REV 22.04.2005

Hans-Peter Wittwer: Vom Leben der Kunst

Rezensiert von Martina Sitt, Universität Kassel
Redaktion: Philipp Zitzlsperger

Jacob Burckhardt ging es mit so mancher Erkenntnis wie mit der Kunst generell: Es handele sich dabei um ein Zentrum, um das man nur kreisen könne.[1] So mag es auch den zahlreichen Burckhardt-Forschern erscheinen, die versuchen, in die überbordende Fülle seiner Überlegungen und Texte nachträglich (ihre) übergeordneten Strukturen hineinzudenken. Die einen vertrauen dabei auf morphologische und die anderen auf systematische Kategorien. Die Systematiker haben wiederum das Problem, dass wie Burckhardt selbst [2] insbesondere Heinrich Wölfflin, der als einer der ersten das Material sichtete, auswertete und nach seinen eigensten Kriterien sortierte, zunächst nicht uneigennützig das Diktum von Burckhardts Unsystematik mehrfach kräftig wiederholte. Immerhin hat er ein wesentliches Manuskript Burckhardts von 1863, die „Einleitung in die Ästhetik der Bildenden Kunst“[3], in der Gesamtausgabe nicht berücksichtigt und vielmehr daraus stillschweigend einige seiner prägnanten Begrifflichkeiten entwickelt. Unschwer lassen sie sich oft als Zitate oder Anlehnungen an gerade diesen Text Burckhardts erkennen. Denn allzu schnell wurde vergessen, das Wölfflin trotz gewisser Ergebenheit an den Meister auch ganz eigene Interessen zu verfolgen bemüht war. Der „ärmliche Mann mit dem geistreichen Kopf“ [4] (d.i. J.B.) hatte nach Wölfflins Auffassung zu wenig Interesse an einer psychologischen Entwicklungsgeschichte, also die Werke zu sehen „wie sie ehemals gesehen worden sind“,[5] und beschäftigte sich zuviel mit dem jeweiligen „Innewerden“ der Kunst durch den Betrachter. Dem wollte Wölfflin durch sein Denken in präzisen Begriffen abhelfen. Gegen die „Vernachlässigung der formalen Betrachtung“ wollte Wölfflin eine Kunstgeschichte setzen, die von Grundbegriffen spricht, en detail „von viel elementareren Dingen (...) von Farben und Farbharmonien, von Linien und Flächen mit Raumfüllung“.[6] Burckhardt habe „durch Darbietung von lauter grandiosen Gesichtspunkten“ die Studenten etwas verdorben, befindet sein Nachfolger auf dem Basler Kunstgeschichtslehrstuhl.[7]

In seiner Dissertation versucht Hans Peter Wittwer einen so frappierend unscharfen Begriff Burckhardts wie Existenzmalerei durch sorgfältige Recherche in nahezu allen seinen Texten zur Kunst einzugrenzen. Eine verheißungsvolle Aussicht, verspricht sie doch Vergnügen an Burckhardts Charakterisierungen von typischen Existenzbildern. Wer jetzt Bildbetrachtungen und ihre sorgfältige Analyse erwartet hatte, wird bitter enttäuscht. Wittwer möchte vielmehr „Burckhardts Überzeugung den Lesern in Form von Definitionen bekannt [...] geben. Sie (die Betrachter) müssen mehr erraten und das Zusammenziehen weit auseinander liegender Äußerungen in jene Nähe gebracht werden, die das Systematische an ihnen heraustreten lässt.“(S. 135). Um den Begriff der Existenzmalerei zu klären, wird dafür etwas umständlich und methodisch durchaus irreführend erst einmal der damit vermeintlich ausschließlich verbundene Begriff des Lebens in seine Bestandteile zerlegt. Dabei ergibt sich bereits die erste Unschärfe, indem „Leben“ oder wie Witwer an anderer Stelle sagt, die „Metapher des Lebens“ auch in Form von lebendig und lebensvoll hinzugerechnet wird. Das Problem ist, dass Burckhardt selbstverständlich alle Schattierungen des Begriffsfeldes „Existenz“, wie sie in der Philosophie seit Aristoteles oder später bei Thomas von Aquin verwendet wurden, vertraut sind. Unzweifelhaft denkt er jedoch in diesem Moment der Verwendung seiner Wortschöpfung „Existenzmalerei“ nicht im geringsten an die in der Tradition implizierten Anklänge, sondern hat einen höchst verdichteten Moment des uneingeschränkten Kunstgenusses im Blick.

Zu Recht versuchte Lionel Gossman 1999 die Frage nach der Bestimmung des Begriffs „Existenzmalerei“ mit Burckhardts eigenster Vorgehensweise als Kunsthistoriker zu verknüpfen.[8] So darf nicht übersehen werden, dass Burckhardt stets auch den Aspekt der Rezeption im Auge hat. Die Charakterisierung als „lebendig“ beschreibt weniger eine Eigenschaft eines Kunstwerks als eine Empfindung des Betrachters: „Ist nicht manches nur viel lebendiger, weil wir es als solches empfinden.“ Bei einigen Zitaten wird Wittwer dann selbst bewusst, dass es hier auch um ein, so Burckhardt, „Gefühl des Beschauers“ gehe, dass dieser mit „lebendiger Empfindung ausfüllen“ könne. Ehe er sich versieht, endet Wittwer bei dem „Konzept einer lebendigen Betrachtung“, da sich dort - insbesondere in Burckhardts Text über die niederländische Genremalerei - ja wieder Begriffe wie Mitleben und Mitlebenmachen finden, die Wittwer jedoch auch für die Beschreibung des Begriffs Existenzbild unverzichtbar hält (S. 157). Es handle sich dabei um eine „Bildwirkung“. Im Begriff des Mitlebens kommt der Moment der Betrachteransprache ins Spiel. Es ist eine Teilnahme, die über ein oberflächliches Anschauen weit hinaus geht. Missverständlich scheint, wenn Wittwer versucht, das der Zeitlichkeit enthobene Leben der Kunst dann doch mit Momenten einer historischen Darstellung in Zusammenhang zu bringen (S. 187).

Diese Vermischung der begrifflichen Ebenen der Empfindung eines Betrachters (Rezeption): lebendig, lebensvoll, Mitlebenmachen etc. und der Inhaltlichkeit der Kunst und ihrer Normativität im Sinne von „innerem Leben der Kunst und der ihr eigenen Gesetze“ hilft nicht wirklich, um die Kategorie des Existenzbildes weiter zu präzisieren. Die genauere Lektüre des „Cicerone“ zeigt Wittwer, dass für Burckhardt die Kunst selbst nicht nur Leben „hat“, sie ist auch Leben; der Ausdruck „Leben“ weist auf ihr Innerstes, er bezeichnet ihr Wesen und ihr Vermögen. Ferner beinhalte der Begriff des Lebens das Zeitliche und das Eigengesetzliche im Grund genommen zu gleichen Teilen. Wittwer belegt das Systematische am Leben der Kunst, das in den Äußerungen zur Architektur seitens Burckhardts besonders gut zum Ausdruck komme. Das Organische, sei nur eine andere Formulierung für den Begriff des Lebens (S. 124).

Bewegt sich die Interpretation dieser Textstellen im Rahmen der bekannten Sekundärliteratur, so kann dies über das grundsätzliche Verkennen der eigentlichen Bandbreite des Burckhardtschen Wortes „Existenzmalerei“ nicht hinwegtrösten. Dies auch dann, wenn Wittwer fortfährt, Burckhardt weise darauf hin, dass es sich bei der künstlerischen Tätigkeit um einen Vorgang des Übersetzens handele, „über den das Leben der Kunst mit dem Leben der Natur korrespondiert. Das in der Wirklichkeit gegebene Leben der Natur und das aufgrund eigener Gesetze sich selbst (wieder-) herstellende Leben der Kunst liefern Burckhardt auch die Kriterien, anhand deren die einzelnen Werke, durch die diese ‚Leben‘ miteinander in Verbindung treten, zu beurteilen sind“ (S. 147). Der Prozess des Lebens von Kunst stelle sich also in Gestalt eines Übersetzungsprozesses dar. Dieser Übersetzungsprozess, und so entsteht für Wittwer ein Missverständnis Burckhardts an dieser neuralgischen Stelle, hat gerade nicht in erster Linie mit Wahrnehmung zu tun, sondern zunächst mit der künstlerischen Tätigkeit und dient damit nicht der Präzisierung des Gesuchten.

Ein Hinweis auf Goethes Unterscheidung von Existenz und Effekt, die Wittwer anhand eines Abrisses von Goethes Kategorien versucht, belegt dies noch einmal nachdrücklich. Insbesondere die mehrfachen Verweise auf Wilhelm Heinses Verwendung des Begriffes Existenz, der das höchste Gut der Welt und gleichzeitig extrem mit dem Begriff des Genusses und der Glückseligkeit verbunden ist, lassen die Idee der Zeitlosigkeit noch einmal in den Vordergrund treten. Tatsächlich hat die Existenzmalerei in Burckhardts Sinn etwas mit Zeitlosigkeit zu tun, jedoch z.B. im Sinne einer Ungebundenheit an eine bestimmte Gattung und eine begrenzte historische Periode.

Mehrfach den Fluss der Argumentation störend, ist hier erneut die Angewohnheit des Autors, wenn es um eine stringente Beweisführung geht, kurzerhand auf eine weiter hinten angeordnete Ausführung zu verweisen. Blättert man vor, so erfährt man dort dann meist gerade nicht, was man in diesem Argumentationszusammenhang vielleicht erhofft hatte. Ein großes Verdienst dieses Bandes ist es, ihn großzügig mit Jacob Burckhardts Fotopappen als Illustration ausgestattet zu haben. Auch das detaillierte Abbildungsverzeichnis des Buches gereicht zur Freude. „Kunstmorast“ nannte Jacob Burckhardt seine annähernd 10.000 Photographien, die er aus den wichtigen Kunstzentren Europas zusammen getragen hatte. Die großformatigen Ansichten von Kunstwerken und Kirchen, Palästen und Plätzen halfen Burckhardt nicht nur bei der Vorbereitung seiner Vorlesungen an der Basler Universität, sondern er erhoffte sich von ihnen die „Verewigung des Vergänglichen“. „Seit der Photographie glaube ich nicht mehr an ein mögliches Verschwinden und Machtloswerden des Großen“. Als er 1870 vom Brand des Louvre hörte, fielen sich Burckhardt und der Philosoph Friedrich Nietzsche in gemeinsamer Sorge um die Gemälde weinend in die Arme: „Wir müssen alle Kunstwerke photographieren lassen!“ Die Auswahl von 64 aus den um die 10.000 Vorlagen fiel weitgehend zu Gunsten der Werke der italienischen Renaissance aus.

Gerade Burckhardts Abbildungen etwa der Werke der Maler von Existenzbildern par excellence, also von Tizian, Giorgione und insbesondere Veronese, hätten in Burckhardts Kommentierung deutlich machen können, dass man bei diesem Begriff das Wesentliche übersieht, wenn man ihn nur ethymologisch in seinen Schriften nachverfolgt und seziert: Diese Fotos bleiben jedoch im Wesentlichen unkommentiert. Wittwer scheut Erörterungen genau dort, wo, so Burckhardt, man sich an „Ausführung und Einzelnes halten“ müsse (S. 233). Dadurch nimmt sich Wittwer einen entscheidenden Zugang zu den Gemälden, die in ihrer Reichhaltigkeit und dem Facettenreichtum ihrer Malerei das charakterisieren, was Burckhardt unter diesem Terminus erfahren hat. Existenzmalerei ist in ihrer Konzeption komplex und soll im tiefsten Sinne von Burckhardts Terminus „Genuß“ in der Anschauung erfahren werden. Und was die Verquickung mit der Chronologie angeht, so bleibt Burckhardt sich auch an dieser Stelle treu: das „eigene Leben“ der Kunst überwiegt in den Werken der Existenzmalerei, denn „tizianische Charaktere“ (...) gehen doch nicht leicht in irgendeine geschichtliche Bedeutung auf“.

Wenn Wittwer endlich dem Leser „das Verstehen von Existenzmalerei“ nach immerhin 250 Seiten ankündigt, müsste eigentlich eine Bildbetrachtung erfolgen. Doch die farblose Ferne des Autors zum eigentlichen Gegenstand von Burckhardts Interesse könnte nicht deutlicher werden als an jener Stelle. Es wird zwar Burckhardts schwärmerisches, fast schon hymnisches Bekenntnis, geäußert in einem Brief an seinen jüngeren Freund Ernst Stückelberg, zitiert, aber dem eigentlich nicht hinreichend nachgegangen; zudem sich auch just dort Burckhardt einer Analyse entzieht, da er sich selbst nahe des „Zentrums“ der Erkenntnisse wähnt: „... an den alten Venezianern ... wird Sie [E. St.] bald noch Anderes interessieren als Farbenharmonie und Formenschönheit; es ist noch etwas von der Wonne einer idealen Existenz in ihnen, wozu Sie den Schlüssel freilich erst finden werden“ (S. 245).

Wittwer droht gelegentlich von der Fülle seiner gesammelten Querverweise überwältigt zu werden, zudem seine oft völlig objektfernen Ausführungen den Leser allenfalls auf die Suche nach dem schicken, was Burckhardt mit dem Begriff der Existenzmalerei verbunden haben mag. Wilhelm Schlink hatte dies bereits 1990 präziser und überzeugender auf wenigen Seiten zu umschreiben vermocht: mit diesem Begriff der Existenzmalerei habe Burckhardt nur den Betrachter erreicht und ihm in diesem Medium eine Augenlust angeboten, eine glückliche Welt, wie sie sein sollte, eine Menschheit der Sorglosigkeit und des Genusses. Auch hatte Schlink zu recht betont, dass die Existenzmalerei nicht an eine Gattung gebunden sei, indem jede Gattung, ohne sich selbst aufzugeben, zum „Vorwand der Darstellung einer bloßen Existenz“ werden könne. Denn das Existenzbild stelle „nicht Möglichkeiten menschlicher Erfahrung dar, sondern sinnerfülltes menschliches Dasein in der glaubhaften Illusion, es sei wirklich.“[9]

Hätte Wittwer diese Dimension der Existenzmalerei an einer Stelle als Betrachter an einem von Burckhardts Lieblingsbeispielen - insbesondere Veronese - selbst nachvollzogen, so hätte er bestimmt nicht mehr die „anschauliche Basis“ Giorgione zum Beleg heranziehen müssen. Seitenlange Fußnoten und ein ungelenkes Resumée der Forschungslage zu Giorgione belegen in den letzten 50 Seiten der Arbeit die Kunstferne des Autors, der sein Thema, die Existenzmalerei immer mehr aus dem Auge verliert. Schlink hatte festgehalten: „In Burckhardts Konzept des Existenzbildes verbinden sich zwei Positionen des Genusses: die Bildwelt eines genießenden Menschengeschlechts und die sympathetische Teilhabe eines - für die Bildwelt - wie für die Kunstform gleichermaßen aufgeschlossenen - genussfähigen Betrachters.“[10] Burckhardts Modernität, die darin besteht, „Darstellungsform und Rezeptionsform des Genusses in einem“ zu sehen, werden von Wittwer weder wirklich erkannt noch anschaulich gemacht.

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[1] Der Kontext dieser Überlegung in: Martina Sitt, Kriterien der Kunstkritik, Jacob Burckhardts unveröffentlichte Ästhetik als Schlüssel seines Rangsystems, Wien 1992, Kapitel „Die dualistische Struktur der Betrachtung, S. 79 und Anm. 285; Manuskriptbezeichnung: 207/158 Einleitung in die allgemeine Kunstgeschichte von 1851, Blatt verso.
[2] Jacob Burckhardt Gesamtausgabe in 14 Bdn., hrsg. von H. Trog und E. Dürr u.a., Basel 1919-1934, verkürzt BGA XIII, S. 23, ein Zitat allerdings aus seiner ersten kunstgeschichtlichen Vorlesung 1874; dort grenzte er dann seine Arbeit wesentlich ein: „Ganz besonders auszuschließen ist jede systematische Ästhetik“.
[3] Martina Sitt, Jacob Burckhardt und Heinrich Wölfflin, Vortrag gehalten im Louvre im Rahmen eines Colloqiums zu Heinrich Wölfflin, Paris 6.12.1993, unveröffentl. Manuskript.
[4] Wölfflin zitiert nach Joseph Gantner, Hg., Heinrich Wölfflin 1864-1945, Autobiographie, Tagebücher, Briefe, Basel 1982, S. 19 (Tagebuch 8/79 r S. 23).
[5] Wölfflin, in: Gantner1982, S. 154 (Tagebuch 37, 46 v und 49 r)
[6] Wölfflin, in: Gantner1982, S. 90 sowie S. 87; Brief von Ende Dezember 1892.
[7] Wölfflin, in: Gantner1982, S. 94, Brief vom 13.Mai 1893.
[8] Lionel Gossman, The Existenzbild in Burckhardt‘s Art Historical Writing, in: Modern Language Notes, No. 114, Baltimore 1999, S. 879-928, hier S. 880.
[9] Wilhelm Schlink, Paolo. Existenzmalerei bis zu ihren höchsten Konsequenzen, in: Jürg Meyer zur Capellen, Hg., Paolo Veronese - Fortuna Critica und künstlerisches Nachleben, Sigmaringen 1990, S. 7-15, hier S. 9.
[10] ebenda, S. 11.

Wittwer, Hans-Peter: Vom Leben der Kunst. Jacob Burckhardts Kategorien Existenzbild und Existenzmalerei und ihre historischen Voraussetzungen, Basel: Schwabe Verlag 2004
ISBN-10: 3-7965-2019-7, 391 S, CHF 68.00, ca. EUR 47.50

Empfohlene Zitation:
Martina Sitt: [Rezension zu:] Wittwer, Hans-Peter: Vom Leben der Kunst. Jacob Burckhardts Kategorien Existenzbild und Existenzmalerei und ihre historischen Voraussetzungen, Basel 2004. In: ArtHist.net, 22.04.2005. Letzter Zugriff 19.04.2024. <https://arthist.net/reviews/79>.

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