REV-CONF 29.09.2013

Charakterköpfe. Die Bildnisbüste in der Epoche der Aufklärung

Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg, 11.–13.09.2013

Bericht von Julia Rüdiger, Universität Wien, Institut für Kunstgeschichte
Redaktion: Carolin Behrmann

Warum sollte man sich mit Bildnisbüsten beschäftigen? Mit dieser rhetorischen Frage leitete der Organisator Frank Matthias Kammel (Nürnberg) die Tagung „Charakterköpfe. Die Bildnisbüste in der Epoche der Aufklärung“ (11.-13. September 2013) am Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg ein. Die Fragestellung impliziert bereits das bestehende Missverhältnis in der Porträtforschung. Während das gemalte Porträt des 18. Jahrhunderts mit unterschiedlichen methodischen Ansätzen und in zahlreichen Publikationen erforscht wurde und wird, ist das Forschungsinteresse an der Porträtbüste dieser Zeit gering. Für eine Erforschung sprechen jedoch mindestens zwei Gründe: Zum einen legt die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem plastischen Porträt den differenzierten Bildgebrauch offen und kann so die verschiedenen gleichzeitigen Gestaltungsformen erklären. Zum anderen manifestierte sich in der Porträtbüste des 18. Jahrhunderts, als physisches und „kommunikatives“ Gegenüber, die Neujustierung des Menschenbilds in der Aufklärung, das bis heute weiterwirkte. Diese beiden Begründungen bildeten die Eckpfeiler für die nachfolgenden zweiundzwanzig Beiträge [1], die bereits von intensiven Auseinandersetzungen mit der Büste und den Bedingungen ihres Wandels zeugten und durch ihre Zugänge und Ergebnisse das Desiderat nach mehr Büstenforschung stützten.
Der Herrscherbüste und ihrem Übergang von absolutistischer Inszenierung zur aufgeklärten Repräsentation waren eine Gruppe von Vorträgen gewidmet, die durch die Frage von Andrea Kluxen (Nürnberg), ob es überhaupt eine „aufgeklärte Herrscherbüste“ gebe, eröffnet wurde. Zwar ist eine Veränderung zu einer naturnäheren, persönlicheren Darstellung offenkundig, wie dies auch Claudia Maué (Nürnberg) anhand der Büsten des Kurfürsten Maximilian III. Joseph nachweisen konnte, jedoch entwickelte sich in der weiteren Folge auch die vermeintlich aufgeklärte Herrscherbüste wiederum zum Instrument der Machtsicherung und verlor dadurch ihren liberalen Charakter.

Der Abendvortrag von Roland Kanz (Bonn) konkretisierte die Frage der Rollenmodellierung anhand von unterschiedlichen semantischen Systemen, die an dem Typus der unbekleideten Büste mit Brustansatz zwischen 1720 und 1810 zur Anwendung kommen. Indem Kanz zwischen Denotation und Konnotation unterschied, gelang es ihm den sogenannten Stildualismus zwischen Sensualismus und Klassizismus in der Porträtplastik der Aufklärung als absichtsvollen rezeptionsästhetischen Kniff nachzuvollziehen. Für die Büste des 18. Jahrhunderts bilden diese Überlegungen einen wesentlichen Ansatz zum tieferen Verständnis jenseits der Herleitungskunstgeschichte. Dieser bietet in entsprechenden Adaptionen, so die Hoffnung der Autorin dieses Berichts, auch eine sinnvolle Möglichkeit zur durchdringenden Analyse der Büste und des Personendenkmals im 19. und 20. Jahrhundert.

Der zweite Tag war geprägt von Fallstudien, die die relevanten Darstellungsmerkmale, zwischen Physiognomik und Charakteristik, Sensualismus und Klassizismus, Mimesis und Deutung sowie Person und Amt anschaulich und im Detail diskutierten. In einer glänzenden ikonologischen Analyse arbeitete Axel Christoph Gampp (Zürich) aus den Gesichtszügen der schlichten Büste des Franz Christoph von Scheyb von Franz Xaver Messerschmidt das Porträt von Scheybs als neuen Homer heraus. Die ausladend barocke Messerschmidt-Büste für Maria Theresias Leibarzt Gerard van Swieten, mit der Ingeborg Schemper (Wien) ihren Vortrag begann, verdeutlichte die Bandbreite der Messerschmidt’schen Darstellungsmodi. Diese Medizinerbüste bildete zusammen mit den nüchtern naturalistischen Gelehrtenbüsten von Johann Martin Fischer und Franz Klein den Nucleus der erst später verwirklichten Professorenehrenhalle an der Universität Wien. Mariana Scheu (Salzburg) präsentierte am Beispiel des Salzburger Hofstatuarius Johann Baptist Hagenauer, wie dieser in seinen Porträts nach einem lebendigeren Ausdruck suchte. Einen wichtigen Einblick in die Funktionsweise privater Bildnisbüsten vermittelte Bernd Ernstings (Köln) Beitrag über das bisher unpublizierte Berliner Zimmerdenkmal für die jung verstorbene Henriette Jordan. Ebenfalls erhellend für das Verständnis des zeitgenössischen Gebrauchs der Büsten prominenter Köpfe waren die Ausführungen von Petra Rau (Frankfurt am Main), in denen sie die Anforderungen der Käufer und die Mechanismen des Büstenhandels in Sachsen und Thüringen erläuterte. Auf die zahlreichen (un-)gleichzeitigen Funktionen der Büste, zwischen Stellvertreter, politischem Instrument, Hommage und Dekoration – jeweils im innovativen Material Porzellan – machte Stefan Schnöll (Wien) aufmerksam. Die Integration von Heiligen als gesockelte Büsten in Altäre, wie Ulrich Söding (München) sie an einigen Beispielen demonstrierte, stellt einen Sonderfall im 18. Jahrhundert dar und weist auf die Wirkmacht der Gattung Büste zu dieser Zeit.

Materialität und Technik spielten in nahezu allen Beiträgen eine zentrale Rolle. Besonders hervorgehoben wurden sie aber in der Gruppe über das Wachsbildnis, die für den dritten Tag vorgesehen war. Die Co-Organisatorin Anna Pawlik (Nürnberg) und die Restauratorin Elisabeth Taube (Nürnberg) verdeutlichten in ihren Vorträgen jeweils auf eindrückliche Weise die Herstellungsprozesse, die Materialvielfalt und die zunftmäßigen Bedingungen von Wachsbildnissen.
Die im ausgehenden 18. Jahrhundert europaweit populär werdenden Phänomene der lockeren Gelehrtenhaine und der systematischen Ehrenhallen, denen während der Nationenbildung eine identitätsstiftende Rolle zugedacht war, wurden von Frank Matthias Kammel (Nürnberg) und Hans Ottomeyer (Berlin) thematisiert. Für eine europaweite komparative Untersuchung solcher Memorial-Konstellationen, die im Folgejahrhundert für viele Regionen, Institutionen oder Berufssparten zum Identitätsanker werden sollten, ist hier ein wertvoller Schritt getan worden.

Trotz der Größe der Tagung – sowohl in Hinblick auf die Anzahl der Vortragenden als auch auf die Saalgröße – ist während der zweieinhalb Tage ein – im positivsten Sinne – Workshop-Charakter entstanden, bei dem ein intensiver, kollegialer Austausch möglich wurde. Einigkeit herrschte darin, dass hier zahlreiche bedeutende Themen angesprochen wurden, die ausreichend Stoff für weitere Forschung bieten.
Wenn Roland Kanz den Katalog zur gleichzeitigen Ausstellung „Charakterköpfe“ als „Handbuch zur Büste des 18. Jahrhunderts“ bezeichnete [2], dann sollte der hoffentlich bald erscheinende Tagungsband mit der Vielfalt der weiterführenden Beiträge daneben keinesfalls fehlen.

Anmerkungen:
[1] Link zum Tagungsprogramm: http://www.gnm.de/fileadmin/redakteure/Forschung/pdf/Charakterk%C3%B6pfe_Tagung.pdf; http://arthist.net/archive/5763
[2] Ausstellung: Charakterköpfe. Die Bildnisbüste in der Epoche der Aufklärung, im Germanischen Nationalmuseum, Nürnberg, noch bis zum 6. Oktober 2013, kuratiert von Frank Matthias Kammel. Begleitend erschien ein Katalog: Frank M. Kammel, Charakterköpfe. Die Bildnisbüste der Aufklärung, Nürnberg 2013.

Empfohlene Zitation:
Julia Rüdiger: [Tagungsbericht zu:] Charakterköpfe. Die Bildnisbüste in der Epoche der Aufklärung (Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg, 11.–13.09.2013). In: ArtHist.net, 29.09.2013. Letzter Zugriff 29.03.2024. <https://arthist.net/reviews/6045>.

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