REV 04.06.2004

G. Ullrich Großmann (Hg.): Politik und Kunst in der DDR

Rezensiert von Andrea Schmidt-Niemeyer
Redaktion: Rainer Donandt

"Ich kann nicht sehen, dass hier nur ein einziger wissenschaftlicher Vortrag gehalten worden ist, sondern ich glaube, es waren sehr viele da, die nach bestem Wissen und Gewissen und unter breiter Kenntnis des Materials einen Beitrag zum Verstehen eines komplexen und strittigen historischen Phänomens leisten, die uns helfen wollen, herauszukommen aus jener vorurteilsbehafteten Anschauung der Dinge, die nicht wirklich verstehen will." (S. 177)

Diese Äußerung von Frank Büttner auf der Schlussdiskussion trifft am ehesten die Stimmung der zweitägigen Tagung im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg (GNM), die im Juni 2001 zu Willi Sitte stattfand und deren Ergebnisse zwei Jahre später veröffentlicht vorliegen. Interessant sind dabei weniger die nun schriftlich fixierten Referate, die nicht viel Neues zur bereits seit Jahren geführten Diskussion beitragen, sondern die ebenfalls veröffentlichten Diskussionsbeiträge, die für weitere Überlegungen, wie denn mit dem Erbe 'DDR-Kunst' umzugehen sei, wichtige Anstöße geben.

Anlass des Symposiums war der Aufschub der für den Sommer 2001 geplanten Sitte-Ausstellung im GNM. Nachdem man sich auf Seiten des Verwaltungsrats nicht in der Lage gefühlt hatte, ohne weitere, angeblich noch notwendige Recherchen die Präsentation durchzuführen, kam es in den deutschen Feuilletons zu einem Sturm der Entrüstung und vergleichbaren Turbulenzen wie 1999 bei der Weimarer Ausstellung "Aufstieg und Fall der Moderne". Man wollte für die Archiv-Ausstellung noch weitere Quellen außerhalb des Fonds zu Rate ziehen, ein für die GNM-Reihe 'Werke und Dokumente' ungewöhnliches Vorgehen. "Anlass waren ungeklärte Vorgänge" (S.7) - der sogenannte "Fall Göschel" aber auch andere, auf der Tagung immer wieder angesprochene und teilweise belegte (und von anderer Seite wiederum widerlegte oder bestrittene) Vorfälle und Benachteiligungen von Künstlern durch den Funktionär Sitte. Es sollte "nach einer schriftlichen Intervention des Kulturbeauftragten der Bundesregierung, Naumann, vermieden werden, die bereits zur DDR-Zeit schwer geschädigten Künstler erneut zu brüskieren" (S.9).

Daraufhin veröffentlichten Sitte und seine ehemaligen Weggenossen die für den Ausstellungskatalog vorgesehenen und dem Künstler wohlgesonnenen Artikel - unter der Herausgeberschaft des ehemaligen Ersten Sekretärs des Verbands Bildender Künstler der DDR, Horst Kolodziej. [1] Gespickt mit Vorwürfen gegen Nürnberg goss die Publikation, wenn auch in der breiten Öffentlichkeit nicht sonderlich wahrgenommen, noch zusätzlich Öl ins Feuer. Denkbar ungünstige Vorraussetzungen für eine unvoreingenommene und sachliche Diskussion, wie sie das GNM mit dem Symposion anstrebte. Dass dieses als eine der zentralen Fragen die Verbindungen zwischen Macht und Kunst in der DDR beleuchten sollte, verdeutlicht, dass die Auseinandersetzung um die Person Willi Sitte eigentlich nur Ausgangspunkt einer sehr viel grundlegenderen Aussprache war.

Bereits im Symposium wurde der Wunsch geäußert, die Beiträge zu veröffentlichen, um damit eine breitere Diskussion zu ermöglichen - dies wurde sicherlich auch dadurch begünstigt, dass es wenig Hoffnung gab, eine Sitte-Ausstellung werde nach Absage des Künstlers selbst doch noch stattfinden und dass somit dieser Band eine Form des Abschlusses des "Falles Sitte" bedeutet.

Zwei Vorträge fanden in der Publikation keine Aufnahme. Klaus Michael untersuchte den Einfluss der Partei auf Autoren und Literatur in der DDR, und Walter Lindner beschäftigte sich mit dem Frauenbild im Werk Sittes "als Indikator für Veränderungen in Kunsttheorie und gesellschaftlicher Praxis" [2] - insbesondere der letztere Beitrag wäre eine Bereicherung gewesen, da bis auf zwei Artikel sich alle anderen mit Sittes Funktionärsrolle und weniger mit seiner Kunst auseinandersetzen.

Der Band gliedert sich in fünf Blöcke und folgt damit im großen und ganzen dem Tagungsablauf. Zu Beginn stehen drei einführende Texte. Der letzte Beitrag von G. Ulrich Großmann war dabei nicht Bestandteil des Symposiums, sondern bietet im Rückblick ein kommentiertes "Presseecho zum Fonds, zur Ausstellung und zum Symposium" (S.28-39). Eine Platzierung dieses Artikels am Ende der Publikation oder auch ein Abdruck der wesentlichen Pressemitteilungen wäre vielleicht die geeignetere Alternative gewesen.

Auch der erste Beitrag, Reiner Zimmermanns Analyse der bisherigen Vorkommnisse zur geplanten Ausstellung und ihrer Absage (S.12-18), fasst verschiedene Stellungnahmen - teilweise in ihrem Sachverhalt korrigiert - zusammen. In ihrem Ton verdeutlichen diese die tiefen und unüberbrückbaren Gräben zwischen den Parteien, die auch die folgenden Referate und anschließenden Diskussionen bestimmen werden.

Nachdem durch Zimmermann der eigentliche Grund des Zusammentreffens verbalisiert wurde, setzt sich Martin Sabrow mit den "Probleme[n] einer Historisierung der DDR" (S.21-25) auseinander und ermöglicht mit seiner gelungenen Analyse einen Blick über den konkreten Fall Sittes hinaus. Die anschließende Diskussion lobte die Komplexität des Vortrags und betont die Dringlichkeit, vom Denken als "Wessi" oder "Ossi" wegzukommen und statt dessen"das zu befördern, was heute eigentlich im innerdeutschen Dialog nötig wäre,
nämlich eine Revision der eigenen Vorurteile, ein Durchstreichen der eigenenÜberheblichkeit" (S.25). So richtig diese Darstellung ist, so sehr übersieht sie jedoch eines: dass der Standpunkt nicht von der geographischen, sondern eher von der ideologischen Herkunft der Kontrahenten bestimmt wird.

Nach diesen Eröffnungen setzen sich Beatrice Vierneisel und Jürgen Schweinebraden Freiherr von Wichmann-Eichhorn mit Politik und Kultur der DDR auseinander. Während letzterer eine an etlichen Stellen polemische, hochgradig subjektive Innenansicht eines von den DDR-Mechanismen betroffenen Galeristen und Penck-Getreuen bietet (S.51-59), die erwartungsgemäß in den Diskussionsbeiträgen nicht unwidersprochen bleibt, verschafft Vierneisels umfangreicher Artikel zur "bildenden Kunst der DDR in den deutsch-deutschen Verhältnissen" (S.40-48) mit zahlreich weiterführenden Fußnoten und Literaturangaben einen komprimiert informativen Rückblick auf die Entwicklung der DDR-Kulturpolitik und den sich wandelnden West-Blick auf die DDR-Kunst- von der Nachkriegszeit bis zum Mauerfall. Abschließend stellt sie fest, dass es bisher keine Ausstellung, die sich mit der DDR-Kunst befasst hatte, vermochte, "die Leistungen, die in einem eigenständigen Prozess der bildkünstlerischen Sprachfindung entstanden sind, zusammenzuführen" (S.46). Dabei wäre ihres Erachtens ein rezeptionsästhetischer Ansatz besonders sinnvoll, hebt doch gerade die DDR-Kunst immer wieder die Rolle des Betrachters hervor. Vierneisel geht es mithin nicht nur um die grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem ostdeutschen Erbe, sondern um die Frage methodischer Schwerpunktverschiebungen.

Im dritten und umfangreichsten Block wird über den "Künstler und Funktionär" Willi Sitte verhandelt - wobei man sich bei Lektüre der insgesamt sechs Beiträge durchaus fragt, ob man den Künstler nicht doch gänzlich hinter dem Funktionär vergessen hat.

Zu Beginn stellt Clause Pese in Auszügen das von ihm für den geplanten Katalog"Willi Sitte. Werke und Dokumente" zusammengetragene Rohmanuskript (S.61-75) vor, ohne darauf zu verzichten, nochmals auf den Usus des Hauses zu verweisen, dass eine "Ergänzung durch Quellen anderer Herkunft nicht üblich" (S.61) sei. Solchem Einwurf entnimmt man eine gewisse Form der Verbitterung über die Vorfälle, und am Ende seines Beitrags betont Pese, dass er für einen kritischen Artikel zu der von ihm zusammengestellten Dokumentation nicht mehr zur Verfügung stünde, da "ich mir den Vorwurf nicht antun will, ich hätte im Nachhinein aus den inzwischen erschienen Publikationen diejenigen Dokumente, die gegen Willi Sitte sprechen, in meinen Artikel mitaufgenommen, um aus der Diskussion um Willi Sitte ungeschoren hervorzugehen" (S.75). Ein Außenstehender kann aus solchen Äußerungen nur ansatzweise erahnen, welche Diskussionen und Auseinandersetzungen die Vorkommnisse im GNM wohl ausgelöst hatten.

Liest man die Dokumente, ist es schwer verständlich, weshalb man sich außerstande fühlte, die Ausstellung im gewohnten Zeitrahmen durchzuführen. Claus Pese widerspricht insbesondere der These, Sitte hätte nur ein"geschöntes" Privatarchiv dem GNM zukommen lassen. "Von mir durchgeführten Stichproben im Archiv der Akademie in Berlin, wo sich die Verbandsakten befinden, haben keinen Hinweis auf Bereinigung der schriftlichen Materialien durch Willi Sitte erbracht" (S.62). Angesichts der nur spärlich zitierten Materialien ist es zu bedauern, dass es zu einer Publikation unter der Federführung des GNM nicht mehr kommen wird, zumal inzwischen eine "Willi Sitte-Stiftung für realistische Kunst" mit Sitz in Merseburg existiert [3].

Karl-Siegbert Rehberg setzt sich anschließend ausführlich mit dem Begriff des"Staatskünstlers" und Sittes sich wandelnder Position in der DDR auseinander (S.76-93). Um das Besondere seiner Rolle und seiner zunehmenden Verstrickung in das System zu verstehen, stellt er Sitte Werner Tübke gegenüber, der jedoch nie eine kulturpolitisch ähnlich machtvolle Stellung innehatte.

Im nachfolgenden Beitrag - "Suggestion und Recherche" (S.96-107) belegt Paul Kaiser anhand differenzierter Leseweise dreier gegen Sitte erhobenen Vorwürfe, dass nur eine quellenkritische Analyse der Materialien eine Einansichtigkeit vermeiden hilft und somit eine Konzentration auf ein Archiv - im Fall Sitte eben seines Fonds im GNM - abzulehnen sei. Dem ist sicherlich nicht zu widersprechen, nur erhebt sich die Frage, ob dann nicht bei jedem Privatarchiv des GNM vor einer Veröffentlichung eine solche Quellenkritik geführt werden müsste.

Die anschließenden drei Beiträge lassen unbefriedigt, da sie mehr auf eigenen (vorgefassten) Meinungen denn Fakten zu beruhen scheinen. Der Titel "Beihilfe zur Unterbindung der künstlerischen Selbstbestimmung: wie Willi Sitte den Aufbruch der Kunstentwicklung in der DDR behindert und seiner eigenen Kunst geschadet hat" (S.111-119) deutet bereits vor Lektüre das Ergebnis Günther Regels an. Ihm folgen zwei Beiträge, die sich in ihrer Einseitigkeit regelrecht überbieten. So ist Willi Sitte für Hannelore Offner anscheinend der Täter im unterdrückerischen System schlechthin, während Gisela Schirmer (S.128-139) ihn als unschuldiges Opfer antisozialistischer Hetze in Schutz nimmt. Wenn es irgendwelche Beiträge gibt, auf die der anfangs von Büttner zitierte Verweis auf die Unwissenschaftlichkeit der Vorträge zutrifft, dann sind es diese.

Zum Schluss erhält man doch noch die Möglichkeit, einiges über Willi Sittes Werk zu erfahren. Peter Arlt (S. 143-147) reflektiert über die Rezeption antiker Mythen - ein Phänomen, das auch für andere DDR-Künstler schon verschiedentlich konstatiert wurde. Ruth Negendanck (S. 149-154) setzt sich mit Sittes Skizzenblättern aus Ahrenshoop auseinander (In der anschließenden Diskussion erwähnt sie, dass sie aufgrund des von Claus Pese geleiteten Projekts zu "Künstlerkolonien in Europa" zu dem Thema gekommen sei). Enttäuschenderweise müssen beide Artikel ohne jegliche Abbildungen auskommen. Man fragt sich, warum nur Artikel, die sich dem Funktionären Sitte widmen, eifrig bebildert wurden ...

Bieten schon die beiden erwähnten Artikel wenig Spektakuläres zu Sittes Werk, so spielt dieses im letzten Beitrag des Symposiums nur noch eine marginale Nebenrolle. Statt dessen versucht Holger Brülls ausgehend von den Leitbegriffen der marxistischen und ‚bürgerlichen' Ästhetik "Autonomie und Parteilichkeit"(S.156-167) einen anderen Zugang zu Sitte zu erhalten. Denn die"ästhetischen Denkschablonen in Ost und West" (S.156) sind ideologisch bedingt und somit Kunst und Politik eben nicht eindeutig von einander zu trennen. Kunst in totalitären Systemen müsse - wie in der anschließenden Diskussion Brülls nochmals hervorhebt - anders betrachtet werden, da sie einen ganz anderen "existentiellen und moralischen Status" habe, "der sich mit der Kunst in den westlich-liberalen Gesellschaftssystemen überhaupt nicht vergleichen" (S.168) lasse. Sittes Verschulden liegt somit sowohl im sozialistischen System
als auch in seiner Machtposition begründet. "Sittes engagierte Kunst ist (...) die Zwillingsschwester autoritärer Politik. Der Pinsel in der Hand des Malers will ein Hebelchen sein an der Machtmaschine." (S.159) Sittes kunsttheoretischen und -kritischen Äußerungen werden analysiert - vor allem seine letzte Rede vor dem Verband Bildender Künstler 1988 (S.161-163), die nach Brülls' Auffassung ein "dogmatisches Finale" (S.161) in seinem "Kampf gegen die Idee der künstlerischen Autonomie darstelle" (S.160). An etlichen Stellen, bei denen manchmal der Ton etwas moralisierend daherkommt, wird Sitte immer wieder als verstockter, engstirniger Mensch charakterisiert - wobei sicherlich zu differenzieren ist, zwischen künstlerischer Intoleranz gegenüber anderen Konzepten, die es schon immer gab, und Sittes Rolle als "Bestimmerüber Kollegen" (S.169), die die Beschäftigung mit seiner Kunst für manchen so schwierig gestaltet und letztendlich auch zu dieser Tagung geführt hatte.

In der Schlussdiskussion - und damit kehrt diese Rezension wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurück - sprach man weniger über die ursprünglich geplante Sitte-Ausstellung, sondern überlegte, wie eine Aufarbeitung der DDR-Kunst generell aussehen könne. Bisher konnte keine Ausstellung in diesem Zusammenhang wirklich überzeugen - darauf wurde auch im Symposium verschiedentlich verwiesen. Die DDR-Kunst sollte nicht zur Fußnote der deutschen Kunstentwicklung nach 1945 verkommen. Statt dessen bedarf es neuer Fragestellungen, eines gesamtdeutschen Blicks. In diesem Sinne äußerte sich z.B. Rehberg: "Meine Überlegung ist überhaupt, dass wir die wenig ergriffene Chance nutzen müssen, die Gegensatzspannung zwischen der DDR und der Bundesrepublik zu verstehen und von daher auch, die bundesrepublikanische Kultur, Kunstformen usw. neu zu bedenken" (S. 95). Diesen Schritt hat zwar das Symposium nicht geleistet, aber vielleicht bietet die Publikation, insbesondere mit den abgedruckten Diskussionsbeiträgen dazu die Möglichkeit, solche Notwendigkeiten zu erkennen und in neuen Kontexten weiter zu erörtern.

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Anmerkungen:

[1] Das Sitte -Verbot: Katalog (k)einer Ausstellung zum 80. Geburtstag Willi Sittes: Texte - Bilder - Dokumente, Sonderheft ICARUS: Zeitschrift für soziale Theorie und Menschenrechte 21. Heft (2001).

[2] So in der Pressemitteilung des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg vom 21. Mai 2001.

[3] Persönliche Mitteilung von Dr. Matthias Hamann an die Verfasserin vom 01. Juni 2004.

Großmann, G. Ulrich (Hrsg.): Willi Sitte. Politik und Kunst in der DDR (= Wissenschaftliche Beibände zum Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums), Nürnberg: Verlag des Germanischen Nationalmuseums 2003
ISBN-10: 3-926982-98-5, 200 S.

Empfohlene Zitation:
Andrea Schmidt-Niemeyer: [Rezension zu:] Großmann, G. Ulrich (Hrsg.): Willi Sitte. Politik und Kunst in der DDR (= Wissenschaftliche Beibände zum Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums), Nürnberg 2003. In: ArtHist.net, 04.06.2004. Letzter Zugriff 25.04.2024. <https://arthist.net/reviews/62>.

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