Das Werk Athanasius Kirchers hat in den letzten 50 Jahren eine Vielzahl von Publikationen provoziert. Dabei lässt sich bemerken, in welch hohem Maße gerade dieses Werk von den Zusammenhängen abhängt, in die es jeweils gerückt wird. Seit 1964, und das bedeutet hier: seit der Giordano-Bruno-Publikation von Frances A. Yates, ist Kircher gern in eine Tradition der Hermetik und des Okkultismus gestellt worden [1]. Ob dies ein hinreichender Erklärungsrahmen ist, kann bezweifelt werden. Ferner verbergen sich in der internen Relation von Kirchers Publizistik zu seinen Sammlungen eine Reihe von Unklarheiten. Dies ist teils historisch begründet, insofern die Exponate zerstreut wurden und schlecht dokumentiert sind. Zum anderen Teil aber gehört es zur Sache selbst. Kircher schuf zwischen Büchern und Objekten ein schwankendes Verhältnis: einerseits dicht verbunden, andererseits sehr verschieden behandelt. „Katalog und Museum gehen nie restlos ineinander auf“ (S. 205).
Das Buch von Angela Mayer-Deutsch über das 'Musaeum Kircherianum' thematisiert Differenzen und findet hiermit den glücklichsten Zugang zu weit reichenden Klärungen. Es handelt sich um eine bemerkenswerte Publikation. Sie fußt auf einer mehr als zehnjährigen Auseinandersetzung und bündelt die immense Literatur zu Kirchers Sammlungen nicht nur, sondern geht darüber hinaus. Das Buch gliedert sich in drei große Abschnitte. Im ersten wird eine präfigurierende Einstellung gewonnen ('kontemplative Momente'), im zweiten geht es um die Sammlungsobjekte ('historische Rekonstruktion'); im dritten schließlich wird die spezifische Form dieses Zeigens expliziert ('Bildrhetorik').
Der Text basiert auf Ausstellungserfahrungen, und dies ist wichtig. Manches Kirchersche Objekt wird erst dort verständlich, wo es sich auch ehemals befand: neben der Bibliothek. Dort haben die Kulturwissenschaften in den letzten Jahren mit viel Aufwand 'Objekte' entdeckt - was aus museologischer Sicht erheiternd wirkt. Wohltuenderweise hat Angela Mayer-Deutsch ein Latour-freies Buch geschrieben. Sie beginnt mit dem 'Horoscopium Catholicum Societatis Iesu', dem Bild einer Weltzeituhr aus vielen Sonnenuhren (S. 11 und S. 240ff.). Erst durch museale Nachbauten in Stanford 2001 und in Bonn 2005 wurde deutlich, dass die Schatten der Sonnenuhrzeiger sich zum Schriftzug 'IHS', dem Kürzel des Jesuitenordens, verbanden. Damit trat zweierlei in Erscheinung: erstens ein jesuitisches Moment, das argumentative Folgen zeitigen wird; und zweitens die Bedeutung von Wahrnehmung. Es geht hier weniger um eine 'materielle Praxis', als vielmehr um Wahrnehmungen, in denen das Gemeinte allererst stattfindet. Auch dies hat Folgen und führt auf das Gebiet der 'Propaganda Fidei' sowie der Rhetorik.
Ausstellungen
In den vergangenen zehn Jahren hat es mindestens vier große Ausstellungen gegeben, in denen es um Kirchers Sammlungen zu tun war: zwei in den USA und zwei in Europa [2]. Angela Mayer-Deutsch war in die Projekte Rom 2001 und Bonn 2005 involviert. Der zweite Teil ihres Buches fußt auf Eugenio Lo Sardos Versuch von 2001, Kirchers Sammlungsobjekte zu rekonstruieren. Wer die damalige Ausstellung im Palazzo di Venezia gesehen hat, wird sich erinnern, wie der hoch gespannte Anspruch in den teilweise gebastelt wirkenden Nachbauten nicht recht eingelöst wurde. Vor allem aber waren die Behauptungen über Zuordnung und Verbleib der Objekte nicht immer nachvollziehbar. Trotzdem hat die Ausstellung einen wichtigen Forschungsimpuls gegeben. Er wirkt in diesem Buch nach.
Die Autorin hat erneut und im Detail erörtert, was über Kirchers Sammlungen im Einzelnen gesagt werden kann. Was ist mit Sicherheit bekannt und was kann nur mit einem gewissen Grad von Wahrscheinlichkeit behauptet werden? Was ist auszuschließen? Was ist schlichtweg nicht zu klären? All dies sind Grundfragen einer positivistischen Forschung, die hier überzeugend durchgeführt wird - bei klarem Bewusstsein, dass dies allein zu kurz greifen würde. Wer immer sich mit dem 'Musaeum' befasst, gerät eben nicht nur an 'Dinge' mit einem 'Kontext', sondern an zirkulierende Formen einer symbolischen Ordnung, die sich vorübergehend verdinglichen. Der Verweis auf Stephen Greenblatts Konzept einer 'Circulation of social energy' wirkt sinnvoll (S. 205); dieser Punkt ist sehr anschlussfähig und kann weitere Diskussionen ermöglichen [3].
Figuratives
Auf den Schwellen zu Kirchers Werken begegnen uns sinnbildliche Figuren, die je verschieden aktualisiert werden können. Ingrid Drake Rowland hatte 2000 die Bedeutung des Harpocrates betont, des kindlichen ägyptischen Gottes, der den Finger auf die Lippen legt, um zu verschleierter Rede anzuhalten [4]. Angela Mayer-Deutsch dagegen entwickelt ihre Leitfigur aus dem Bild des Atlas-Herkules, wie er auf dem Frontispiz zu De Sepibus 'Musaeum Celeberrimum' (1678) dargestellt ist. Die Bedeutung dieser Doppel-Figur wird ikonographisch schlüssig entwickelt, und zwar im Sinne einer Überlagerung von 'vita activa' und 'vita contemplativa' zur Gestalt des Sinnenden. Herkules ist zudem mit dem 'lapis Herculaneum' verbunden, d.h. mit dem Magnetstein, der von De Sepibus 1678 als Kernstück der Sammlung bezeichnet wurde. Der kontemplative Aspekt der Atlas-Herkules-Figur schließt bündig an die Lehren des Ignatius von Loyola an. Die in jesuitischen Exerzitien eingeübte Kontemplation wird von Mayer-Deutsch als adäquate Form der Wahrnehmung in der Wunderkammer bestimmt: 'Sammlung' im Doppelsinn des Wortes. Und damit verlässt das Buch die seinerzeit von Frances A. Yates vorgegebenen Pfade.
Wahrnehmungen
Kernstück des Buches ist die kritische Überprüfung der Exponate des 'Musaeums'. Hierzu hat die Autorin nicht nur die Angaben bekannter Texte ausgewertet, sondern auch neue, bislang nicht edierte Quellen erschlossen. Die Tagebücher englischer Reisender erweisen sich als aufschlussreich und werfen manches neue Licht auf das Verhältnis von Royal Society und Kircher. Insgesamt ergibt sich ein beeindruckend detaillierter Blick auf das, was man heute von Kirchers Dingen wissen kann. Die Lektüre ist heilsam ernüchternd. Wer in Zukunft von diesen Sammlungen sprechen will, wird an der von Angela Mayer-Deutsch geleisteten Aufarbeitung nicht vorbeikommen.
Dabei mag es Kircher-Forschern wie Leibniz-Editoren ergehen ─ ein Scheitern an dem fragmentierten Chaos der Überlieferung ist nie ganz ausgeschlossen. Angela Mayer-Deutsch hat den Mut gehabt, dieses Risiko einzugehen. Streckenweise arbeitet sie mit drei verschiedenen Ordnungssystemen (De Sepibus 1678, Bonanni 1709, Mayer-Deutsch 2010), die jeweils eine Vielzahl von Objekten enthalten, die wiederum untereinander sowie mit heutigen Museumsbeständen verglichen werden usw. Unter diesen Voraussetzungen kann bei der Lektüre ihres Buches durchaus einmal der Überblick verloren gehen. Mitunter fragt man sich, ob eine Tabelle bzw. etwas elektronisch Verlinktes hilfreich gewesen wäre? Oder käme man damit allein ins nächste Labyrinth?
Ein entscheidendes Verdienst des Buches liegt darin, den polyvalenten Status der Kircherschen Sammlungen von Anfang an klar ins Auge, d.h. ins Wahrgenommen-Werden zu fassen. Damit geraten die 'Dinge' in einen reizvollen Schwebezustand voller Anschlussmöglichkeiten. Noch die Uhren werden gleichsam zu Wolken (um ein Bild Karl Poppers aufzugreifen). Hier kommt dem Text zu Gute, was Angela Mayer-Deutsch vorab in einer Reihe von Aufsatzpublikationen zu Kirchers Frontispizen erarbeitet hatte. Das Schlusskapitel basiert darauf und bietet eine Fülle subtiler Bemerkungen zum Raffinement der Bildrhetorik und zum Spiel der Möglichkeitsräume. Diese entfalten sich in Bildern und als Bilder, die vermutlich weit über alles hinausragen, was auf den dunklen Korridoren des Collegio Romano je zu sehen war.
Abbildungen
Das Buch bietet eine Vielzahl von Abbildungen, teils innerhalb des Textes (dort auch ganzseitig gedruckt), teils in Gestalt von angehängten Tableaux (S. 311-336). Auf letzteren finden sich 149 Objekte abgebildet, darunter manche in mehreren Darstellungen, sowohl im Kupferstich wie im Foto (wo dies möglich ist). Im Hinblick auf das Buchformat wurden die zu Tableaux zusammengefassten Bilder leider bis an die Schmerzgrenze verkleinert. Man würde sich und der Autorin einen Quartband mit großen, ausklappbaren Tafeln wünschen! Eine gewisse Vorsicht vor Rückschlüssen ist überdies geboten. Am Bild steht jeweils nur eine Nummer, ohne Verweis zur zugehörigen Textstelle. Man erfährt an dieser Stelle also nicht, welche Objekte gesichert aus dem 'Musaeum Kircherianum' stammen, welche zu den ungesicherten Dingen oder zu den Vergleichsobjekten zählen. Diese Angaben finden sich allein in Textstellen, deren Ort erst gesucht werden muss. Es sei also dringend empfohlen, vom Text zu den Bildern zu gehen (nicht etwa umgekehrt!) und das Buch linear zu lesen. Dann ist es ein Ariadnefaden durch das Labyrinth mit Namen Kircher.
Schlussbemerkungen
Das Buch geht auf eine Dissertation zurück, die am Kunsthistorischen Institut der Humboldt-Universität Berlin entstand. Es finden sich nur wenige Druck- und Verweisfehler, man vermisst allenfalls ein Register. Doch sind dies Kleinigkeiten angesichts der 'Herkules-Arbeit' (im vielfachen Sinne des Wortes), die Angela Mayer-Deutsch geleistet hat. Sie hat ihrem Buch eine seltsam schwebende Erinnerung von Walter Benjamin voran gestellt, und zwar aus dessen 'Berliner Kindheit um Neunzehnhundert'. Dem staunenden Kind schienen die Äpfel der Hesperiden auf Booten den Landwehrkanal heraufzukommen, um an der Brücke anzulegen. Es war die Brücke des Herakles.
Anmerkungen:
[1] Frances A. Yates: Giordano Bruno and the Hermetic Tradition, London/New York 1964.
[2] 'The Ecstatic Journey: Athanasius Kircher in Baroque Rome', Chicago University 2000. - 'The Great Art of Knowing. The Baroque Encyclopedia of Athanasius Kircher', Stanford University 2001. - 'Athanasius Kircher. Il Museo del Mondo', Palazzo di Venezia Rom 2001. - 'Barock im Vatikan 1572-1676. Kunst und Kultur im Rom der Päpste', Kunst- und Ausstellungshalle der BRD Bonn 2005-06.
[3] Stephen Greenblatt: Shakespearean Negotiations: The Circulation of Social Energy in Renaissance England, 1988 (dt. Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance, Berlin 1990)
[4] Ingrid Drake Rowland: The Ecstatic Journey. Athanasius Kircher in Baroque Rome, Chicago: University of Chicago Press 2000, S. 15f.
Angela Mayer-Deutsch: Das Musaeum Kircherianum. Kontemplative Momente, historische Rekonstruktion, Bildrhetorik, Zürich: diaphanes 2010
ISBN-10: 3-03734-115-7, 336 S, EUR 29.90
Empfohlene Zitation:
Peter Bexte: [Rezension zu:] Angela Mayer-Deutsch: Das Musaeum Kircherianum. Kontemplative Momente, historische Rekonstruktion, Bildrhetorik, Zürich 2010. In: ArtHist.net, 16.02.2011. Letzter Zugriff 03.11.2024. <https://arthist.net/reviews/900>.
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