REV-EX 30.08.2004

Dispersionen

Im Haus der Kunst München, 02.07.–12.09.2004

Rezensiert von Heike Endter
Redaktion: Godehard Janzing

Zu Aernout Miks Ausstellung werden im Katalog zwei Begriffe eingeführt: „Masse“, im Sinn einer Menschenmasse, und „Ähnlichkeit“, im Sinn vonÄhnlichwerden, Nachahmen. Zwei Begriffe, die oft mit abwertendem Ton gebraucht werden. Im Katalog und mit einem Büchertisch inmitten der Ausstellung wird mit Walter Benjamin [1], Elias Canetti [2] und Gustave LeBons „Psychologie der Massen“ auf das ausgehende 19. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts verwiesen.

Würde das Video „Dispersion Room“ von Aernout Mik in diese Ahnenreihe passen, dann könnte es dem Film „Ein Mensch der Masse“ [3] von 1928 gleichen und tatsächlich spielt der Katalogautor Rugoff mit derÜberschrift seines Beitrags darauf an. [4] In Beiden gibt es eine Szene in einem Großraumbüro. Im Film kommt man dorthin durch eine Kamerafahrt entlang eines Wolkenkratzers, durch ein Fenster, in ein Zimmer mit Reihen von Arbeitstischen zu einem einzelnen, versehen mit einem Namen und einer Nummer, „John Sims 137“. Nachdem dieser Einzelne in einer Masse Gleichartiger vorgestellt ist, handelt der Film vom Individuum und dessen Beziehung zur Masse, die darin besteht, dass John Sims von der Idee geplagt ist, sich von ihr abzuheben. Woran er scheitert.

Die Idee des Individuums, und dessen reale Qual zwischen Anspruch und Scheitern, ist verknüpft mit der Idee der Masse als einem Anti-Ideal. Es wird schnell klar, dass Aernout Mik in seinem Video „Dispersion Room“, und auch in den anderen, nicht dieses Masse-Konzept wiederholt. Und, das kann man gleich anschließen, die Videos passen auch nicht zum dazugehörigen Konzept des Individuums (oder der autonomen Person).

Seine Filme lassen sich, was die Kameraarbeit angeht, etwa in drei Arten teilen. Es gibt solche mit einer statischen Kamera, wodurch man die Vorgänge in einem gleichbleibenden Bildraum beobachten kann. Das ist so bei „Swab“ (1999), wo ein als Verletzter ausstaffierter Mann nachdrücklich den nackten Bauch bewegt. Und es ist so bei „Lick“ (1997), wo zwei Frauen und einem Mann eine blaue Flüssigkeit wie Blut aus der Brustgegend fließt. Es gibt zweitens eine bewegte Kamera. Von der aus im Video „Park“ (2002) Teile eines gleichen Bildraumes beobachtet werden. Die Kamerabewegungen erinnern an eine automatische Webcam, bei der die Kamera in der programmierten Art geschwenkt wird und das ganz unabhängig davon, wie interessant das Geschehen auf dem jeweiligen Bild gerade ist. In Miks Video ergibt das eine merkwürdige Art, Interesse zu erzeugen, nicht zu befriedigen und stattdessen abzulenken, wonach das Ganze von vorn beginnt. Es gibt drittens wieder eine bewegte Kamera. Die Variante besteht bei „Dispersion Room“ darin, dass die Bewegungen der Kamera und der Personen vor der Kamera gezielt kombiniert erscheinen. Interesse wird durch Veränderung geweckt. Die Aufmerksamkeit wird durch die Bewegungen der Personen und die der Kamera, durch verschiedene Größen (eine Person kommt nahe zur Kamera, erscheint groß und wird dann im Weggehen kleiner) gelenkt. Wie bei einer gewohnten filmischen Erzählweise werden Menschen mit der Kamera im Raum verfolgt, bis sie aus dem Raum laufen oder dem schwenkenden Kamerablick verloren gehen, nur dass der Anschluss keinen Sinn ergibt, was zugleich heißt: einen neuen Sinn ergibt. Einzelne Personen werden bei diesem Verfahren nicht dauerhaft herausgestellt.

Andererseits gibt es bei allen Arten der Kameraführung keine Einstellung, durch die man über einen begrenzt wirkenden Raum hinaus käme, also nichts Größeres von wo aus die Menschen klein und dadurch zu sich gleichenden Teilen einer Masse würde. Auch gibt es keine Einstellung, durch die eine Gruppe von Menschen zu solch einer Masse würde, wie Elias Canetti sie charakterisierte: „als einen Zustand absoluter Gleichheit ... Ein Kopf ist ein Kopf, ein Arm ist ein Arm ....“. [5] Dass das nicht passiert, liegt auch an dem Raum der zwischen den Personen im Bild verbleibt. Sie sind nicht nah beieinander, und wenn doch, tun sie nicht dasselbe oder bewegen sich nicht zugleich auf die selbe Art. Die Personen im Bild sind auch nicht uniform, nicht in der Kleidung, der Hautfarbe, dem Geschlecht, dem Alter, der Haarlänge oder sonstigem, was zu diesem Eindruck beitragen könnte.

Zu den Menschengruppen in Miks Videos gibt es im Katalog einen klugen Text von Jennifer Fisher und Jim Drobnik. Sie greifen darin Canettis Systematisierung menschlicher Gruppen in Meuten, Rudel usw. auf, was teilweise erhellend doch oft auch schematisch wirkt. Warum greifen sie diese Biologismen auf, die tierische Eigenschaften auf Menschenübertragen? Dies verweist auf die besondere Bedeutung der Sprache, die die alten Konzepte lebendig macht, beängstigend wirken lässt. Und umgekehrt wirklich empfundene Furcht gegenüber einer Masse, und das heißt immer, eines Individuums gegenüber eine Masse, ausdrückt. Aernout Mik hat die alten Masse- und Individuumskonzepte genutzt und visualisiert. [7] Der Unterschied liegt aber in seiner differenzierteren Darstellung. Wobei Aggressionen, Bedrängnis, Wohlgefühl, Alleinsein oder eine seltsam kalte Art der Toleranz in der Gruppe nicht ausgeschlossen sind. Nur gibt es die Gruppe und die Einzelnen nicht mehr als Dichotomie.

Katalog: Aernout Mik, Dispersionen, Köln: DUMONT, 2004, Texte in deutsch und englisch von Jim Drobnik, Jennifer Fisher, Stephanie Rosenthal und Ralph Rugoff, 23 Euro (in der Ausstellung)

Anmerkungen:

[1] Walter Benjamin: Über das mimetische Vermögen, Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Gesammelte Schriften, hrsg. 1977. Im Vorwort des Katalogs S.6 und im Text von Stephanie Rosenthal, Anmerkung 8, S.83.

[2] Fußnote Elias Canetti: Masse und Macht, 1960. Daran haben sich besonders Jennifer Fisher und Jim Drobnik in ihrem Text orientiert, wie sie in Anmerkung 2, S. 60 mitteilen.

[3] Originaltitel „The Crowd“, Regie: King Vidor, USA 1928.

[4] Ralph Rugoff: „Ein Mann der Menge“, Kat. S.10.

[5] Elias Canetti, Masse und Macht, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, 1988, S.26. Diese Textstelle zitiert auch Ralph Rugoff, Kat. S.10.

[6] Le Bon selbst stützte sich auf Alfred Espinas „Tiergesellschaften“ von 1878. Siehe: Le Bon, Psychologie der Massen, Einführung von Helmut Dingeldey, Kröner Verlag, Stuttgart, 1964, S. XX.

[7] Aernout Mik, de la 1 a edicion, Fundacion „la Caixa, Barcelona, 2003, S. 901f.; Aernout Mik sagt im Interview mit Marta Gill, dass er besonders zu Beginn seiner Arbeit an Autoren wie Canetti, Gombrovicz, Nabokov, Nietzsche und Benjamin interessiert war.

www.hausderkunst.de/new/deutsch/ausst/ausst_pages/mik.php

Mik, Aernout; Mik, Aernout; Rosenthal, Stephanie (Hrsg.): Dispersionen. Aernout Mik ; [anlässlich der Ausstellung Aernout Mik. Dispersionen, 2. Juli - 12. September 2004, Haus der Kunst München], Köln: DuMont Buchverlag 2004
ISBN-10: 3-8321-7491-5, 95 S, EUR 24.00

Empfohlene Zitation:
Heike Endter: [Rezension zu:] Dispersionen (Im Haus der Kunst München, 02.07.–12.09.2004). In: ArtHist.net, 30.08.2004. Letzter Zugriff 28.03.2024. <https://arthist.net/reviews/486>.

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