REV-CONF 01.12.2010

Häuslich – persönlich – innerlich. Bereiche der privaten Frömmigkeitsausübung

Universität Leipzig, 08.–10.07.2010

Bericht von Dagmar Eichberger, Universität Heidelberg, IEK
Aleksandra Lipińska, Kunsthistorisches Institut der Universität zu Köln
Redaktion: Livia Cárdenas

Häuslich – persönlich – innerlich. Bereiche der privaten Frömmigkeitsausübung im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit

Interdisziplinäre Tagung des Instituts für Kunstgeschichte der Universität Leipzig in Zusammenarbeit mit dem Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig und dem Lehrstuhl für Kirchengeschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena

Als Ergebnis der Zusammenarbeit des Instituts für Kunstgeschichte der Universität Leipzig (Michaela Marek) mit dem VW-Projekt „Bild und Konfession“ am GWZO Leipzig (Maria Deiters, Agnieszka Madej-Anderson) und dem Lehrstuhl für Kirchengeschichte der Universität Jena (Volker Leppin) fand im Juli 2010 eine Tagung statt, die der Frage nach Medien, Praktiken und Modellen der privaten Frömmigkeit vor und nach der Reformation nachging.[1] Mit dem dezidierten Fokus auf die lutherische Konfession unter Berücksichtigung ihrer spätmittelalterlichen Voraussetzungen und im Vergleich mit anderen Konfessionen beschritten die Tagungsteilnehmer in drei intensiven Kolloquiumstagen ein noch kaum erschlossenes Forschungsfeld.

In der ersten, den Medien und Praktiken der Frömmigkeit gewidmeten Sektion, dienten Fallbeispiele und Materialanalysen dem Ausloten des zu untersuchenden Spektrums. Anhand der Analyse der Bild-Text-Kombination in der frühreformatorischen Flugschrift „Ein gespräch auff das kurtz zwischen eynem Christen und Juden“ ging Susanne Wegmann (Halle) der Frage nach eigenständiger Wertigkeit des Bildes als Medium und Katalysator der (Bibel)exegese nach, die sich verschiedenen gemeinschaftlichen und individuellen Rezeptionsformen öffnet. Eine genaue Betrachtung von Multifunktionalität und Strategien devotionaler Bilder brachte auch der Vortrag von Evelin Wetter (Riggisberg/Leipzig). Sie demonstrierte am Beispiel kunstvoll geschnitzter Betnüsse, dass deren ästhetische Qualität und Artifizialität sie ebenso für fromme Andacht und didaktisch-moralische Unterweisung geeignet macht wie zum Kunstkammerobjekt prädestiniert. Grażyna Jurkowlaniec (Warszawa) verglich die Strategien früh- bzw. hochmittelalterlicher Päpste und des Kardinals Marco Sittico Altemps’ (1553-1595) in der Aneignung des römischen Kultbilds Maria Regina in S. Maria in Trastevere und postulierte hier einen grundsätzlichen Unterschied zwischen öffentlich-amtlicher und privat-familiärer Frömmigkeitspraxis. In der Diskussion wurde die Anwendbarkeit des Begriffes „privat“ für die Devotionsräume vatikanischer Würdenträger hinterfragt. Das Spektrum zwischen persönlicher Andachtspraxis, Kult und Repräsentation behandelte auch Christoph Brachmann (Chapel Hill) anhand des im Colettinenkonvent Pont-à-Mousson aufbewahrten Nachlasses der Nonne und Herzoginwitwe Philippa von Geldern (1465-1547). Ein Fallbeispiel mit ähnlicher Aussagekraft beschrieb Christine Sauer (Nürnberg) mit der von dem Nürnberger Patrizier Hans Imhoff im Umfeld der Reformation niedergeschriebenen und mit Illustrationen versehenen, auf Erbauung zielenden Textsammlung. Die ‚klassischen’, aber in ihrer Medialität wenig untersuchten Andachtsgattungen des Katechismus und des illustrierten Erbauungsbuchs stellten Lee Palmer Wandel (Madison, WI) und Marcin Wisłocki (Wrocław) vor. Der Fokus lag hier auf langer Wirkungsdauer und Überkonfessionalität von Text- und Bildformeln. Zugleich wurden aber auch Anpassungen an konfessionell geprägte Unterweisungsformen beobachtet.

Das Problem der Transformation und Übertragung von Frömmigkeitsformen aus dem öffentlichen Raum (z.B. der Kirche) in die individuelle oder häusliche Andachtspraxis behandelten Volker Leppin (Jena), Susanne Kimmig-Völkner (Leipzig) und Vera Isaiasz (Berlin). Untersuchungsmaterial lieferten hierfür Leichenpredigten, die Rezeption mittelalterlicher Retabel in zur Erbauung bestimmten Denkmälerbeschreibung eines lutherischen Pfarrers Ende des 17. Jahrhunderts sowie die komplizierten Aushandlungsprozesse zwischen privaten Zirkeln und Religion als öffentlicher Repräsentationsform im Gefüge der multikonfessionellen Stadtgesellschaft Berlins im frühen 18. Jahrhundert.

Den Einstieg zur nächsten Sektion „Modelle der Frömmigkeit“ lieferte das Referat von Reindert L. Falkenburg (Abu Dhabi) zur visuellen Typologie als grundlegendem Andachtsinstrument und Strukturmodell frühniederländischer Gemälde. Im Akt des vergleichenden Sehens fördert diese eine Zusammenführung von Innen und Außen, von ‚realen’ Objekten und ihrer symbolisch-allegorischen Überhöhung, die zur Läuterung der Seele beitragen soll. Ursula Kocher (Wuppertal) ging anhand der Analyse nichtreligiöser Emblemata der These nach, dass sich in diesen eine christlichen Andachtsmodellen verwandte innere Struktur erkennen ließe. In einer Darstellung verschiedener räumlicher Dispositionen analysierte Jörg Jochen Berns (Marburg) die Beziehung zwischen dem frommen Betrachter und dem Sakralbild sowie den Sakralitätsverlust im Zuge mehrfacher Reproduktion. Die beiden Pole bildeten hier das unverrückbare Wunderbild in einem entfernt liegenden Kultzentrum und das massenhaft reproduzierte Andachtsbild in unterschiedlichen Kontexten gemeinschaftlicher und privater Frömmigkeit. Ulrike Heinrichs (Berlin) beschrieb drei Bildstrategien in der spätmittelalterlichen Druckgraphik, mittels derer sich Künstler unter den Bedingungen der zunehmend realistischen Darstellungsweisen mit der Aufgabe der Andachtserzeugung auseinandersetzen: Reduzierung durch perspektivische Verkürzung, Einsetzung kalkulierter Leerstellen und Umkehrung der Bedeutungsperspektive. Agnieszka Madej-Anderson (Berlin/Leipzig) setzte sich anhand von Seuses „Exemplar“ mit den Medien Bild und Schrift bzw. mit dem Buch als dem bevorzugtem Ort ihres wechselseitigen Zusammenwirkens auseinander. Die intermediale Darstellung diente der intensiven Erfahrbarkeit religiöser Inhalte; das Buch konnte regelrecht zum Substitut und Modell des religiösen Subjekts werden. Mit dem Motiv des Herzens als Wohnung der Seele untersuchte auch Peter Schmidt (München) ein Modell der Innerlichkeit. Anhand vornehmlich druckgraphischer Darstellungen wurde dabei untersucht, inwiefern sich theologische Konzepte der Verinnerlichung zwischen Spätmittelalter und konfessionellem Zeitalter wandelten. Das Haus als umfassendes Modell und gleichzeitig Ort der Frömmigkeitsausübung thematisierte Andreas Gormans (Aachen) bei seiner Analyse eines Gemäldes von Emanuel de Witte. In den protestantischen Konfessionen wurde das Haus zur „Hauskirche“. Durch de Wittes Gegenüberstellung eines bürgerlichen Interieurs, in welchem der Vater als geistliches Familienoberhaupt residiert, mit einer in das Gemälde integrierten Innenraumdarstellung der Amsterdamer Oude Kerk wurde dies visualisiert und kommentiert. Berndt Hamm (Erlangen-Nürnberg) legte dar, wie das neue Medium des Einblattdruckes eine Transformation der Theologie zu seelsorgerlich ausgerichteter Frömmigkeitstheologie befördert. Objektive Zueignung und subjektive Aneignung des Heils bedingen sich dabei gegenseitig und werden zu neuen individuellen Zugangsformen. Hamm betonte, dass die Tendenz zur Verhäuslichung der Frömmigkeit, die bereits für das Spätmittelalter bezeugt ist, keineswegs mit ihrer „Individualisierung“ im modernen Sinn gleichzusetzen ist.

Die letzte Sektion, die sich der Bibel als Medium, Modell und Ort der religiösen Praxis widmete, wurde durch Maria Deiters (Berlin) eingeleitet. Am Beispiel zweier illustrierter und kolorierter Prunkbibeln demonstrierte sie den Prozess der individuellen und familiären Aneignung der Heiligen Schrift durch das Hinzufügen persönlicher Kommentare, Bilder und – im Falle der Nürnberger Familie Pfinzing – durch das Einbinden eines Geschlechterbuchs in Drucke der Lutherbibel. In einem kontrovers diskutierten Vortrag thematisierte Ruth Slenczka (Berlin) u.a. anhand der Auftaktminiatur des Lukasevangeliums aus der Cranach-Werkstatt, einer Tischrede Luthers und des Wittenberger Cranach-Altars die Korrespondenz von Schrift und Bild, Prediger und Maler in der Auslegung der Bibel. Wim François (Leuven) behandelte das Problem der Lektüre der Bibel durch Laien anhand volksprachlicher Bibelausgaben in den Niederlanden von 1360 bis 1548, und ging dabei u.a. einem Dogmatisierungsprozess im Zuge der Konfessionalisierung nach. Der Beitrag von Birgit Münch (Trier) beschäftigte sich mit dem „Betbüchlein“ Martin Luthers. Der Ausgabe von 1529 war ein von Luther kommentierter Holzschnittzyklus mit Szenen des alten und neuen Testaments beigefügt: das „Passional“. Münch vertrat die These, dass Luther damit ein protestantisches Erbauungsbuch bereitstellen wollte, das als Ersatz für die Heiligenlegenden dienen konnte. Walter S. Melion (Atlanta, GA) stellte als katholisches Beispiel der Bibelvermittlung die Prachtausgabe von Benito Arias Montanos Schrift „Humanae salutis monumenta“ (1571) vor, die ein reiches Arsenal von Strategien zur Meditation bereithält. Der Leser wird dazu angehalten, den Bibeltext mit Hilfe aller Sinnes- und Erkenntnisorgane zu durchdringen. Melion wies auf die Komplexität der Wechselwirkungen zwischen schriftlichen und bildlichen Elementen innerhalb einer Buchseite hin, wobei er den visuellen Charakter der gesamten Bild-Textseite besonders hervorhob.

Die Leipziger Tagung machte deutlich, dass nach der Reformation sowohl die protestantische als auch die katholische Seite auf visuelle Medien und bestimmte Bildstrategien setzte, um die Laienandacht zu fördern und dem Betrachter/Leser komplexe theologische Inhalte nahe zu bringen. Die Frage, inwiefern jene Phänomene als eine Weiterführung spätmittelalterlicher Praktiken oder aber als neue Visualisierungstrategien verstanden werden müssen, wurde mehrmals aufgeworfen und an Fallbeispielen ausgelotet. Vor allem die Allianz der neuen Medien (Druckgraphik und Buchdruck) mit den häuslichen Praktiken und Verinnerlichungsstrategien wurde mehrfach herausgestellt.

In den Diskussionen wurde dabei wiederholt begriffliche Schärfung in Bezug auf die Bereiche des „Privaten“ und „Öffentlichen“ in der Vormoderne eingefordert, gerade angesichts des nachreformatorischen Bedeutungszuwachses von Haus und Familie. Als wichtige Methode, um die Frage nach dem Individuellen und Persönlichen zu beantworten, erscheint es in der Bilanz der Tagung, die Prozessualität der Herstellungs- und Rezeptionsvorgänge zu untersuchen. Diese können sowohl an inneren Strukturen der Werke selbst als auch an konkreten Gebrauchspuren festzumachen sein.

Anmerkung:
[1] Konzeption der Tagung: Maria Deiters, Agnieska Madej-Anderson

Empfohlene Zitation:
Dagmar Eichberger, Aleksandra Lipińska: [Tagungsbericht zu:] Häuslich – persönlich – innerlich. Bereiche der privaten Frömmigkeitsausübung (Universität Leipzig, 08.–10.07.2010). In: ArtHist.net, 01.12.2010. Letzter Zugriff 24.04.2024. <https://arthist.net/reviews/579>.

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