Die 2014 erschienene Anthologie „Bilderräume. Schriften zu Skulptur und Architektur“ versammelt zum ersten mal Texte des 2011 verstorbenen Kunsthistorikers Gundolf Winter (*1943). Sie soll laut den beiden Herausgebern, Martina Dobbe und Christian Spies, einen Beitrag zu der nach wie vor vernachlässigten „Frage nach dem Bild in der Auseinandersetzung mit räumlichen, das heißt skulpturalen und gebauten Bildern“ liefern. (S.1)
Zwischen 1984 und 2008 war Gundolf Winter Professor für Kunstgeschichte an der Universität Siegen. Aus diesem Zeitraum stammen die meisten der abgedruckten Schriften und markieren damit seine akademische Forschungskarriere. Sie situieren sich vor dem Hintergrund der seit dem Medienumbruch im 20. Jahrhundert stattfindenden Veränderungen der Ikonizität und Medialität in den Künsten sowie den Hinwendungen der verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen zum Raum und zum Bild. Dementsprechend bilden die behandelten Beispiele Spannungsverhältnisse zwischen klassischen Bildwerken, Medien und Architekturen ab. In ihrer einleitenden Rückvergewisserung stellen Dobbe und Spies dann auch den interdisziplinären und thematisch heterogenen Ansatz als Merkmal der Forschungen Winters heraus. (S.11) Da wo Kritiker oft vorschnell zur Ordnung in den Topologien rufen, will Winter für eine Auseinandersetzung mit hybriden Phänomenen der Bildperformanzen im Verhältnis zu Zeitlichkeit, Körper und Raum sensibilisieren. (S.17) Demnach lohnt der Blick in Winters Texte gerade heute angesichts der Bild-Überdrüssigkeit in der Folge der Konjunktur der Bildwissenschaft.[1]
Jenseits des Flächenbildes
Zwei Texte Winters sind den beiden Hauptteilen, „Bilder im Raum – Skulptur“ sowie „Gebaute Bilder – Architektur“, vorangestellt. Sie sensibilisieren den Leser für den Gedankengang Winters, das Bild diesseits sowie jenseits des klassischen Tafelbildes zu befragen. So bestimmt bereits der zweite Text „Distanz“ als einen Schlüsselbegriff für das jeweilige, zu untersuchende „Raumordnungssystem“, welches sich prozessual zwischen einem Artefakt, dem Bildwerk, und dem Betrachter als Erfahrungsraum einstellt. Schaut man sich die folgenden Texte an, so wird klar, dass Distanz einen unsichtbaren, d.h. nicht konkret materialisierten Topos schlechthin meint, ein Zwischen, durch das raumbildliche Darstellungs- und Erscheinungsweisen von Objekten ermöglicht wird, durch die sich die Gestaltung des Künstlers auf die Probe gestellt sieht, das den Blick des Betrachters herausfordert und die Materialität sowie die Form des Werks dynamisiert.
Beispielhaft konkretisiert sich dieses Zwischen im ersten Aufsatz im Spannungsverhältnis von Architektur und Skulptur. Darin widmet sich der Autor der Beziehung des Erbdrostenhofs von Johann Conrad Schlaun aus der Mitte des 18. Jahrhunderts und einer auf dem Vorplatz stehenden Skulptur Richard Serras von 1987, die über dessen Auseinandersetzung mit dem barocken Architekten entstand. Das Konzept des US-Amerikaners hat die eigenartige, geschwungene Architektur Schlauns, die sich aufgrund des Eckgrundstücks, auf das das Gebäude gebaut werden musste, als Referenz und Resonanzraum aufgenommen. Der Platz wird nun sinnlich und sinnenhaft durch das Zueinander beider Werke in ein neues räumlich-plastisches Verhältnis gerückt. Der Ort wird komplettiert und zugleich durch den vielfältigen Dialog beider Werke geöffnet, in Bewegung gehalten.
Von der Formanalyse zur Topologie interaktiver Raumbildlichkeit
Zwei Texte aus dem darauf folgendem Skulpturen-Teil sind besonders erwähnenswert. Der früheste, aus Winters Zeit als Mitarbeiter an der Universität in Gießen stammende Text von 1983 über die „'Schönen Madonnen' um 1400“ ist stark geprägt von einer Form- und Rezeptionsästhetik, wie sie etwa Alois Riegl oder Heinrich Wölfflin am Anfang des 20. Jahrhunderts auf den Weg gebracht haben. Winter vollzieht darin Relationen, Koordinaten und Vektoren nach, um sich dem immer erst über eine „Distanz“ und unterwegs etablierendem Milieu zwischen dem jeweiligen Artefakt und dem Betrachter zu vergewissern. Dieses wird stets unterschiedlich auf eine bestimmten Art und Weise optisch bewältigt und verspricht keinesfalls eine dauerhafte, autonome und gleichbleibende Anschaulichkeit, Einheit und Ordnung.
Am Durchgang der einzelnen Madonnenfiguren, zeigt sich neben dem formalen Ansatz, dezidiert die topologische Herangehensweise Winters. Über diesen versucht er das Problem der nicht genau geklärten jeweiligen Herkunft der Figuren zu umgehen und sich dennoch ihrer Qualitäten, Verschiedenheiten und „Gestaltungsprinzipien“ bewusst zu werden. Noch behilft sich Winter mit Begriffen wie „Ordnungseinheit“, „Sinnbestimmung“, „Gesamterscheinung“, „Existenz“. Erst in seinen folgenden Texten wird Winter sein Vokabular des Formästheten mit medientheoretischen Beschreibungen ergänzen. So definiert er dann im Text „Skulptur und Virtualität oder der Vollzug des dreidimensionalen Bildes“ von 2006 am Beispiel von Berninis Skulpturenkonzeption zur „Aeneas-Anchises-Gruppe“, das entscheidende Stichwort zur Bestimmung einer bildhaften wie räumlichen Gesamterscheinung und Wirkung als einen Modus von Mediatisierung, Winter: „Es ist [...] dieser spezifizierte und also gewordene, gerade nicht konkrete, aber auch nicht abstrakte, sondern virtuell ermöglichte Sinn, der als Raumbildlichkeit jenes skulptural erzeugte Imaginäre, nämlich zwischen Haptischem und Virtuellem, Konkretem und Virtuellem, Körper und Bild vermittelnde 'Zwischen' als Medium verantwortet.“ (S.118)
Ein weiterer, der nach Winters Emeritierung veröffentlichte und damit jüngste Text von 2009, der einem abschließendem Resümee über das Spannungsverhältnis von „Bild – Raum – Raumbild“ als „Phänomen dreidimensionaler Bildlichkeit“ gleicht, erschien, als der Bilddiskurs mitsamt Debatte im vollen Gange war. Winter markiert dann auch gleich zu Beginn des Textes die problematische Unterscheidung zwischen Bild und Raum, um sie dann in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit zu begreifen. An drei Beispielen aus unterschiedlichen Zeiten wird diese nach Winter deutlich: An Rupprecht Geigers panoramaartigen Farbtanks aus den 1970er Jahren, an einer Installation Dan Grahams von 1991 und schließlich an Gian Lorenzo Berninis Baldachinentwürfen aus der Mitte des 17. Jahrhunderts. In dieser von Winter gewählten Genealogie zeigt sich bereits, dass Raumbildlichkeit kein modernes Signum ist, lediglich lässt sich das Raumbild anhand gegenwärtiger Positionen aus der Kunst am vielfältigsten und nachvollziehbarsten problematisieren: An Geigers Bildflucht in den Raum, ohne sich dabei von der Malerei zu entfernen oder an Grahams performativ, d.h. räumlich-prozessual zu erfahrenden Installation, die zugleich bildlich gerahmt ist und den Betrachter distanziert, also in eine Partizipationspause versetzt, wie es für Bild-wahrnehmungen charakteristisch ist. Daher erlaubt sich Winter in seinen Texten, in denen er Raumbildlichkeit zu definieren versucht, oftmals eine kurzweilige Lesung der modernen Beispiele, während er für die historischen Positionen mehr Zeit und Raum in Anspruch nimmt.
Berninis Baldachinentwürfe zeichnen sich laut Winter durch den Einsatz und die Wirkung performativer Bildakte aus. Sie sind zum einem an der bildlichen Einheit sowie der spielerischen Inszenierung architektonischer Elemente und deren Komposition zueinander abzulesen und fordern somit eine eigentümliche Wahrnehmungslage des Betrachters zum und im Raum heraus. In zwei weiteren Texten spielt Bernini ebenfalls eine wesentliche Rolle. So werden zwei Versionen einer Büste des Scipione Borghese von Bernini aus dem Jahr 1632 über eine Formanalyse verglichen und ihre unterschiedliche Wirkung, die sich dem Betrachter als bildhaft vermittelt, problematisiert. An Berninis „Aeneas-Anchises-Gruppe“ von 1618–19 wird deren Gestaltung und Wahrnehmungslage thematisch. Vor dem Hintergrund der Krise der Skulpturenwahrnehmung im Manierismus, nämlich das um die Figur Herumgetriebenseins ohne einheitlichen, d.h. bildhaften Fixpunkt ausmachen zu können, umgeht, nach Winter, Berninis plastisch-räumliche Konzeption der Gruppe dieses Problem, indem es ein geleitetes Rundum-Sehen gestattet und stillgestellte Anblicke gestaltet.
Die im letzten Teil abgedruckten Texte schaffen laut den Herausgebern einen Beitrag zur Thematik „einer eigenständigen Bildlichkeit der Architektur“, die sich „aus konkreten raumkünstlerischen Gegebenheiten“ ableiten lassen (S.17). Die Architekten Jacob van Campen, Johann Conrad Schlaun, Etienne-Louis Boullée sowie die Kasseler Landschaftsgestaltung des Schlossparks von Wilhelmshöhe werden als Beispiele baukünstlerischer und bildarchitektonischer Gestaltung vorgestellt. So thematisiert Winter etwa an Schlauns Jagdschloss Clemenswerth von 1737–47 das raumbildliche und situative Rundum-Erfassen der Anlage. Dies gelingt Schlaun laut Winter über Streifengliederung der Fassaden und dem Umgang mit Raum über eine bildflächenhafte Raumauffassung.
Fazit
Winters Texte im dritten Teil der Schriften können zwar Denkimpulse vermitteln, doch verbleiben seine Gedanken zur Bildlichkeit von Architektur im Kursorischen. Sie machen jedoch bereits deutlich, dass Bildsprache und Architektur sich nicht widersprechen müssen, Bildlichkeit im Bau den Betrachter nicht unbedingt immer bannt und in Distanz hält, sondern die jeweilige Funktion und die prozessuale Erfahrung von Architektur betonen kann.
Einen fruchtbaren Beitrag zur Bilddebatte liefert Gundolf Winter vor allem mit den Texten des einleitenden und zweiten Teils, in denen der Weg vom Flächigen zum Räumlichen und umgekehrt am anschaulichsten behandelt wird und sich eine Methodik aus Kunstgeschichte und Medientheorie entfaltet. Bereits an seiner Darstellungsweise zeichnet sich die spannungsreiche Bild-Raum-Beziehung ab: Wo Winters Abtasten des Plastischen und Formalen und akribische Auslese von Bildwerken aufhört, beginnt er eine topografische Grundrissauslegung, eine Bewegungsstudie mittels Fotografien und Grundrissen oder eine topologische Untersuchung von Landschaft und Architektur. Diese zwangsläufig entgegen einer semiotischen Ausrichtung zu unternehmende strukturale und empirisch-experimentelle Analyse der nicht immer sichtbaren Relationen, ist medial bedingt, über die einzelnen kunst-, medien- und kulturwissenschaftlichen Turns hinweg zu bemühende Übersetzungsarbeit zwischen den Disziplinen sowie dem heterogenen Korpus, dem sich Winter annimmt, geschuldet. Es will ein Raster bieten, an dem sich ein Topoi entschlüsselnder, medientheoretischer Blick orientieren kann.
[1] So hat die bildwissenschaftliche Konjunktur etwa Vorwürfe einer „neuen Bildmythologie“ (Wiesing 2013) oder „Bildhysterie“ in den Akademien (Rübel 2012) produziert. Vgl. Lambert Wiesing, Sehen lassen. Die Praxis des Zeigens, Berlin 2013, insbes. S. 79-108, sowie Dietmar Rübel, Plastizität. Eine Kunstgeschichte des Veränderlichen, München 2012, S. 18.
Winter, Gundolf: Bilderräume. Schriften zu Skulptur und Architektur, Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2014
ISBN-13: 978-3-7705-5400-3, 273 S., EUR 36,90, Inhaltsverzeichnis
Empfohlene Zitation:
Stefan Schulz: [Rezension zu:] Winter, Gundolf: Bilderräume. Schriften zu Skulptur und Architektur, Paderborn 2014. In: ArtHist.net, 15.12.2014. Letzter Zugriff 26.12.2024. <https://arthist.net/reviews/8382>.
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