Die Geschichte des Städelschen Kunstinstituts in Frankfurt am Main ist eine Erfolgsgeschichte. Kaum ein anderes Museum in Deutschland erfreut sich heute so hoher Besucherzahlen und internationaler Bekanntheit wie das Städel. Umso erstaunlicher ist es, dass Ursprung und frühe Anfänge dieser Institution bisher noch nicht Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung waren. Corina Meyer schließt mit ihrer 2013 an der Technischen Universität Berlin eingereichten Dissertation diese überraschende Forschungslücke. Die Gründungsphase des Städels wird dabei von Meyer aus museumshistorischer Perspektive dargelegt und die Initiative des Privatsammlers Johann Friedrich Städel in ihrer Funktion für das bürgerliche Selbstverständnis und die kulturelle Identität der Stadt Frankfurt untersucht. Anders als nationale Museumsgründungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts [1] steht das Städel als bürgerliche Museumsgründung pars pro toto für eine gegenläufige Bewegung: das bürgerschaftliche Engagement bestimmter gesellschaftlicher Gruppen – mit ihren jeweils eigenen Motiven – jenseits des nationalen Selbstverständnisses. Auf der Grundlage zahlreicher Quellen und Archivalien zeichnet Meyer die Etappen der Entstehung der Städelschen Kunstsammlung nach, von den privaten Räumen Städels am Rossmarkt als „noble Adresse“ (S. 35–62), über Städels 1815 testamentarisch verfügte Stiftung, der zunehmenden Institutionalisierung der Sammlung mit all ihren Prozessen der Professionalisierung und Administration bis zum innovativen Konzept eines Städelschen Kunstinstituts, das die Präsentation von Kunst in einer öffentlichen Kunstsammlung mit der Ausbildung von Künstlern in einer direkt daneben gelegenen Kunsthochschule verband.
Die 550 Seiten umfassende Untersuchung von Meyer gliedert sich in drei Teile. Der Annex stellt in minutiöser Arbeit zunächst die Zusammensetzung von Städels Gemäldesammlung in dessen Todesjahr 1816 in einer Auswertung der Inventare tabellarisch dar (S. 347–356), um dann eine Rekonstruktion der Gemäldesammlung vor 1816 vorzunehmen – also eine graphische Simulation der einzelnen Wände des Wohnhauses Städels und der dortigen Präsentation sowie, sofern möglich, eine Zuordnung seiner Gemälde (S. 357–382). Der folgende „Gemäldekatalog. Erwerbungen des Städelschen Kunstinstituts 1816–1834“ (S. 383–423) sowie das zugehörige Verzeichnis dieser Gemälde (S. 425–504) vervollständigen diesen umfangreichen Anhang (159 Seiten).
Auf eine pointierte Einleitung folgt der erste Teil, welcher den Bankier Städel in seinem Selbstverständnis als Kunstsammler zum Gegenstand hat. Zugleich rekonstruiert Meyer die privaten Wohnräume Städels: Ankauf, Bau, Nutzung und die exakte Hängung der Kunstwerke in seinem Haus. Die Privatsammlung Städels mit ihren Vorlieben und Eigenarten wird systematisch vorgestellt und im Frankfurter Milieu des 18. und frühen 19. Jahrhunderts eingeordnet, Städels Gemäldeinventar im Spiegel der zeitgenössischen Kunsttheorie betrachtet und mit einem Rundgang durch die Räume Städels vervollständigt. Der erste Teil endet mit einer Erörterung der Stiftung Städels und einem Vergleich zu europäischen sowie lokalen Frankfurter Vorbildern wie dem Arzt und Naturforscher Johann Christian Senckenberg (S. 136).
Der zweite Teil ist den Gründungsjahren des Städelschen Kunstinstituts und seinen Akteuren gewidmet. Hier legt Meyer dar, wie die „erste Administration“ nach dem Tode Städels im Jahre 1816 mit seinem Erbe umging und welche musealen Konzepte und Präsentationsmodelle daraus entstanden. Neben den Veränderungen der Stiftersammlungen 1817–1833 ist ein Unterkapitel der Einführung einer Kunstausbildung ab 1817 gewidmet, welche ebenfalls durch Städel testamentarisch vorgesehen war. Auch die Machtstrukturen und Differenzen zwischen den Protagonisten der ersten Administration werden dargestellt.
Im dritten und letzten Teil stehen die personellen sowie museologischen Veränderungen und Entwicklungen im Zentrum, welche in den 1820er Jahren folgten. Das Bemühen der zweiten Verwaltergeneration um ein zeitgemäßes Konzept für das Kunstinstitut wird von Meyer in einen europäischen Kontext eingeordnet und befragt. Die Gründung von Kunstakademien in ganz Europa, die Kunstströmung der Nazarener, die Museumsgeschichte und Kunstkennerschaft werden als zeitgeschichtliche Strömungen mit Einfluss auf den Gang des Städel gedeutet und dabei für die verschiedenen Protagonisten differenziert untersucht. Entscheidungen für Ankäufe und Geschmacksurteile sind, wie Meyer zeigt, mitunter Spiegel europäischer Debatten und personeller Verflechtungen. Schließlich endet dieser letzte Teil mit der Frage nach der Wirkung von Städels Stiftung, einer Frankfurter Unternehmung, die im 19. Jahrhundert „republicanisch“ (S. 341) gedeutet wurde. In ihrer Zusammenfassung arbeitet Meyer heraus, welchen Einfluss das Städel auf die Gründung bürgerlicher Museumssammlungen in Deutschland nehmen sollte.
In ihrer Analyse und Diskussion der Hängung gelingt Meyer im ersten Teil ein wesentlicher Beitrag zur aktuellen Display-Forschung. Meyer zeigt dabei, dass die „barocke Hängung“ von Städel nicht nur als rein „dekoratives Ordnungssystem“ verstanden werden darf, sondern der auf den ersten Blick egalitär „tapezierten“ Wand durchaus Gewichtungen und Wertungen zugrunde liegen. Seit den 1990er Jahren wurden Hängungs- und Ordnungssysteme höfischer Sammlungen rekonstruiert, so von Deborah Meijers für die Habsburger Gemäldegalerie in Wien (1991/1995), von Andrew McClellan für die Anfänge des Louvre in der Galerie du Luxembourg (1994), von Tristan Weddigen für die Dresdener Galerie (2007) sowie Thomas W. Gaehtgens und Louis Marchesano in Bezug auf die Düsseldorfer Galerie (2011) [2]. Nun befragt Meyer in ihrer Untersuchung erstmals die Choreographie einer solchen „barocken Bilderwand“ für eine bürgerliche Sammlung im 18. Jahrhundert in Deutschland. Die Rekonstruktion der Gemäldesammlung im Hause von Städel gelingt Meyer durch eine Zusammenschau dreier Datensammlungen: den Plänen zur Hängung (Catalogue des Tableaux), dem Gemäldeinventar von 1817 und der aktuellen Datenbank des Städelmuseums. Diese Informationen überführt Meyer mithilfe des Programms „Gallery Creator“, das an der Universität Bern unter der Leitung von Tristan Weddigen entwickelt wurde, schließlich in Visualisierungen der Gemälde-Displays. Entgegen der bisherigen Überzeugung, Städel habe hautpsächlich deutsche und holländische Malerei gesammelt, wird er von Meyer als ein Sammler europäischer Malerei dargestellt. Zudem zeugen auch seine Präsentationsentscheidungen von der breiten Kenntnis anderer europäischer Sammlungen.
Besonders hervorzuheben sind die umfassende Bearbeitung von Archivmaterial sowie die von Meyer vorgenommenen visuellen Rekonstruktionen der Wohnräume Städels. Die Fülle des angebotenen Materials führt zu einigen Abschnitten, die etwas zu ausführlich geraten sind. Auch ist es fraglich, ob die visuelle Rekonstruktion der Wände des Städelschen Wohnhauses nicht eher exemplarisch hätte präsentiert werden können – beispielsweise nur jene Fallbeispiele wo ein wirkliches Erkenntnispotential liegt. Damit könnte vermieden werden, dass Wände aufgenommen wurden, die kein oder nur ein einzelnes nachweisbares Bild enthalten. Aber dies sind nur kleinere Kritikpunkte: In den Teilen I–III argumentiert Meyer doch stets nah am Objekt und die Ausführungen werden durch ausgewählte Abbildungen sinnvoll ergänzt.
Alle folgenden Studien zum Städel-Museum werden sich dankbar auf diesen Meilenstein der Erforschung eines der größten europäischen Museen stützen. Es ist das Verdienst von Meyers differenzierter Untersuchung, dass die Geburtsstunde des Städelschen Kunstinstituts nun erstmals in ihren Details bekannt gemacht wird.
[1] Bénédicte Savoy (Hrsg.), Tempel der Kunst. Die Entstehung des öffentlichen Museums in Deutschland 1701-1815, Mainz 2006.
[2] Deborah Meijers, Kunst als Natur. Die Habsburger Gemäldegalerie in Wien um 1780, (Reihe: Schriften des Kunsthistorischen Museums, Bd. 2), Wien 1995 (zuerst publiziert als: Kunst als natuur, Amsterdam 1991); Andrew McClellan, Inventing the Louvre. Art, Politics, and the origins of the modern Museum in Eighteenth Century Paris, Cambridge 1994; Tristan Weddigen, Die Sammlung als sichtbare Kunstgeschichte. Die Dresdner Gemäldegalerie im 18. und 19. Jahrhundert, Emsdetten/Berlin, Habilitationsschrift an der Universität Bern 2007; Thomas W. Gaehtgens / Louis Marchesano, Display and Art History. The Düsseldorf Gallery and Its Catalogue, Los Angeles 2011.
Meyer, Corina: Die Geburt des bürgerlichen Kunstmuseums. Johann Friedrich Städel und sein Kunstinstitut in Frankfurt am Main (= Berliner Schriften zur Museumsforschung), Berlin: G+H Verlag 2013
ISBN-13: 978-3-940939-26-5, 550, EUR 42,00
Empfohlene Zitation:
Alexandra Enzensberger: [Rezension zu:] Meyer, Corina: Die Geburt des bürgerlichen Kunstmuseums. Johann Friedrich Städel und sein Kunstinstitut in Frankfurt am Main (= Berliner Schriften zur Museumsforschung), Berlin 2013. In: ArtHist.net, 12.11.2014. Letzter Zugriff 19.11.2024. <https://arthist.net/reviews/8897>.
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