für die Kunstgeschichte einzufordern, geht keiner der Beiträger, auch die Herausgeber nicht. Doch bleibt unübersehbar, wie sehr Kunstkritik und Kunstgeschichtsschreibung, die in diesem Band favorisierte Quellengrundlage, ein Spielfeld nationaler Diskurse und Semantiken sowie wohl auch Praktiken und zeitgenössischen Selbstverständnisses waren. Die Objekthaftigkeit der betreffenden Werke mag weitere hermeneutische Ebenen öffnen, aber als Einsatz der deutsch-französischen Beziehungen war Kunst vor allem eines: Text.

[1] Vgl. auf der Homepage des „Forum“ [ http://www.dt-forum.org ] vor allem die teilweise freigeschaltete, ansonsten mit Password zugängliche Datenbank, die auf der systematischen Auswertung mehrerer Dutzend zeitgenössischer Zeitschriften aufbaut:
http://proweb.dfkg.dyndns.dk/(abiyn355ux5teham44j3r0eg)/Index.aspx?L=2&P=1,2

Kostka, Alexandre; Lucbert, Françoise (Hrsg.): Distanz und Aneignung. Relations artistiques entre la France et l'Allemagne 1870 - 1945 ; Kunstbeziehungen zwischen Deutschland und Frankreich 1870 - 1945 (= Passagen,Deutsch-französische Kunstbeziehungen - Kritik und Vermittlung), Berlin: Akademie Verlag 2004
ISBN-10: 3-05-004061-0, XIII, 413 S.

Empfohlene Zitation:
Marc Schalenberg: [Rezension zu:] Kostka, Alexandre; Lucbert, Françoise (Hrsg.): Distanz und Aneignung. Relations artistiques entre la France et l'Allemagne 1870 - 1945 ; Kunstbeziehungen zwischen Deutschland und Frankreich 1870 - 1945 (= Passagen,Deutsch-französische Kunstbeziehungen - Kritik und Vermittlung), Berlin 2004. In: ArtHist.net, 02.07.2005. Letzter Zugriff 29.03.2024. <https://arthist.net/reviews/91>.

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