REV 03.02.2004

Christian Bracht: Kunstkommentare der sechziger Jahre

Rezensiert von Tobias Vogt
Redaktion: Rainer Donandt

Analysen von Analysen ermöglichen immer auch Selbstanalysen. Christian Brachts "Kunstkommentare der sechziger Jahre. Funktionen und Fundierungsprogramme" ist ein Text über Texte zur Kunst des 20. Jahrhunderts und damit auch ein Text über sich selbst. Das Reflexionsniveau, das die Themenstellung des Buches in sich trägt, weist es als ambitioniertes Vorhaben aus. Diesem Versprechen des Titels wird die Untersuchung voll gerecht.

Brachts Leitgedanke gilt der Verschiebung von "essentialistischen" zu "anti-essentialistischen" (S. 7) Kunsttheorien in den sechziger Jahren. Essenzialismus bezeichnet hier eine normative, auf Einheitlichkeit zielende Kunstauffassung. Was Bracht registriert, ist also eine Verschiebung hin zu deskriptiv begriffenen Differenzen und Mehrdeutigkeiten im Schreiben über Kunst. Andernorts benennt das längst durch Anführungszeichen in Distanz gehaltene "postmodern" diesen Wechsel.

Die Studie versteht sich in der Nachfolge der behaupteten Wende und findet in einer "historischen Diskursanalyse" (S. 64-65) die adäquate Methode. Der Autor erläutert sie ausführlich und begründet ihre Wahl im gesamten ersten Drittel des Buches. Eingeschlossen in diesen systematischen Teil ist eine allgemeine Theorie des Kunstkommentars. Hier bündelt Bracht Theorien zu Bild-Text-Konstellationen von der Tradition der Ekphrasis bis zur entsprechenden Reflexion in den Geisteswissenschaften der Gegenwart. Die Frage nach der Kommentarbedürftigkeit moderner Kunst, die Arnold Gehlen 1960 stellte, nutzt Bracht dabei sinnvoll als Beleg, um die Dringlichkeit des Themas historisch zu terminieren. Das Abrücken des Forschungsfokus vom Werk zum Beiwerk, zu Kontext und Konzept im Zuge des Linguistic turn dient ihm zur eigenen Standortbestimmung. Gemäß dem Schlagwort von der Macht der Sprache kommt die Untersuchung, die aus Brachts Doktorarbeit an der RWTH Aachen von 1997 hervorgeht, auch ganz ohne Abbildungen aus.

Der zweite, historische Teil nun enthält die Analyse von Schreibweisen über Kunst, nicht nur der sechziger Jahre, die Bracht in zehn "Fundierungsprogramme" gliedert: "Jargon der Eigentlichkeit", "Kritisches Idiom", "Das Ursprüngliche", "Das Optische", "Das Theatralische", "Das Linguistische", "Das Massenkulturelle", "Die Maschine", "Das Politische", "Das Ephemere". Diese Gliederung verabschiedet stilistische oder gattungsspezifische Kategorien, die Verbindlichkeiten über das Werk oder den Autor herzustellen meinen. In jedem der zehn Kapiteln dringt zum einen gleich eine These in die Überschrift, nämlich die Behauptung der Relevanz des jeweiligen Begriffs in den Sechzigern. Zum anderen ermöglicht diese Aufteilung Querverweise zwischen den Kunstrichtungen und Gattungen, zwischen Europa und den USA.

Das erlaubt, die Hochkonjuktur der bildenden Kunst und ihrer Begleittexte, die für die sechziger Jahre bezeichnend ist, umfassend zu überblicken. Damals fanden - befördert vom Wachstum in Kunstmarkt, Ausstellungswesen und Massenmedien - die Errungenschaften der Avantgarden der vergangenen hundert Jahre zusammen und häuften sich zu einem schwer überschaubaren Arsenal, aus dem künstlerische Verfahren und theoretische Überlegungen schöpfen konnten. Daß die Forschung diese Gemengelage bislang meist in Bezeichnungen wie "Minimal Art", "Pop Art" oder "Skulptur der sechziger Jahre" separierte, scheint vor diesem Hintergrund entschuldbar. Brachts Gliederung aber liefert einen revidierten Vorschlag zur Sortierung des Jahrzehnts, der den Blick für die Theoriebildung erweitert und schärft.

"Das Politische" etwa ist in drei Teile untergliedert: "Aufbruch" verschränkt Umberto Ecos Diskontinuitätsbegriff mit Foucaults Geschichtsmodell und leitet von Joseph Beuys zu den Situationisten über, "Untergrund" führt weiter zur Germano Celants "Arte Povera", "Institutionen" verbindet Arthur Dantos Artikel "The Artworld" mit der Institutionskritik von Hans Haake und Daniel Buren. Hier bietet sich im Gesamttext ein Eindruck von der Vielschichtigkeit des Politischen in der Kunsttheorie der Spätsechziger. An manchen Rändern drohnt er allerdings aufgrund der opaken Montage von Zitaten und Verweisen zu versanden. Es mag der Materialfülle geschuldet sein (das Literaturverzeichnis zählt etwa tausend Einträge) und dem weiten Bogen, den der Autor zur historischen Herleitung mancher Diskursmomente spannt (für "Das Ursprüngliche" geht er zu Ursprünglichem wie dem Mythos vom Schleier des Timanthes zurück), daß die Gruppierung der angeführten Texte zu einem bestimmten Begriff oder zu einem Begriff alleine nicht durchweg überzeugend wirkt.

Die Diskursanalyse tritt hinter den selbstgestellten Anspruch zurück, wenn die Kommentare im Endeffekt wieder nach stilistischen oder geographischen Gesichtspunkten zusammenfinden und deshalb die Neuordnung nach thematischen Einzeldiskursen unterlaufen. Bracht macht zweifelsfrei viele Querverbindungen, insbesondere über den Atlantik, produktiv. Manche Überschriften jedoch reproduzieren überkommene Blickwinkel. So verhandelt Bracht im Kapitel zum Massenkulturellen hauptsächlich die Pop Art, in Europa wie in Amerika. Er geht dabei der Verabschiedung von Clement Greenbergs "essentialistischer" Geringschätzung der Massenkultur als Kitsch über Lawrence Alloways und Leo Steinbergs Texte bis zu Andy Warhols trügerischer Konsumbejahung auf den Grund. Doch ebenso unterhält das Material und die Form minimalistischer Objekte samt ihrer Theoretisierung durch Donald Judd und den prägnanten Selbstkommentator Dan Flavin eine Verbindung zum Massenhaften. Sie kommt hier nicht direkt zur Sprache. Gleichwohl stellen sich solche Bezüge beim Leser kapitelübergreifend ein.

Unbedachte Setzungen von Normen und Namen, die Bracht zu meiden sucht, kehren zum Teil bei der Behandlung von solchen Akteuren und Texten wieder, die der Autor auf der Seite des Essenzialismus wähnt. Das Manifest einer Essenz der Moderne, wie es Clement Greenberg aufsetzte, hat die Gruppe der Abstrakten Expressionisten schließlich nie unterzeichnet. Überdies wäre auch hier die Gruppenbezeichnung zu problematisieren. Der "Einheitsdiskurs" der Abstrakten Expressionisten fand, wenn überhaupt, nur im Künstlerstamm der Betty Parsons Gallery zwischen 1947 und 1951 statt. Nach Zerwürfnissen existierte auch zwischen Barnett Newman, Jackson Pollock, Mark Rothko, Ad Reinhardt und Clyfford Still Einvernehmen nur noch über Differenzen (eine Paradoxie, die Bracht im übrigen mitdenkt).

Die gesamte Argumentation wäre vielleicht zu prägnanteren Schlüssen gekommen,wenn sie sich stärker auf die Diskursführung im Zeitraum, den der Titel nennt, bezogen hätte. Bracht liefert eine ausführliche, historisch diachrone Herleitung zu fast jedem der zehn Fundierungsprogramme, die nicht erst mit den signifikanten Veränderungen im Schreiben über Kunst um 1850 beginnt. So erfährt der Leser stets Grundsätzliches, aber nicht immer Notwendiges sowohl über die jeweilige Geschichte des Begriffs als auch über seine Aktualität in den sechziger Jahren und darüber hinaus über seinen Stellenwert in aktuelleren Forschungsbeiträgen.

Gleichzeitig bleibt zu hinterfragen, warum sich die Studie ausschließlich den Kommentaren zuwendet, die - hierarchisch gesehen - die obere Diskursebene der Kunsttheorie formulierte. Wenn die Sechziger den Übergang von Einheits- zu Differenzdiskursen markieren, dann verspräche womöglich die Einbeziehung von weniger kanonisierten Texten einen speziellen Erkenntnisgewinn. Brachts Beschränkung auf bekannte Theorien erfordert eben nicht nur eine fleißige Aufarbeitung von Sekundärliteratur, sondern blendet die breite Kunstöffentlichkeit, die sich im Tagesfeuilleton oder auch in Karikaturen zu Wort meldete, aus.

Da mit der Dichotomie von essentialistisch und anti-essentialistisch auch diejenige von High und Low ins Blickfeld gerät, wäre zusätzliches Material von Schreibern aus dem Bereich des "Massenkulturellen" von Interesse. Eine Umgewichtung der verfügten Kommentare, die dann weniger von Greenberg und Judd, Adorno und Reinhardt, Eco und Debord abhingen, könnte zu anderen oder weiteren Diskursmomenten führen. Darunter fiele etwa die Debatte um die Grenze zwischen "Kunst" und "Nicht-Kunst", die in den sechziger Jahren wieder entbrannte und neue Fronten zwischen Eingeweihten und Außenstehenden im Kunstbetrieb zog.

Es ist einer der Verdienste dieses Buches, zu solchen Überlegungen anzuregen. Auch Diskursanalysen brauchen verbindliche Setzungen und treffen Exklusionen, die als solche zu reflektieren sind. Das leistet die Studie, derer eigene Sprachverwendung ebenfalls diskursfest und stilsicher ist, in ihrer so ausführlichen wie beispielhaften Methodenbegründung. Insofern ist der Anspruch auf Vollständigkeit oder Geschlossenheit gar nicht zu unterstellen. Die Beobachtung von Lücken und fehlenden Querverweisen ist vielmehr eine Motivation zum Weiterforschen, welche die Anlage des Texts selbst generiert. Denn der Kommentar von Kommentaren kommentiert sich nicht nur selbst. Er ermutigt auch zu weiteren Kommentaren, die sich seiner annehmen.

Tobias Vogt promoviert über "Untitled. Benennung von Kunst in New York 1940-1970" in Berlin.

Bracht, Christian: Kunstkommentare der sechziger Jahre. Funktionen und Fundierungsprogramme, Weimar: VDG - Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften 2002
ISBN-10: 3-89739-307-7, 418 S.

Empfohlene Zitation:
Tobias Vogt: [Rezension zu:] Bracht, Christian: Kunstkommentare der sechziger Jahre. Funktionen und Fundierungsprogramme, Weimar 2002. In: ArtHist.net, 03.02.2004. Letzter Zugriff 19.04.2024. <https://arthist.net/reviews/50>.

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