REV-CONF 06.09.2013

Sinne im Wandel. Mediale Neukonfigurationen sinnlicher Wahrnehmung 15.-17. Jh.

Universität Tübingen, GraKo „Religiöses Wissen im vormodernen Europa 800-1800“, 14.–15.06.2013

Bericht von Marianne Seidig
Redaktion: Carolin Behrmann

Tagungsbericht im Auftrag der Veranstalterinnen von: Henrike Eibelshäuser, Kolleg-Forschergruppe BildEvidenz, Freie Universität Berlin.

Der von dem Graduiertenkolleg „Religiöses Wissen im vormodernen Europa 800-1800“ an der Eberhard Karls Universität Tübingen geförderte Workshop „Sinne im Wandel“ widmete sich dem komplexen Wechselverhältnis von sinnlicher Wahrnehmung und Wissen, ein Thema, das sich im Zuge neuer Erkenntnisse der „Sensory History“ gegenwärtig höchster Aktualität erfreut. Ziel der Veranstalterinnen Marianne Seidig und Susanne Junk, war es, die Frage nach Prozessen, Disposition und medialer Konfiguration von religiösem Wissen aus einer interdisziplinären Perspektive zu beleuchten, um Kontinuitäten und Diskontinuitäten von vormodernen Wissensbeständen herauszuarbeiten.
Der Workshop ging von der gängigen Prämisse aus, dass Konzepte und Auffassungen der Sinne und Sinneswahrnehmung als historisch variabel gedacht werden müssen. Die klassische Hierarchie der Sinne, so die Annahme, erfahre in der Frühen Neuzeit eine Transformation, die sich gerade im Spannungsfeld von Alltagswissen und den sich herausbildenden Naturwissenschaften, theologischen Dogmen und kirchlichen Reformbewegungen manifestiere. Darauf aufbauend sollte diskutiert werden, ob die Neucodierungen der Sinne Parallelen zu anderen Praktiken und Prozessen religiösen Wissens aufweisen und ob es Überschneidungen zu anderen, nicht primär religiösen Wissenskulturen gibt. Zum Beispiel ließe sich fragen, ob sich Verschiebungen in der Auffassung der Sinne, wie etwa die Legitimierung des Gehörs in religiösen Praktiken, mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen wie der Entdeckung der Eustachischen Röhre erklären lassen, die den Weg des Wortes in den Körper anatomisch untermauerte und dergestalt die Rolle des einst privilegierten Augensinns herausforderte.

Der von den Veranstalterinnen erfolgreich angestrebte Dialog zwischen den Disziplinen verhinderte eine einseitige Beschränkung auf das Medium der Malerei bzw. des Textes und ermöglichte es, Konvergenzen auch zwischen reformatorischen und reformkatholischen Codierungen der Sinne jenseits einer chronologischen Entwicklungsgeschichte in den Blick zu nehmen. Kernpunkte der Diskussion bildete einerseits die Frage nach einem geeigneten Instrumentarium für die Erfassung der präsemantischen Dimensionen des Affekts und andererseits die Frage, ob und wie der Wandel der Sinneshierarchien jenseits reiner Textlektüre diskursanalytisch nachgezeichnet werden kann.

Mit Rückgriff auf Walter Benjamins These vom Auraverlust durch technische Reproduzierbarkeit kritisierte BEATRICE TRINCA (Berlin) ein Textverständnis, das die Materialität des Textes ignoriert. Anhand ihrer Untersuchung des Nachdrucks eines frauenmystischen Autographs aus dem Hochmittelalter argumentierte Trinca, dass der Druck sich etwa durch handschriftliche Einfügungen selbst als Handschrift thematisierte. Die Vorstellung der „unio mystica“ wurde gewissermaßen auf die Buchstaben, die als „mit süßem Met durchtränkte Krümel“ figurieren, selbst übertragen, womit die Frage aufgeworfen wurde, ob dem Buch dann nicht selbst der Status einer Berührungsreliquie zugekommen sei. Gleichzeitig wies Trinca literarische Strategien des partiellen Entzugs nach, die als Modus der Differenzerzeugung zum materiellen Autographen fungieren und als metaleptische Reflektion auf die Materialität des Buches verweisen.

Gemalte Früchte in venezianischen Andachtsbildern des 15. Jahrhunderts nahm MARIANNE SEIDIG (Tübingen) zum Ausgangspunkt für eine Reflexion über den Zusammenhang von Geschmack und Kunstgeschmack. Im Rekurs auf zeitgenössische kunsttheorische Texte sowie am Beispiel einer Darstellung Carlo Crivellis plausibilisierte Seidig u.a., dass der simultanen Präsentation unterschiedlichster Früchte im Bild Strategien der Evokation von Vielfalt zugrunde liegen. Diese Vielfalt der simultanen Reize könne nicht nur, wie bisher geschehen, mit einer Metaphorik des Schmeckens im Kontext der Andacht erklärt werden. Vielmehr sei sie auch mit den kunsttheoretischen Konzepten „copia“ und „varietas“ in Zusammenhang zu bringen. So alludieren die Früchte nicht nur auf die inneren Sinne und den Zustand der Süße in der Meditation, sondern stimulieren als genuin bildliche Invention auch den Kunstgeschmack des Betrachters.

MALTE GOGA (Berlin) stellte in seinem Vortrag die Frage nach der Rolle von Bildern in Bezug auf die Wahrnehmbarkeit von Engeln. Theologische Traktate des 17. Jahrhunderts wiesen ein gesteigertes Interesse an der Materialisierung von Engeln auf, die deren Fähigkeit zur instantanen Verkörperung in Analogie zum künstlerischen Schaffensprozess setzten. Dabei wurden, so die These Gogas, materialisierte Engel nicht nur als künstlerisch konzipierte Bilder verstanden, sondern die selbstreferentielle Dimension gemalter Engel von Künstlern wie Carlo Saraceni auch bewusst reflektiert. Im Versuch der Berührung des Engels durch die Heiligen werde die ikonische Differenz des Gemäldes in ihrem prekären Wechselspiel zwischen Materialität und Illusion akut, da die Berührung des Engelsbildes im Bild die Repräsentation in die Krise führte.

Im Sinne einer Erfahrungshistorie untersuchte SUSANNE JUNK (Tübingen) anhand von deutschsprachigen Flugschriften um 1600 die theologisch fundierte Problematik von Engelserscheinungen zwischen Täuschung und wirklicher Offenbarung im Luthertum. Junk argumentierte, dass die Flugschriften konfessionspolitischen Aktualisierungen und Aushandlungsprozessen folgten, denn für die Protestanten konfligieren Offenbarungen tendenziell mit der Abgeschlossenheit der Heiligen Schrift. Zwar diente die Erscheinung der Engel den Lutheranern als Argument für ihre Rechtgläubigkeit, doch bedurfte es vor allem Zeichen affektiver Ergriffenheit um eine authentische Transzendenzerfahrung zu legitimieren. Den Berichten über Engelserscheinungen kam dabei ein wirkungsästhetisches Potential zu, das imstande war, affektive Bewegtheit auch auf Dritte zu übertragen und somit zu autorisieren.

In seinem Vortrag über die Sinnesgeschichte der Ulmer Reformation nahm PHILIP HAHN (Tübingen) das Ulmer Münster und dessen Umgestaltung als doppelt reziprokes Feld zwischen sinnlicher Wahrnehmung und Raum in den Blick. Indem er den Fokus auf Ungleichzeitigkeiten und die Wiederkehr bestimmter Auffassungen über die Sinne, etwa die Auffüllung des Raumes mit neuen Sinnesangeboten wie der Rumpelmette oder der Instrumentalmusik richtete, forderte er die Vorstellung eines großen Narrativs der „Sensory History“ der Reformation heraus. Die Diskursivierung der Sinne in der Umbruchszeit des Ulmer Interims führte, so Hahn, gerade nicht zu einer Entsinnlichung, sondern vielmehr zu einer Intensivierung der Sinneserfahrung. Dabei ließen sich normative Forderungen religiösen Wissens gerade in der Konzentration auf lokale Entwicklungen und Wechselwirkung am präzisesten bestimmen.

SILKE LEOPOLD (Heidelberg) untersuchte die Spannung zwischen der intellektuellen und der sinnlichen Dimension von Musikwahrnehmung und zeichnete den Wandel nach, der sich in der Frühen Neuzeit in Bezug auf die Kategorisierung von Musik vollzog. Mit der Abwanderung ins Trivium verlor die Musik ihren Status als exakte Wissenschaft und wurde zunehmend dem Bereich der Sprache zugeordnet, ohne die sie nicht auskam, da reine Instrumentalmusik als unvollkommen galt. Nicht zuletzt am Beispiel von Monteverdis Marienvesper, die Papst Paul V. gewidmet war, führte Leopold vor Augen, wie durch die Musik inhaltliche Botschaften transportiert wurden, die auf einer komplexen Interaktion sowohl von Sinnlichkeit und Sinnhaftigkeit als auch von Praxis und Theorie basierten.

Der Artikulation des körperlichen Schmerzes Christi in volkssprachlichen Marienleben des Hochmittelalters widmete sich der Vortrag von CHRISTINA LECHTERMANN (Bochum). Generell erschwert werde eine Bestimmung des Schmerzempfindens nicht nur durch eine ausgeprägte soziale und regionale Diversität, sondern auch durch den Hiat zwischen der Repräsentation von Schmerz in der gelehrten und der volkssprachlichen Literatur. Während die exorbitante Trauer Mariens einen festen Platz in der literarischen Tradition einnahm, existierten für das Schmerzempfinden Christi keine konventionellen Topoi. Erst um 1250 wurde die besondere Schmerzempfindlichkeit Christi als theoretische Frage relevant und unter Rückgriff auf frühchristliche Debatten mit seiner besonderen physiologischen Disposition erklärt. Basierend auf einer anthropologisch-physiologischen Nobilitierung der Empfindsamkeit bildete sich, so die These Lechtermanns, ein neues Dispositiv des Schmerzempfindens heraus.

DANIELA BOHDE (Frankfurt/Main) stellte die Frage nach dem Wissen altdeutscher Maler in Bezug auf Kreuzigungsdarstellungen. Wichtiger als Textquellen, die zentrale Fragen wie etwa die Stellung Mariens unter dem Kreuz unbeantwortet lassen, seien visuelle Quellen. In einem Exkurs zu italienischen Kreuzigungen des Due- und Trecentos interpretierte Bohde die Substitution des Heiligen Franziskus unter dem Kreuz durch Magdalena als Weg der Wissensgenerierung und -transformierung. Dabei fragte sie nach Strategien der Betrachterinvolvierung in selbstständigen Zeichnungen in den Jahrzehnten nach 1500, in der Magdalena zur Stellvertreterin des Betrachters wurde. Hier bedeutete Sehen, so Bohde, nicht die Einprägung der Bilder im Herzen, sondern vielmehr eine aktive Projektion von innen heraus, ein aufmerksames Schauen. Die Frustrationserfahrung des Entzugs von Sichtbarkeit fungierte dabei als Motor für den Imaginationsprozess des Betrachters.

Dass die Kategorie des Wissens zwischen intellektueller Anschauung, Praxis, Ritual und „tacit knowledge“ zu komplex ist, als dass sie im Rahmen des Workshops umfassend bestimmt werden könnte, ist offenkundig. Doch bestand ein zentrales Ergebnis des Workshops darin, bisher übliche Unterscheidungen von Wissen in Subsysteme wie Offenbarungswissen und selbstreferentielles Transferwissen zu hinterfragen. So werde Wissen vielmehr durch Metonymisierungen, Ersetzungsleistungen und den Transfer in andere Medien nicht nur rückbezüglich, sondern erfahre auch eine Transformation. Diese Erkenntnis war nicht zuletzt dem interdisziplinären Ansatz des Workshops geschuldet, dem es gelang, Forscher und Forscherinnen aus verschiedensten Disziplinen zusammenzuführen. Die unterschiedlichen thematischen, zeitlichen und geographischen Perspektiven trugen dazu bei, Wissen nicht als dem jeweiligen Medium vorgängig einwohnend, sondern vielmehr als prozessuale, auf Interdependenzen beruhende Entwicklung zu verstehen. So sind auch Wissen und Affekt als zwei eng miteinander verflochtene Kategorien zu denken. Die mnemotechnische Dimension von Affekten etwa zeigt, dass diese nicht einseitig auf Wissen beruhen, sondern selbst aktiv zu einer Generierung von Wissen beitragen.

Nicht zuletzt in den angeregten Diskussionen wurde deutlich, dass die Rede von einem historischen Wandel sinnlicher Wahrnehmung hochproblematisch ist, da diese, wie einige Beiträge aufzeigten, durch starke Kontinuitäten des Verhandlungsgegenstandes konterkariert wird. So wurde von den Teilnehmern angesichts des engen Nexus von Sinneswahrnehmung und Wissen im Affekt insbesondere die Vorstellung einer Zäsur im Sinnesverständnis der Frühen Neuzeit in Frage gestellt. Zugleich wurden in der Diskussion neue Fragenkomplexe aufgedeckt. Nach wie vor als Forschungsdesiderat kann der Beitrag gelten, den die Entdeckung der Neuen Welt zur Neucodierung der Sinne und der Transformation religiösen Wissens leistete. So gilt es auch nach der Rolle der Missionare als maßgebliche Instanzen der Übersetzung von Wissensbeständen der kolonialisierten Kulturen zu fragen. Gerade mit Blick auf die Interdependenzen von Alter und Neuer Welt wurde offenkundig, dass die Fragen zum Verhältnis von sinnlicher Wahrnehmung und religiösem Wissen einer weiteren intensiven Forschungsarbeit bedürfen.

Empfohlene Zitation:
Marianne Seidig: [Tagungsbericht zu:] Sinne im Wandel. Mediale Neukonfigurationen sinnlicher Wahrnehmung 15.-17. Jh. (Universität Tübingen, GraKo „Religiöses Wissen im vormodernen Europa 800-1800“, 14.–15.06.2013). In: ArtHist.net, 06.09.2013. Letzter Zugriff 19.04.2024. <https://arthist.net/reviews/5777>.

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