REV-EX 20.04.2005

1923-1930: Monza verso l‘unità delle arti.

Monza, Arengario, 14.03.–09.06.2004

Rezensiert von Donatella Cacciola
Redaktion: Philipp Zitzlsperger

Öffentliche Schauen mit nationaler und internationaler Resonanz dienten im Laufe des 20. Jahrhunderts als bevorzugtes Instrument, ja als Bühne für die Repräsentationsbedürfnisse totalitär ausgerichteter Regime. Entsprechende Erkenntnisse nebst einer Fülle von wichtigem Quellenmaterial und zahlreicher Einzelbeträge liefert der im folgenden zu besprechende Katalog. Die Publikation entstand im Rahmen einer Ausstellung, die im Arengario, dem ehemaligen Kommunalpalast zu Monza, im Frühjahr 2004 gezeigt wurde. Es war gewissermaßen eine Ausstellung über Ausstellungen, denn vier große Präsentationen in einer für die italienische Geschichte kritischen Epoche wurden thematisiert: Die drei „Biennali delle Arti Decorative“ und ihre Fortsetzung, die „IV (sic !)Esposizione Triennale Internazionale delle Arti decorative ed industriali moderne“[1], die zwischen 1923 und 1930 in der Monzeser Villa Reale stattfanden.

In der Geschichte von Design und Arti Decorative wurden bisher die Biennalen im Vergleich zu den ab 1927 stattfindenden Triennalen stiefmütterlich behandelt. Dabei sind sie deren Ursprung und der Ausgangspunkt des „Gleischschaltungsprozesses“, den Benito Mussolini ab 1927 zwecks Aufwertung des Faschismus initiierte. „Oggetti d‘eccezione dalle Esposizioni internazionali di Arti decorative“ lautet der Untertitel dieser Ausstellung, im folgenden „Monza 2004“ genannt. Zusammengestellt wurden die Exponate von Monza 2004 von den Herausgeberinnen des Katalogs durch eine best-of-Auswahl der vier Schauen. Hierbei handelt es sich um Kunstgewerbe, Accessoires bis hin zu Musterinterieurs und -bauten aus italienischer und internationaler Produktion. Die Auswahl der „außergewöhnlichen Exponate“ will exemplarisch beweisen - so bereits auf dem Deckblatt des Kataloges formuliert - wie diese Ausstellungen den Leitgedanken des Vaters des italienischen Designs Gio Ponti (1881-1979), der eine „Synthese der Künste“ (der freien, angewandten und dekorativen) anstrebte, praktisch umsetzten. Den LeserInnen gibt das Buch den Anlass, diese These zu verifizieren.

Chronik und Ausstellungsführer bilden die Hauptbestandteile des Katalogs, dessen klare Gliederung bereits beim Durchblättern durch die Grafik optimal verdeutlicht wird. Die zwei einführenden Kapitel von Anty Pansera, der einzigen italienischen Designhistorikerin, präsentieren eine historische Abhandlung mit eingestreuten Archivalien. Pansera lässt als Dokumentationsgrundlage „die Quellen sprechen“ - als Novum steht hier der Bestand des Gründungskomitees der Biennalen im Mittelpunkt, im Stadtarchiv Monza aufbewahrt und zum ersten Mal in diesem Umfang herangezogen. Durch diesen geschichtswissenschaftlichen Ausgangspunkt weist der Katalog bereits einen qualitativen Mehrwert auf, denn Quellen werden in den meisten italienischen Designpublikationen in der Regel ignoriert. Die dokumentarische Literatur über Designhistorie hat überhaupt unter viel zu beliebten thematischen Schienen (etwa Designer- oder Firmenmonografien als beliebter Schwerpunkt), dem Hang zum Persönlichkeitskult und der schriftstellerischen Selbstinszenierung vieler Architekten zu leiden. Begrenzt ist die Analyse des historischen Kontextes, in dem die Biennalen entstanden, auf Italien. Dabei verzichtet Pansera sinnvollerweise auf einen Vergleich zwischen diesen und den zuweilen parallel laufenden Ausstellungen wie der Pariser „Exposition des arts décoratifs et industriels modernes“ 1925 oder mit der Werkbund-Ausstellung von 1927 an der Weißenhofsiedlung, den die Biennalen nicht hätten bestehen können, da Italien am Anfang der 1920er Jahre zumeist noch eine handwerklichen Tradition mit stark regionalem Charakter besaß. Das Verdienst der Biennalen als Impulsgeber für die Aufwertung der angewandten Kunst und die Einbeziehung der industriellen Produktion im eigenen Lande bestand aber darin, so Pansera, die Vereinheitlichung aller Künste gefördert zu haben. Daher könnten sie, jenseits der einzelnen Exponate, als „Gesamtkunstwerk“ betrachtet werden. Dieser Terminus ist ein eindeutiger Bezug auf das in Deutschland zum Teil parallel verlaufende Bauhaus (1919-1933), der aber leider nicht weiter erörtert wird.

Der Hauptteil besteht aus dem eigentlichen Katalog, von Mariateresa Chirico betreut. Durch die essentielle Darstellung der Exponate, die „percorsi“ mit den Grundrissen der bespielten Ausstellungsräume, offenbart der Katalog gerade in diesem Abschnitt seine vielfältigen und praktischen Konsultationsebenen. Ein weiteres Kapitel (Verfasser: Roberto Profumo) widmet sich der Zusammenarbeit zwischen der Università delle Arti Decorative in Monza, 1923 gegründet, erst 1949 geschlossen, in deren Lehrkörper mehrere Wegbereiter des italienischen Designs schlechthin (neben Gio Ponti Marcello Nizzoli u.a.) vertreten waren, und den Biennalen und Triennalen, die in naheliegenden Arbeitsräumen stattfanden. Gezeigt wird, wie wichtig diese Schnittstelle für die Entwicklung des „progetto“ in diesen Jahren war. Die deutsche Konfliktsituation - das Bauhaus wurde von den Nationalsozialisten geschlossen - war in Italien nicht gegeben. In Monza liefen die Ausstellungen konsequent und ungestört als Ergebnis gemeinsamer Bemühungen ab. Die Biennalen erhielten zudem Lob von Schriftstellern wie Giovanni Papini und Ugo Ojetti, die mit dem Faschismus sympathisierten - ein modernes und weltoffenes Unternehmen, dies ist das Bild der Biennalen, das die Quellen wiedergeben. Eine Insel der Glückseligen? Nur bedingt, wie andere Dokumente im Katalog wiederspiegeln.

So war bereits den ersten beiden Kapiteln zu entnehmen, dass ein sozialer Anspruch und das Ziel eines „Gesamtkunstwerks“ dem Élan des sozialistischen (!) Abgeordneten Pietro Marangoni, Initiator und Vorstand der Monzeser Biennalen, nicht zugrunde lagen. Die angesprochene Klientel der Ausstellungen bestand aus gebildeten „homines novi“ - möglicherweise nicht nur Kunden, sondern auch potentieller Privatförderer der „arti decorative e industriali“. Der hinterbeinlose Stahlrohrsessel von Mies van der Rohe (S. 103), 1930 neben den Reisekoffern von Louis Vuitton (S. 102) ausgestellt, war daher ein passenderes Exponat für Monza und das dort vertretene finanzkräftige Publikum als ein demonstratives Beispiel aus einer Musterwohnung für das Existenzminimum. Die Biennalen zielten darauf ab, zum einen die Künstler/ Handwerker/ Kunsthandwerker für die neuen Ideen zu gewinnen, zum anderen, einen erneuerten „guten Geschmack“ durch sorgfältigst angefertigte Produkte für das Bürgertum zu etablieren. Diesen Anachronismus prangerten bereits in der Vergangenheit Kritiker an: Vor 25 Jahren kritisierte der Kunstkritiker Vittorio Pica eine solche Geschmacksbildung als „[...] Un‘arte destinata dunque a rette intelligenze e quindi riprovevole e incomprensibile, reazione contro una democratizzazione dell‘arte.‘ [...].“ [2]

Der Katalog-Anhang bietet Essays über zwei Institutionen, die mehr oder weniger direkt mit den Biennalen 1923-1927 verbunden waren: die Galleria d‘Arte Moderna Carlo Rizzarda in Feltre (Belluno), gegründet aus dem Nachlass des gleichnamigen Kunstschmieds (1883-1931), der sich als erfolgreicher Teilnehmer der Biennalen und Triennalen einen Namen machte, und das Museo delle Colonie in Rom. Beide Beiträge sind mehr als ein Blick über den Tellerrand der Brianza und der Lombardei. Beide Themen stellen gewissermaßen den Gegenpol dar zu dem, was von den VerfasserInnen bis dahin beluchtet worden war. Denn bei den Kunstschmiedearbeiten handelte es sich um handwerklich hergestellte Produkte, die sui generis den Anforderungen der „arte industriale“ nicht entsprechen konnten, während das Kolonialmuseum die übertriebenen nationalen Ambitionen gegenüber dem angestrebten internationalen Charakter der Biennalen vertraten. Angesichts des facettenreichen, fast gegensätzlichen Quellenbildes, das der Katalog bietet, können sich die LeserInnen zu diesem Punkt mit Recht fragen, welche Künste durch diese Ausstellungen gefördert werden sollten. Handelte es sich um eine plötzliche Einheit zwischen „arte decorativa e industriale“? So zumindest lautete das Motto der IV. Triennale, die damit eine thematische Nachahmung der Pariser Expo von 1925 war. Oder erhoffte man sich vielmehr die Etablierung einer neuen dekorativen Kunst - als Gegenpol zu den manchmal konservativ gehaltenen Biennalen der „reinen Künste“ in Venedig?

Der aus dem Katalog resultierende Eindruck ist, dass die Biennalen von Monza die Gratwanderung zwischen Régime und Suche nach Innovation darstellten. Der Schatten des Faschismus wird hier lediglich als Nebensatz wiedergegeben. Dennoch ist seine Präsenz stets zwischen den Zeilen zu lesen, wenngleich die Dokumente in dieser Hinsicht nicht überinterpretiert werden. Ein Beispiel dafür gibt Anty Pansera mit Marangonis nicht verlängertem Arbeitsvertrag und seiner plötzlichen „damnatio memorie“: „[...] dal 1930, e sino alla morte, nel 1941, il nome di Marangoni, non figura in nessuna manifestazione ufficiale, di lui non si hanno notizie pubbliche: probabilmente il suo credo socialista e umanitario non era più gradito al trionfante regime [...]“ (S. 20).

Mit dem vorliegenden Buch, einer wissenschaftlichen Anthologie, haben die AutorInnen ein sehr praktisches Arbeitsinstrument verfasst, das weit über die Ausstellung, die es in erster Linie thematisiert, hinaus geht: Nicht nur die Qualität der ausgewerteten Dokumentation, sondern auch das handliche Format und die benutzerfreundliche Gestaltung kommen jedem Leseranspruch entgegen. Die Arbeit der AutorInnen zielt darauf ab, die Eigenständigkeit der Biennalen darzustellen, mit der Offenbarung möglichst all ihrer Aspekte. Diese Darstellung ist vollständig und gelungen, zeigt aber die innerlichen Widersprüche dieser Ausstellungen, die die AutorInnen in ihren Texten anscheinend nahezu leugnen möchten. Weder der sozialistische Geist noch eine homogene Einheit der Präsentationen kommen hier ans Licht. Vielmehr erhält die Tatsache Gewicht, dass das elitäre Bel Design, wie wir es heute kennen, in dieser moderaten Entwicklung ihren Ursprung hatte - einer nur scheinbar schönen heilen Welt der Kleinstadt, in der Künstler neben Architekten, Futurismus neben Novecento, Liberty und Art Déco ausgestellt waren, und der Razionalismo noch nicht durch den Schulterschluss mit dem Regime kompromittiert war.

[1] Die Veränderung im Namen - von Biennale zu Triennale - und in der Jahreszählung sind auf Eingriffe der faschistischen Regierung zurückzuführen. [2] Ermanno Migliorini: La letteratura critica, in: Pontus Hulten/Germano Celant (Hrsg.): Arte Italiana 1900-1945. Presenze. Ausstellungskatalog Venedig, Palazzo Grassi, 1990, S. 219.

Pansera, Anty (Hrsg.): 1923 - 1930. Monza verso l'unità delle arti ; oggetti d'eccezione dalle esposizioni internazionali di arti decorative ; [Monza, Arengario, 14 marzo - 9 maggio 2004], Cinisello Balsamo: Silvana Editoriale 2004
ISBN-10: 88-8215-733-4, 207 S

Empfohlene Zitation:
Donatella Cacciola: [Rezension zu:] 1923-1930: Monza verso l‘unità delle arti. (Monza, Arengario, 14.03.–09.06.2004). In: ArtHist.net, 20.04.2005. Letzter Zugriff 28.03.2024. <https://arthist.net/reviews/476>.

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