REV 18.05.2014

Ritzerfeld: Pietas - Caritas - Societas / Botana: Works of Mercy

Rezensiert von Christine Ungruh, Berlin
Redaktion: Livia Cárdenas
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Seit 2007 bzw. 2011 liegen mit den Dissertationen von Ulrike Ritzerfeld (UR) und Federico Botana (FB) zwei Monographien vor, die die Bedeutung der ‘Werke der Barmherzigkeit’ in der mittelalterlichen Kunst Italiens (11.-15. Jh.) untersuchen. Die Ikonographie dieser Bildprogramme speist sich aus biblischen (Mt 25, 31-46; Tob 1, 17-20), exegetischen und scholastischen Schriften sowie Predigten, aber auch aus der karitativen Praxis der Stifter und postulieren ein theologisches Konzept, nach dem die geistigen und leiblichen opera misericordiae dem Gottes-Dienst gleichkommen: Die Liebe zum Nächsten entspricht der Liebe zu Gott, als Mitglied einer karitativen Korporation sichert sich der Einzelne sein zukünftiges Heil, und gemeinschaftlich verkörpern sie die Ecclesia. Diese Lehre avanciert in der spätmittelalterlichen italienischen Gesellschaft zur „Grundnorm der christlichen Sozialpraxis“ (UR S. 27), die von privaten wie institutionellen Stiftern mit entsprechenden Bildzyklen visuell kommuniziert wird. Einzelstudien zur Genese dieses ikonographischen Musters sowie dessen spezifischen Ausprägungen liegen vor.[1] Doch stellen beide Autoren fest, dass eine übergreifende Untersuchung zu Gebrauch, Funktion und Verbreitung des Bildthemas in Italien noch ausstehe.

Diesem Desiderat begegnet Ritzerfeld, indem sie primär Bildzyklen in „Standorten kollektiver Fürsorge“ (UR S. 4) im Tre- und Quattrocento, also in Räumlichkeiten (semi-)religiöser Laienvereinigungen in den Blick nimmt. Ihre Arbeit setzt mit einer Einführung in das Thema und einem Forschungsstand ein (Kap. 1-2), um anschließend einen ausführlichen geistes- und sozialgeschichtlichen Überblick zu Entstehung, Stellenwert und Selbstverständnis der Auftrag gebenden Korporationen vorzulegen, den sie mit zeitgenössischen Texten (z.B. Thomas von Aquin) absichert und mit existenten Bildquellen verknüpft (Kap. 3-6). Zu letzteren gehören frühe Hauptwerke, wie die ‘Römische Weltgerichtstafel’ und die Fresken in S. Maria Immacolata in Ceri (11. Jh.), der Buchdeckel des Melisende-Psalters oder die Bibel von Floreffe (12. Jh.) ebenso wie illustrierte Handschriften (Esposizione del Paternostro, Breviari d’Amor) und die später ausführlich behandelten Fresken und Altarbilder. Bereits in diesen Kapiteln wird deutlich, dass Ritzerfeld die Architektur als Bühne und die zugehörige Bildausstattung als Kulisse einerseits für die Praktizierung kollektiver „paraliturgischer Zeremonien“ (UR S. 41 u.ö.), andererseits für die Propagierung der Lehre der Gottes-Liebe begreift (UR S. 17 ff.). Zwar folgen die Bildprogramme einem Kanon, doch kann dieser je nach Auftraggeber spezifisch ausfallen. Erklärungen findet die Autorin in den unterschiedlichen karitativen Aufgaben der Stifter, dem jeweiligen Selbstverständnis oder den Funktionen der Caritas-Bilder. Dies belegt sie mit einer Auswahl von neun Fallstudien (Kap. 7.1-9): einem Freskenfragment der Misericordia in Bergamo (I Canevari); den Wandmalereien in der Misericordia (‘Bigallo’) sowie im Oratorium der Buonomini di S. Martino in Florenz; den Barmherzigkeitstafeln der Misericordia in Ancona; den Fassadenprogrammen des Palazzo Datini in Prato und S. Francescuccio in Assisi; dem Baptisterium in Parma (Portalskulptur und Fresken der 11. Nische); sowie den Bildzyklen der Hospitäler S. Maria della Scala in Siena und S. Spirito di Sassia in Rom. Die Autorin zeigt in einem Dreischritt die jeweiligen Dekorationsstrategien auf (Kap. 7), benennt interne, d.h. auf die jeweilige Gemeinschaft sowie externe, d.h. auf die Rezipienten bezogene Funktionen der Barmherzigkeitszyklen (Kap. 8) und benennt Ausstattungsprinzipien, weswegen sie thematisch als Gruppe zu fassen sind (Kap. 9). Auf die Schlussbetrachtung (Kap. 10) folgt ein zweiter Katalog (Kap. 11.1-9), der die stiftenden Korporationen nun aus der Perspektive ihrer jeweiligen Organisationform und dem gesellschaftlichen Status beleuchtet (Kap. 11). Umfangreiche Literaturverzeichnisse und Abbildungen runden die Arbeit ab.

Der Vergleich des sorgfältig lektorierten Textes mit dem Bildmaterial ist durch den eigenständigen Abbildungsteil gewährleistet. Eine Zusammenlegung der beiden „Werke“-Kataloge (7.1-9 und 11.1-9) hätte den Zugriff auf die umfangreichen Informationen zu den Beispielen dagegen erheblich erleichtert. Dank der breit angelegten Fragestellung liefert Ritzerfeld eine beeindruckende Gesamtschau von Motivationen und Initiativen spätmittelalterlicher Laiencaritas und lässt auf diese Weise die zunehmende und äußerst vielseitige Bedeutung von Laienkorporationen für die spätmittelalterliche Stadt im Spannungsfeld zwischen religiöser und weltlicher Sphäre hervortreten.

Botanas Arbeit ist mit etwa 250 Seiten, inklusive 12 Farbtafeln und textbegleitenden Abbildungen, wesentlich kürzer. Sein Ziel ist es, anhand der Bildfindungen Aussagen über die mittelalterliche Gesellschaft treffen zu können. Als Gründe für die Verbreitung des ‘Werke’-Kanons verweist der Autor zu Recht auf die intensivierten karitativen Bedürfnisse, die die Reformen des Vierten Laterankonzils (1215) hervorgerufen haben, sowie auf den wachsenden Einfluss der Bettelorden. Nach einer sehr kurzen Einführung benennt Botana elf, im Zeitraum von 1050 bis 1400 entstandene ‘Werke’-Zyklen, die er in fünf programmatischen Kapiteln behandelt: Armenfürsorge (Kap. 2), die Lehre von der Barmherzigkeit (Kap. 3) und ihrer Ausübung (Kap. 4), die Vision von der barmherzigen Gesellschaft als Gemeinschaft aller Gläubigen (Kap. 5) und Caritas als Heilsweg (Kap. 6). Es sind mithin Themen, die den Lesern von Ritzerfelds Arbeit vertraut sind, und Gleiches trifft auf Botanas elf Fallbeispiele zu: die ‘Römische Weltgerichtstafel’, die Fresken in Ceri, die Illustrationen der Esposizione del Paternostro (Florenz) sowie der Statuten des Hospitals S. Spirito (Rom), das Baptisterium in Parma (Portal und Fresko), das ‘Canevari’-Fragment in Bergamo und die Udienza des ‘Bigallo’ in Florenz. Darüber hinaus erschließt Botana die ‘Werke’-Zyklen am Portal von S. Maria della Salute in Viterbo sowie die Fresken in S. Vittore del Lazio und S. Pietro in Vincoli (Molise).

Botanas Arbeit zeichnet sich durch konzise ikonographische Analysen seiner Fallbeispiele aus, die er anhand der Quellen interpretiert und kontextualisiert. Zu seinen Funden gehört die Identifizierung der Wohltäter auf der ‘Weltgerichtstafel’ als die römischen Heiligen Cyriacus, Largus und Smaragdus (FB S. 21). Besonders schlüssig ist Botanas Deutung des ‘Canevari’-Freskos der Misericordia in Bergamo, wobei er sich auf neueste Grabungsergebnisse (publiziert 2006) stützen kann: Sie belegen, dass das Fresko Teil einer ehemaligen Chorschranke von S. Vincenzo war (FB S. 184 ff.). Interessant sind auch seine Thesen, denen zufolge der Bildkanon im Zeitalter des Investiturstreits der Legitimierung von Besitz gedient (S. 16 f.) oder dass einige Zyklen (z.B. Parma) für den Begräbniskontext konzipiert worden sein könnten, wodurch einmal mehr der erlösungsrelevante Charakter der Werke verdeutlicht würde (217 f.).

Man begegnet Botanas Monographie jedoch mit gemischten Gefühlen: Der Autor beansprucht, die erste vollständige Arbeit zu den mittelalterlichen italienischen Zyklen der ‘Werke der Barmherzigkeit’ vorzulegen (FB S. 1). Allerdings trifft er im Vergleich zu Ritzerfeld eine nur teilweise alternative Auswahl von Schlüsselwerken und setzt einen anderen zeitlichen Rahmen. Im Hinblick auf die Überschneidung der Objektauswahl ist es unverständlich, dass sich Botana mit der Arbeit seiner Vorgängerin nicht auseinandersetzt (Ausnahme: FB S. 187 Anm. 147) und damit eine wichtige Chance des wissenschaftlichen Dialogs ungenutzt verstreichen lässt. Gerade die komplexen Zusammenhänge wie die Bedeutung der Eucharistie für die kirchliche Caritas-Lehre, die prominent über die Bildprogramme kommuniziert wird (vgl. die Personifikation der Misericordia im Florentiner ‘Bigallo’; UR S. 106ff. und S. 233 ff., FB S. 166 ff.), oder die herausragende sozio-politische Rolle der zunehmend in Korporationen aktiv werdenden Laien, die die weite Verbreitung der Zyklen bewirkten, hätten einen wissenschaftlichen Diskurs verdient.

Anmerkung
[1] Darunter die unpublizierte Doktorarbeit von William R. Lavin, Studies in the Imagery of Mercy in Late-Medieval Italian Art, Diss. Univ. of Chicago 1983, und nachfolgende Publikationen zum Thema. – Ralf van Bühren, Die Werke der Barmherzigkeit in der Kunst des 12.-18. Jahrhunderts, Hildesheim 1998. – Albert Dietl, Vom Wort zum Bild der Werke der Barmherzigkeit. Eine Skizze zur Vor- und Frühgeschichte eines neuen Bildthemas, in: Hans-Rudolf Meier / Dorothea Schwinn Schürmann (Hrsg.), Schwelle zum Paradies. Die Galluspforte des Basler Münsters (AK Basel, Museum Kleines Klingetal, 07.09.2002-26.02.2003), Basel 2003, 74-90. – Nino Zchomelidse, Santa Maria Immacolata in Ceri. Pittura sacra al tempo della Riforma Gregoriana (Arte e Storia, 5), Rom 1996.

Ritzerfeld, Ulrike: Pietas - Caritas - Societas. Bildprogramme karitativer Einrichtungen des Spätmittelalters in Italien, Bonn: Hochschulschriftenserver 2006
342 S., 163 Abb., http://hss.ulb.uni-bonn.de/2007/1083/1083.htm

Botana, Federico: The Works of Mercy in Italian Medieval Art (c.1050 - c.1400), Turnhout: Brepols Publishers 2011
ISBN-13: 978-2-503-53623-1, XL, 254 S., 110,00 Euro

Empfohlene Zitation:
Christine Ungruh: [Rezension zu:] Ritzerfeld, Ulrike: Pietas - Caritas - Societas. Bildprogramme karitativer Einrichtungen des Spätmittelalters in Italien, Bonn 2006; Botana, Federico: The Works of Mercy in Italian Medieval Art (c.1050 - c.1400), Turnhout 2011. In: ArtHist.net, 18.05.2014. Letzter Zugriff 29.03.2024. <https://arthist.net/reviews/5331>.

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