Seit Jahren arbeiten vor allem Historiker und Literaturwissenschaftler kontinuierlich an der Erhellung der Exilgeschichte und forschen rege über Emigranten und Exilländer. Dennoch bietet die lange Liste von Emigrantenschicksalen noch immer einen reichen Fundus für Neu- und Wiederentdeckungen. Dies gilt im besonderen Maße für die Kunstgeschichte, denn mit Enthusiasmus beschäftigen sich Kunsthistoriker immer wieder mit denselben populären Emigranten - stellvertretend sei die Trias Max Beckmann, George Grosz und Mies van der Rohe genannt -, lenken aber den Blick noch zu selten auf die vielen anderen Entflohenen und Vertriebenen. So ist es ein Glücksfall, wenn einzelne Forscher mit Akribie und Leidenschaft für das noch Unbekannte den verschütteten Nachlässen und Werken emigrierter Künstler nachspüren, um sukzessive ein unterbrochenes Künstlerleben zu rekonstruieren. Mit Erstaunen lässt sich dann bisweilen feststellen, dass die zerstörerische Kunstpolitik der Nationalsozialisten bis heute folgenreich ist: Qualitativ Hochrangiges, künstlerisch Anspruchsvolles wurde aus dem Land und damit - so scheint es - über Jahrzehnte aus dem kollektiven Gedächtnis gedrängt. Dieser radikalen Tilgung von Erinnerung kann zunächst nur durch monographische Recherche begegnet werden, die vielleicht irgendwann einmal zu einer übergreifenden Kunstgeschichte des Exils verdichtet wird.
In einem Vortrag in den USA äußerte sich Erika Mann, selbst exiliert, über die weithin unterschätzte Zahl weiblicher Emigranten: "In dem Flüchtlingsheer, das sich, aus den Diktaturländern kommend, über die Erde ergießt, finden sich viele Frauen. Es sind mehr Frauen unter den Flüchtlingen, als dem Prozentsatz entspräche. Denn nimmt man an, dass, außer den aus Rassegründen in Deutschland (und nun auch in Italien) Verfolgten, in der Hauptsache die politisch Aktiven es sind, die von den Diktatoren die Kerker- und Todesstrafe zu fürchten haben, und bedenkt man ferner, wie wenige Frauen offiziell aktiv politisch tätig waren, dann überrascht die Zahl der weiblichen Exilierten durch ihre Größe." [1] Eine jener Emigrantinnen ist die Malerin Lotte Laserstein (1898-1993), deren Schicksal und beeindruckendes Oeuvre erst durch die Forschungen der Kunsthistorikerin Anna C. Krausse wieder in das öffentliche Bewusstsein gelangte. Laserstein war in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts nicht nur eine begabte Porträtistin mit guter Auftragslage, sondern auch eine Malerin, die mit ihren Maler-und-Modell-Darstellungen in ein vorwiegend von Männern dominiertes Künstlerterrain einbrach. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde diese hoffnungsvolle Karriere unterbrochen: Lotte Laserstein emigrierte nach Schweden.
Anna C. Krausse hat nach Abschluss ihrer Dissertation und mehreren Aufsätzen über die Künstlerin nun eine große Ausstellung zusammengestellt, in der Laserstein als Malerin der Weimarer Republik gewürdigt wird, an deren Lebenslauf sich exemplarisch die irreparablen Schäden einer erzwungenen Zäsur manifestieren. In einer Kooperation von Verborgenem Museum - seit vielen Jahren um die Erforschung einer weiblichen Kunstgeschichte bemüht - und dem Stadtmuseum Berlin sind nun erstmals 150 Bilder Lasersteins in Deutschland zusammengetragen worden. Krausse gruppierte die Gemälde mit Sachverstand und Feingefühl und legte den Schwerpunkt auf die Berliner Jahre.
Laserstein gehörte zu jenen Frauen, denen die Liberalität der Weimarer Verfassung die akademische Ausbildung ermöglichte, denn die Berliner "Akademischen Hochschule für die bildenden Künste" öffnete sich erst 1919 für Künstlerinnen. Dort studierte Laserstein ab 1921 bei Erich Wolfsfeld und etablierte sich Ende der zwanziger Jahre als Bildnismalerin. Sie debütierte 1928 in der Frühjahrsausstellung der "Akademie der Künste" und galt seitdem als "scharf leuchtendes Talent".[2] Ähnlich wie bei ihren Zeitgenossen Christian Schad und Willy Jaeckel finden sich in Lasersteins Werk vermehrt Porträts, die das Unverwechselbare des Modells in eine entindividualisierende Typisierung überführen: So begegnet in der Ausstellung die progressive Großstädterin mit Krawatte und Bubikopf, die Tennisspielerin und der Motorradfahrer als Personifikation einer technikbesessenen Ära. In selbstbewussten Posen plazierte Laserstein ihre Protagonisten bildfüllend auf die Leinwand. Die Direktheit der Darstellung, so führt die Ausstellung in einem eigenen Kapitel vor Augen, äußert sich auch in dem gern gewählten Porträt en face. Krausse führt die Wahl dieses besonderen, formatfüllenden Frontalbildnisses auf die Rezeption zeitgenössischer Fotografie und das Neue Sehen zurück. Gleichermaßen lassen diese Porträts jedoch auch Assoziationen zur entindividualisierten Ikonenmalerei entstehen, die der kunsthistorisch versierten Laserstein sicherlich nicht fremd war.
Noch beeindruckender als die neusachlichen Bildnisse sind die Aktdarstellungen Lasersteins, auf denen in der Ausstellung ein besonderes Gewicht liegt. Neben vielen sensiblen Porträts der nackten Traute Rose, die ihr bevorzugtes Modell und vermutlich auch ihre Geliebte war, ist besonders das programmatische Bild "In meinem Atelier" (1928) hervorzuheben, das heute als Sinnbild einer im Aufbruch begriffenen Emanzipation von Künstlerinnen gelesen werden kann. Laserstein malte ihr Modell als schlafende Venus, deren Nacktheit sie vor den Augen des Betrachters im Bildvordergrund inszeniert. Hinten arbeitet die Malerin, die wie ihr Modell einen maskulinen Kurzhaarschnitt trägt, konzentriert an der Staffelei. Die Selbstbehauptung als Malerin wird hier durch den Rückgriff auf ein Jahrhunderte altes Bildschema zementiert: der Künstler und sein Akt.
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 durfte Laserstein als Jüdin nicht mehr ausstellen und musste aus dem Vorstand des Vereins der Berliner Künstlerinnen austreten. Systematisch griffen in den nächsten Jahren die Entrechtungen und Diffamierungen der Nationalsozialisten in das Leben und Schaffen der Künstlerin ein. Da ihr die Mitgliedschaft in der Reichskulturkammer verweigert wurde, konnte Laserstein nach 1935 nur über Freunde Malmaterialien beziehen. Sie unterrichtete an jüdischen Kunstschulen und stellte im Jüdischen Kulturbund aus. Das künstlerische und physische Überleben war nur noch durch die Emigration zu sichern. Im Jahr 1937 ging Lotte Laserstein nach Schweden, wo sie Ende des Jahres durch eine Stockholmer Ausstellung zahlreiche Porträtaufträge erhielt.
Der dritte Stock des Ephraim-Palais versammelt diese Porträts; sie sind beredter Ausdruck für die schwierigen Bedingungen, denen Exilanten in ihrem Zielland unterworfen waren. Mit der Emigration brach, so die Malerin, ihr Leben in "zwei Stücke".[3] Die Umsiedlung in einen ihr fremden Kontext führte zum Verlust der unverwechselbaren künstlerischen Identität. Die Anpassung an den örtlichen Kunstmarkt und den Kunstgeschmack zwangen Laserstein zur Veränderung ihres Malstils. Sie formulierte gemäßigter und konventioneller, bisweilen erhielten besonders ihre Frauenbildnisse einen lieblichen Charakter, der ihren Berliner Porträts vollkommen fremd war. Nach dem Zweiten Weltkrieg gingen die Porträtaufträge zurück; Lasersteins traditioneller Stil galt nunmehr als unmodern. Ermüdet konstatierte sie in einem Brief an ihre frühere Muse Traute Rose: "Ich habe keine Hoffnung, kenne keinen Kunstbonzen und bin hoffnungslos altmodisch."[4] Erfolg hatte die Künstlerin indes mit ihrer Pleinair-Malerei. In ihrer Wahlheimat Schweden, in der sie bis an ihr Lebensende blieb, ist sie noch heute vor allem als Landschaftsmalerin bekannt.
Die Berliner Retrospektive gewährt nachhaltige Einblicke in das wechselhafte Leben und Schaffen Lotte Lasersteins. Die reichhaltige Präsentation des eigenständigen, ambitionierten Werks der zwanziger Jahre rückt eine zu Unrecht in ihrer alten Heimat vergessenen Künstlerin wieder in das Blickfeld. Die furchtbaren Erlebnisse der Zeitspanne 1933 bis 1945, der Verlust von Freunden und Verwandten machten - wie im Fall Lotte Lasersteins - eine Rückkehr nach Deutschland aus moralischen und psychischen Gründen unmöglich. Viele der Künstler, die unter Zwang das Land verlassen mussten, hatten nach dem Krieg überdies keine Fürsprecher mehr. Ihre Kunst geriet in Vergessenheit und wurde - wenn überhaupt - erst Jahrzehnte später von der Forschung berücksichtigt. Die Ausstellung "Lotte Laserstein (1898-1993) - Meine einzige Wirklichkeit" und vor allem der üppige Katalog mit ausführlichem Text, vielen Abbildungen und einem Werkverzeichnis auf CD-ROM sind ein weiterer wichtiger Schritt zur Rehabilitierung von Künstlern und Künstlerinnen, die im vergangenen Jahrhundert ins Exil gezwungen wurden.
Anmerkungen:
[1] Erika Mann: Business and professional women in Exile, zit. in: Heike Klapdor: Überlebensstrategie statt Lebensentwurf. Frauen in der Emigration, in: Denny Hirschbach und Sonia Nowoselsky (Hrsg.): Zwischen Aufbruch und Verfolgung. Künstlerinnen der zwanziger und dreißiger Jahre, Bremen 1993, S. 16f.
[2] K. E.: Barlach-Ehrung und Großer Staatspreis in der Berliner Akademie, 1930, zit. in: Anna C. Krausse: "Malen fürs Lebensbrot". Zum Verlust künstlerischer Identität in der Emigration: die Malerin Lotte Laserstein im schwedischen Exil, in: Exilforschung, Bd. 17, 1999, S. 106.
[3] Ebd., S. 110.
[4] Zit. n. Anna-Carola Krausse: Lotte Laserstein (1898-1993). Meine einzige Wirklichkeit, Ausst.-Kat. Berlin 2003, S. 261.
Krauße, Anna-Carola; Laserstein, Lotte (Hrsg.): Lotte Laserstein. My only reality - meine einzige Wirklichkeit ; [Ausstellung des Vereins Das Verborgene Museum in Zsarb. mit der Stiftung Stadtmuseum Berlin im Museum Ephraim-Palais Berlin, 7. November 2003 bis 1. Februar 2004], Dresden: Philo Fine Arts 2003
ISBN-10: 3-364-00609-1, 367 S.
Empfohlene Zitation:
Burcu Dogramaci: [Rezension zu:] Lotte Laserstein (1898-1993) - Meine einzige Wirklichkeit (Museum Ephraim-Palais, Berlin, 07.11.2003–01.02.2004). In: ArtHist.net, 13.12.2003. Letzter Zugriff 02.11.2024. <https://arthist.net/reviews/493>.
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