REV-EX 17.09.2002

Noahs Arche und das Dresdner Kupferstich-Kabinett (Dresden)

Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Kupferstich-Kabinett, 18.07.–04.10.2002

Rezensiert von Christian Holtorf

Noahs Arche in Dresden

Es ist ein merkwuerdiger Zufall, dass das Dresdner Kupferstich-Kabinett zeitgleich mit dem Jahrhunderthochwasser der Elbe die Ausstellung "Noahs Arche" (bis 4. Oktober) zeigt. Der einfallsreiche Vorschlag der Kuratoren, das Museum und seinen geplanten Umzug ins Dresdner Residenzschloss mit der Tiersammlung auf der Arche zu vergleichen, hat sich bestaetigt: an historischer Plausibilitaet gewann die Arche jedoch nicht, wie im 17. Jahrhundert gedacht und in der Ausstellung dokumentiert, durch die moeglichst detailgenaue Rekonstruktion des Schiffs, sondern indem die Natur die Sintflut rekonstruierte und den Museumsumzug vorerst infragestellte. Die Arche als Enzyklopaedie der Natur muss um ein neues Phaenomen ergaenzt werden.

Solche Ueberraschungen sind erstaunlicherweise bereits in den gezeigten Kupferstichen beruecksichtigt. Neben dem Wasserbecken, das der Kupferstecher Jan Luyken um 1697 auf einem Deck seiner Arche Noah zeichnete, sah er "ledige plaats" vor. Auf demselben Geschoss fuer "vierfuessige Tiere" liess er einen anderen "leeren Raum, um etwas zu bewahren". Weiterhin finden wir einen "leeren Stall" und einen Platz fuer Tiere, "die vergessen sein moegen". Die Arche Noah voll ungenutzter Tierstaelle? Gottes Rettungskahn mit Platz fuer Unvorhergesehenem? Haben unbekannte Arten die Sintflut ueberlebt? Der Amsterdamer Kuenstler schuf eine Konstruktion, die in ihrer Kastenform weniger an der Seetuechtigkeit als an der vermuteten Ordnung der Natur orientiert war. Waehrend das Alte Testament die Geschehnisse nur wenig ausschmueckt, untersuchten die Renaissancegelehrten bildreich die Technik der Schiffsbaus, der Artenauswahl und Ordnungsbildung. Ihnen war jedoch bewusst: es bleiben immer Luecken. Auch die populaere Bibel von Lucas Schnitzer, die vor 1649 in Nuernberg entstanden ist, veroeffentlichte Schnitte und Grundrisse der Arche. Und auch sie kannte vier Raeume auf dem Dritten Boden des Schiffes, die frei blieben, weil "darein noch mehr Thiere koennten gebracht und Raum zu stehen haetten". Bewusst wurde Platz gelassen, der erst spaeter gefuellt werden sollte, um Kapitaen Noah Flexibilitaet an Bord zu ermoeglichen.

Da die Dresdner Sammlung nun selber unterwegs ist, stellt sich die Frage, ob ihre Kuratoren auch an genuegend freie Raeume gedacht haben - nicht in Magazinen, sondern als Repraesentationen des Unbekannten und Vergessenen, des Fluechtigen und Bewegten. Immer mehr Museumsneubauten beherbergen solche leeren Bereiche: In der Wandelhalle der Berliner Gemaeldegalerie mag man sich Noah vorstellen, wie er sich von Geschnatter und Gebruell aus den Staellen erholt. Die unzugaenglichen Zwischenraeume ("voids") des Juedischen Museums koennten die Trauer ueber die Gewalt des Staerkeren und den Tod Unschuldiger beherbergen. Und der glaeserne Fahrstuhl im leeren Gasometer von Oberhausen liesse die Erforschung hoeherer Atmosphaeren zu, fuer die wir landlaeufig nicht mehr als etwas Raum in unserem Vorstellungsvermoegen lassen koennen.

So erinnert Noahs Arche ueber dem reissend angeschwollenen Elbwasser an das Unerschlossene und Ueberraschende der menschlichen Natur. Unterwegs bleibt nicht allein das Dresdner Kupferstich-Kabinett, sondern der forschende Mensch. Man muss ihm nur Platz lassen.

Empfohlene Zitation:
Christian Holtorf: [Rezension zu:] Noahs Arche und das Dresdner Kupferstich-Kabinett (Dresden) (Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Kupferstich-Kabinett, 18.07.–04.10.2002). In: ArtHist.net, 17.09.2002. Letzter Zugriff 16.04.2024. <https://arthist.net/reviews/526>.

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