REV-CONF 27.07.2004

Giorgione Colloquium

Kunsthistorisches Museum, Wien, 11.07.2004

Bericht von Marianne Koos, Universität de Fribourg
Redaktion: Livia Cárdenas

Giorgione Colloquium

Anläßlich der Schließung der Ausstellung „Giorgione. Mythos und Enigma“ des Kunsthistorischen Museums in Wien fand am 11. Juli 2004 im Medienraum des Hauses ein Kolloquium über das Oeuvre Giorgiones statt.[1] Die Wiener Kuratorin der Ausstellung, Sylvia Ferino-Pagden hatte acht renommierte SpezialistInnen eingeladen, um unter dem Eindruck der ausgestellten Originale einige der zahlreichen offenen Forschungsfragen in gemeinsamer Diskussion zu erörtern und zu resümieren.

Giorgione da Castelfranco gehört zu jenen Malern des Cinquecento, in deren Werk bis heute grundlegende Fragen der Zuschreibung und ikonographischen Deutung nicht zur Zufriedenheit geklärt werden konnten. Zwar überliefern die wichtigsten Vitenschreiber und frühe Sammlungsinventare zahlreiche Daten, die jedoch mit dem erhaltenen Bildmaterial in vielerlei Hinsicht in Widerspruch stehen.[2] Demgemäß hatte es - ungeachtet der weitreichenden Entwicklungen in unserem Fach - durchwegs seine Berechtigung, dass auf dieser Tagung allen voran aus kennerschaftlicher Perspektive Fragen der Autorschaft und inhaltlichen Interpretation diskutiert wurden, die in mehreren Fällen auf eine allgemeine Reflexion über mögliche methodische Herangehensweisen, aber auch auf eine Hinterfragung der Bedeutung des Künstlers in der Geschichte der Malerei schlechthin zielten.

Als Anstoß für eine solche kennerschaftliche Diskussion benannte Sylvia Ferino-Pagden in ihrer Einleitung einige Veränderungen, die sich für sie als Kuratorin angesichts der - im übrigen durch interessante Verwandtschaften und rückseitig präsentierte Röntgenbilder sehr anregend gehängten - Originale in der Ausstellung ergeben hatten; Verschiebungen, welche durchwegs die dominante Meinung der aktuellen Forschung spiegeln dürften: So beurteilte sie, dezidierter als im Katalog, das von manchen Forschern heute noch Giorgione zugeordnete „Bildnis eines Mannes in Rüstung mit Pagen“ der Uffizien in Florenz (fälschlich als „Gattamelata“ identifiziert) als oberitalienische Kopie nach einem verlorenen Original Giorgiones.[3] Das „Bildnis eines jungen Mannes“, heute in Berlin ( „ Giustiniani “), das Ferino – wie die meisten Kenner - fraglos in das Oeuvre Giorgiones gereiht hatte, erwies sich in unmittelbarer Nachbarschaft zum Gemälde der „Laura“ oder des „Knaben mit Pfeil“ eher als ein Frühwerk Tizians (wie etwa von Muraro oder Rosand seit längerem vorgeschlagen).[4] Und auch das Bildnis eines „Jungen Mannes“ (gen. „Brocardo“, heute Szépmüvészeti Múzeum, Budapest), das im Kernbereich der Ausstellung gehängt war, beurteilte sie nicht mehr als ein Werk Giorgiones, sondern, wie im Katalog vorgeschlagen, als ein Bild Carianis aus dessen besten Tagen.[5] Schon hier zeigte sich, was als allgemeine Tendenz der Tagung zu beobachten war: die Überzeugung, dass bei kritischer Betrachtung die geringe Zahl der Giorgione zuschreibbaren Werke weiter reduziert werden müsse.

Den Beginn der Vorträge von eingeladenen Spezialisten machte Charles Hope, Direktor des Warburg Institute in London, mit Überlegungen zum Geburtsdatum Giorgiones, das auf der Basis von Vasaris Viten auf 1477/78 festgelegt worden ist. Wie Hope in seinem ebenso brillianten wie provokativen Vortrag anhand zahlreicher Beispiele deutlich machte, enthalten Vasaris Viten erstaunlich viele Fehler und Konjekturen, welche das allgemein akzeptierte Geburtsdatum als „freie Erfindung“ erscheinen lassen. Hope argumentierte diese seine Sicht mit dem Hinweis auf die starken Veränderungen zwischen der ersten und der zweiten Version der Viten, die er mit den wechselnden Informanten Vasaris erklärte. Während Vasari sich in seiner ersten Version von 1550 größtenteils auf Angaben von Giovanni da Castel Bolognese verlassen haben dürfte (wobei Vasaris eigene Reise in die Lagune vor 1546 noch keiner systematischen Sammlung von Daten gegolten habe), basierte die zweite, 1568 publizierte und bei weitem exaktere Ausgabe auf Informationen des venezianischen Botschafters und Freundes von Vasari, Cosimo Bartoli, sowie auf Angaben von Tizian, der die zuverlässigsten Daten zum dritten Buch geliefert habe. Einige Passagen seien also nicht von Vasari selbst, sondern von anderen Personen beigesteuert worden. Auch in Anbetracht der Inschrift auf der Rückseite von Giorgiones „Laura“ des Wiener Kunsthistorischen Museums, die Giorgione nicht als einen eigenständigen Meister, sondern als „Kollegen“ Vincenzo Catenas nennt, schlug Hope ein Geburtsdatum um 1485 vor. Das bedeutet eine „Verjüngung“ Giorgiones, welche die geringe Anzahl von dessen Werken in ein angemesseneres Licht rücken würde. Zuüberlegen bliebe gleichwohl, wie sich diese „Verjüngung“ Giorgiones mit anderenüberlieferten Daten vereinen ließe, aber auch, welche Konsequenzen diese für Giorgiones Stellung als Künstler in Venedig und dessen Verhältnis zu dem dann kaum vier/fünf Jahre jüngeren Tizian hätte.

Einem anderen Mythos aus Vasaris Viten widmete sich Mauro Lucco (Università degli Studi, Bologna) in seinem Beitrag, nämlich der künstlerischen Herkunft Giorgiones aus der Werkstatt von Giovanni Bellini. Wie Lucco - in Rückgriff auf eine Datenbank der Scuola Normale Superiore di Pisa von reflektorgrafischen Analysen norditalienischer Kunstwerke der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts - argumentierte, bediente sich Giorgione zur Anlage seiner Arbeiten einer mit freier Hand und Pinsel gefassten Unterzeichnung, wie sie auch Giovanni Bellini und seine Werkstatt - allen voran in den späteren, weniger detailliert vorbereiteten Werken - einsetzten; eine Technik, die sich etwa von Lorenzo Costas Vorbereitung der Leinwand mit großem Pinsel und unebener Imprimitur deutlich unterscheide. Diese spezifische technische „Handschrift“, die vom Künstler verinnerlicht und automatisiert werde, und also ein untrügliches Indiz für die Identität eines Künstlers darstelle, sei ein Charakteristikum, so Lucco, das durchwegs für Giorgiones Ausbildung bei Giovanni Bellini spreche, wie dies neben Vasari noch ausführlicher Ridolfi berichtet. Wenngleich dies eine These ist, die auch an der mit freiem Auge wahrnehmbaren Evidenz genauer zu durchdenken wäre, machte Luccos Beitrag deutlich, wie sehr es sich lohnt, die Aufmerksamkeit auf maltechnische Aspekte zu erweitern, die spätestens mit der jüngsten konkreten Monographie über Giorgione von Jaynie Anderson zurecht in den Fokus der meistdiskutierten Fragen über den Maler gerückt sind.[6]

Alessandro Nova (Goethe-Universität, Frankfurt a.M.) befasste sich in seinem thesenreichen Beitrag über „Giorgione und Tizian am Fondaco dei Tedeschi“ zum einen mit der Frage des tatsächlichen Architekten dieses zentralen Hauses der deutschen Kaufleute in Venedig, zum anderen mit der Frage des bis heute ungeklärten Programms des nur noch in Fragmenten erhaltenen Freskenzyklus. Wie Nova argumentierte, müsse entsprechend den erhaltenen Dokumenten aufgrund der schlichten Struktur und der technisch schwierigen Bauaufgabe - wider anderslautenden Überlieferungen in den Viten und kunsthistorischer Spekulationen - von einer Zusammenarbeit zwischen dem planenden Architekten, dem Deutschen Hieronymus (Gerolamo Tedesco), und den die technische Ausführung garantierenden venezianischen Baumeistern Giorgio Spavento und Antonio Scarpagnino ausgegangen werden. Hinsichtlich des ungeklärten ikonographischen Programms der Fassade schlug Nova hingegen vor, dieses nicht nur in Hinblick auf die Benutzer, sondern auch auf die verschiedenen Rezipientengruppen, insbesondere die Magistrate am gegenüberliegenden Ufer des Rialto, zu erwägen.Wie er anhand des überlieferten Materials vorschlug, dürfte es sich um ein Programm der sieben Planeten gehandelt haben, von Planetengöttern also, die zugleich mit den sieben Metallen verbunden wurden. Das wäre ein Programm, das sowohl dem im Fondaco betriebenen Handel der deutschen Kaufleute entspräche - die zuallererst eben mit diesen Metallen handelten -, als auch den venezianischen Magistraten und ihrer Beschäftigung mit Geldgeschäften entgegenkäme. Für die „Normalbesucher“ des Rialto wäre zudem die Botschaft enthalten gewesen, dass unter der friedlichen Herrschaft des Staates der Kommerz floriere. Diese originelle Deutung, die sowohl inhaltlich wie methodisch neue Wege einschlägt, führt auf interessante Weise über das hinaus, was Giovanna Nepi Scirè und andere in ihren astrologischen Interpretationen der Fresken vorgeschlagen hatten.[7] Dagegen spricht auch nicht wirklich die von Ridolfi überlieferte Präsenz von Säulenperspektiven und Männern auf Pferden, auf die Paul Holberton (als ausgewiesener Giorgionespezialist und aufmerksamer Zuhörer im Publikum) in der Diskussion hinwies, Motive, die das zentrale Programm - wie in anderen von Nova erwähnten norditalienischen Zyklen - ergänzt haben könnten. Sodass es durchwegs denkbar scheint, dass der Fondaco keineswegs zu jenen Gebäuden zu zählen ist, die kein ikonographisches Programm hatten, wie etwa Rearick meinte, sondern ein loses Programm aufwies, das allerdings von einem strikte ikonographische Zyklen gewohnten Florentiner wie Vasari nicht verstanden werden konnte.

Die erste Sektion des Nachmittags widmete sich in interessanter Zusammenstellung Fragen der Ikonographie in Hinblick auf die männerbündischen Strukturen der venezianischen Kultur um 1500. Salvatore Settis (Scuola Normale Superiore, Pisa) argumentierte in erweiterter Hinsicht im Sinne seiner einflussreichen These des „verborgenen Sujets“ im Werk Giorgiones. Vorerst galt sein Vortrag einer Deutung des Inventareintrags von 1601 zum Gemälde der „Vecchia“ (Galleria dell'Accademia, Venedig), das dort als von einem Deckel mit einem in schwarzes Leder gekleideten Mann geschützt beschrieben wird. Wie Settis anhand von Männerbildnissen mit Inschriften zur Vergänglichkeit - und gegen Bernard Aikemas anderslautende Argumentation zu dieser Frage im Wiener Katalog - argumentierte, hätte diese ungewöhnliche Kombination, welche die Tradition einer allegorisierenden Darstellung als Deckel eines individuellen Porträts verkehrt, durchwegs ihre Richtigkeit gehabt.[8] Diese Sicht kann kaum so einfach zurückgewiesen werden, bedenkt man die Identifikation der „Vecchia“ in früheren Inventaren als individuelles Porträt von „Giorgiones Mutter“, und die Möglichkeit, dass Giorgiones Gemälde im 17. Jahrhundert so hoch geschätzt war, das es als das eigentlich zu schützende Werk betrachtet wurde. Erstaunlicher scheint beinahe, dass dieses relativ große Gemälde der „Vecchia“ (ohne Rahmen 68 x 59 cm) überhaupt einen „coperto“ bekommen haben sollte.

In der zweiten Hälfte seines Vortrages befasste sich Settis mit der Ikonographie des idealen Knabenbildnisses. Neben einer Bestimmung des „Knaben mit Pfeil“ als „Knabe in Gestalt eines Hl. Sebastian“ – eine Identifikation, welche auf die Forschungsergebnisse aus dem Katalog leider nicht einging - identifizierte er den „Knaben mit Helm (?)“ der Ambrosiana (eine andere Kopie des Gemäldes befindet sich in der Sammlung Knoedler) unüberzeugend als „Jungen Christus mit der Weltenkugel“.[9] Dass Christus in dieser Ikonographie die Kugel nicht in der Hand halten muss, sondern auch seine Hand darauf gelegt haben kann, wie im Bildnis der Ambrosiana, das konnte Settis über Vergleiche mit anderen, ikonographisch eindeutigen Gemälden dieses Sujets durchwegsüberzeugend darstellen. Dennoch blieb seine Interpretation fragwürdig, zumal die obligate Zeichnung der Erdteile auf der Weltenkugel im Bildnis der Ambrosiana fehlt und das Gewand des Knaben mehr dem eines Hirten ähnelt, als dem charakteristisch antikisierenden des Christusbildes. Dass gewollte Verfremdung, wie von Settis bereits in seinem ebenso gefeierten wie kritisierten Buch über die „Tempesta“ argumentiert,[10] kaum wirklich zu den Techniken Giorgiones gehört haben dürfte, macht eben dieses Beispiel einmal mehr deutlich, das bei allen Schwierigkeiten der Interpretation überzeugender als eine Kopie nach einem unverstandenen (vielleicht beschädigten) Original (etwa der Ikonographie eines „David mit dem Haupt des Goliath“) bestimmt wäre, oder aber – wie Holberton in der Diskussion betonte - als das, was tatsächlich zu sehen ist: ein „Knabe mit einer goldenen Kugel“, einer Sphära etwa, was auf die Ikonographie der Fortuna deuten würde.

Dem männlichen Doppelporträt und insbesondere dem „Doppelporträt Ludovisi“ des Palazzo Venezia in Rom galt der Vortrag von Jaynie Anderson (School of Art History, Cinema, Classics and Archeology, University of Melbourne, Victoria) mit dem vielversprechenden Titel „Bitter-sweet Love: Giorgione's Portraits about masculine Friendship“. Während männliche Doppelporträts in der Kunst jener Jahre eher eine Seltenheit seien, kämen sie in Giorgiones Oeuvre auffällig häufig vor - und hier zählte Anderson so umstrittene Gemälde wie das „Bildnis des Giovanni Borgherini mit seinem Lehrer Tomeo“ der National Gallery in Washington oder eben das „Doppelporträt Ludovisi“ des Palazzo Venezia in Rom zu eigenhändigen Werken des Malers. Das sei eine Eigenart, die Anderson - in Referenz auf Stanley Chojnacky - den stark homosozialen Strukturen der venezianischen Gesellschaft jener Zeit zuschrieb. Wie sie zurecht betonte, wäre es unangemessen, diese Bildnisse alle in einem homosexuellen Rahmen zu betrachten; eine Feststellung, die allerdings weitere Ausführungen zur strikten Alterskasuistik in homosexuellen Relationen jener Zeit vermissen ließ, wie sie Guido Ruggiero oder Michael Rocke in ihren exzellenten Arbeiten einsichtig dargelegt haben.[11]

Auch überzeugte Andersons Interpretation des emotionalen Ausdrucks des jungen Mannes im Vordergrund des „Doppelporträts Ludovisi“ als Trauer über Ablehnung in der Liebe nicht, zumal die Liebe - von der Antike bis zu der im Cinquecento aktuellen und von Anderson nicht näher erwähnten Liebeslyrik - an sich in ihrem Wesen als bitter-süß begriffen wurde. Nicht die Melancholie ob einer Zurückweisung, sondern die Reflexion über das ambivalente Wesen der Liebe selbst scheint hier der thematisierte Gegenstand. Zweifellos berührte Anderson mit ihrem Vortrag ein sehr erwägenswertes Thema gerade der Kunst Giorgiones und dessen künstlerischen Umkreises. Unter mangelnder Beachtung der lyrischen Liebeskultur jener Jahre und der komplexen Strukturen der homosozialen Gesellschaft Venedigs, die von strikt männerbündischen Beziehungen (oft über das Tauschobjekt der Frau) bis zu homosexuellen Relationen alle Variationen kannte, droht gleichwohl die Gefahr, diese hoch sensuellen Porträts und Bildnisse von Männern und Knaben in Venedig um 1500 unter dem sublimierenden Deckmantel von Freundschaft ihrer eigentlichen kulturgeschichtlichen Brisanz zu berauben und ihre Bedeutung in Relation zum damals aktuellen Liebesdiskurs und den verwandten „Bella Donna“ Bildnissen zu verkennen.[12]

Einer Interpretation des Gemäldes eines „Mannes in Rüstung“ ( „Girolamo Marcello“) des Kunsthistorischen Museums in Wien galt der Vortrag von David A. Brown (National Gallery of Art, Washington). Brown unterstützte die Identifikation des Gemäldes mit demjenigen, das Marcanton Michiel 1525 in der Sammlung Girolamo Marcellos gesehen hatte und meinte, dass es sich - etwa in Referenz auf antike Quellen wie Plinius, Juvenal oder Tertulian – um das Bildnis Marcellos in Gestalt eines römischen Triumphators handelte.[13] Tatsächlich hatte Marcello, wie Brown betonte, 1509/10 an den Kämpfen gegen die Liga von Cambrai in Padua teilgenommen, venezianische Patrizier konnten die Funktion von militärischen Koordinatoren übernehmen. Gegen diese Interpretation spricht allerdings nicht nur die Eigenart, dass Michiel bei seiner Beschreibung des Porträts im Hause Marcello den alten häßlichen Mann nicht erwähnt, die Identifikation des Wiener Gemäldes mit Michiels Inventareintragung also bereits problematisch ist. Auch muss betont werden, dass Helebardiere zum Fußvolk gehörten, also einem militärischen Rang entsprangen, der keineswegs mit Triumphatoren zu verbinden ist – der „bastone“, den ein Stich nach dem erweiterten Bild in der rechten Hand des Mannes ergänzt, hat im originalen Gemälde keine Grundlage. Vor allem aber lässt die durch Röntgenaufnahmen enthüllte Komposition unter dem schlecht erhaltenen Gemälde ein derbes Bildnis eines Mannes mit großem Hut erkennen, das der oberitalienischen Kunst eines späteren Jahrzehnts des Cinquecento zu entstammen scheint, sodass auch bei diesem Gemälde an der Autorschaft Giorgiones schlechthin gezweifelt werden muss.[14] Dafür spricht zudem das äußerst enge Verhältnis der Komposition zu einer Zeichnung Leonardos sowie die maltechnischen Untersuchungen, die - wenn nicht durch die Übermalung der darunterliegenden Kompostion bedingt - eine andere Form der Grundierung enthüllt haben als für Giorgione üblich.[15]

Einer grundlegenden Diskussion ikonographischer Herangehensweise, ja den Grenzen der Ikonologie am Beispiel des Werks von Giorgione, war Augusto Gentilis Vortrag gewidmet (Università degli Studi, Venezia). Wie Gentili betonte, wäre es bereits ein Gewinn, wenn der Kontext auf figurativer Ebene den schwierig zu rekonstruierenden, auf vielen Konjekturen basierenden kulturellen Kontext bestätigen könne. Dies sei etwa beim Gemälde der „Drei Philosophen“ des Kunsthistorischen Museums in Wien der Fall, das heute allgemein als ein Bild auch der drei Religionen akzeptiert ist, ein Gemälde, in dem Gentili im Rahmen seiner gelehrten astrologischen Interpretation seine Bestimmung des jungen sitzenden Mannes als Antichrist in Bezug auf zahlreiche Holzschnittillustrationen dieses Sujets zu untermauern suchte.[16] Zum anderen galt seine Aufmerksamkeit dem Gemälde der „Tempesta“, das er - ohne eine nähere Interpretation dieses bis heute ikonographisch stark umstrittenen Bildes vornehmen zu wollen - in den Kontext motivisch verwandter, als „Überfall“ titulierter Gemälde nach Giorgione stellte,[17] sowie demjenigen der „Vecchia“, in dem Gentili den Fokus auf das Gewand der alten Frau lenkte. Wie Gentili meinte, sei das weiße, über die Schulter gelegte Tuch das charakteristische einer Amme, die Frau also als Ernährerin repräsentiert. Das ist eine interessante Interpretation, die (wenn sie auch dem Vergleich mit der stillenden Frau in der „Tempesta“ kaum standhalten kann, zumal ein solches zivilisatorisches Mittel nicht zu dieser Aktfigur in pastoralem Ambiente passt) auch insofern erwägenswert ist, zumal das Gemälde in den ersten Inventaren als „Mutter Giorgiones“ genannt wird.[18]

Bernard Aikema schließlich beendete die Reihe der Vorträge mit einem – nicht minder anregenden wie provokativen - Vortrag, welcher der Seicento-Rezeption Giorgiones als einem der größten Maler schlechthin gewidmet war. Wie Aikema argumentierte, hätte die Kunsttheorie des 17. Jahrhunderts und insbesondere Ridolfi in ihren Viten Giorgiones mehr die Ideale ihrer eigenen Zeit formuliert, denn die Kunst des Malers wirklich gekannt und beschrieben. Zahlreiche Bilder, die Ridolfi erwähnt, scheinen eher dem Werk eines Rezipienten von Giorgione, Della Vecchia, zu entspringen, als den Bildern Giorgiones selbst (oder dem, was man damals für Werke Giorgiones hielt, u.a. auch Werke Tizians). Die Unbestimmtheit von Giorgiones Leben und Werk hätten eine solche Klitterung erlaubt und nahegelegt, die gleichwohl mehr der eigenen Nobilitierung galt, denn als zuverlässige Quelle zu verstehen ist. Wie Aikema meinte, übertrieb die Kunsttheorie des 17. Jahrhunderts die Bedeutung von Giorgiones Werk und es sei zu überlegen, inwiefern dies nicht auch für die heutige Forschung Gültigkeit habe.

Dem konnten die SpezialistInnen im Publikum freilich nur mit einem selbstironischen Lächeln zustimmen, wenngleich man - wie die Vorträge und Diskussionsbeiträge gezeigt hatten - angesichts der dünnen Quellenlage nur sehr ungern auf Ridolfis ausführlichen Bericht verzichten wollte. Zweifellos hätte die Kunstwissenschaft ein großes Problem weniger, ließe sich nachweisen, dass es Giorgione nie gegeben hat, seine Gestalt insgesamt ein Mythos ist, wie manche Kunstwissenschaftler nach erschöpfenden Diskussionen gerne lächelnd verlauten lassen. Die Intensität der Diskussion freilich ließ keinen Zweifel darüber, dass die Kunst dieses immer noch in vielen Punkten rätselhaften Malers allemal die Gemüter zu erhitzen und zu beschäftigen versteht - und das bereits scheint Garantie genug für eine weitere enthusiastische Auseinandersetzung mit Giorgione.

Das großzügige interne Rahmenprogramm, das teils auch für nicht vortragende SpezialistInnen zur venezianischen Malerei geöffnet wurde (u.a. waren auch Peter Humfrey oder Beverly Louise Brown gekommen), ließ so manche im Entstehen befindliche Arbeit und Meinung an den Tag treten, auf deren baldige Publikation nur mit Spannung gewartet werden kann. Besonders wertvoll war zudem die interne Führung durch die Ausstellung, veranstaltet von der äußerst fachkundigen Chefrestauratorin des Hauses, Elke Oberthaler, die in ihren maltechnischen Untersuchungen nicht nur neue Ergebnisse zu Tage gefördert hatte, sondern auch unmittelbar vor Ort wichtige Informationen zur Entscheidung in offenen Fragen der Giorgioneforschung beitragen konnte. Diese Diskussion vor den Originalen kann als Höhepunkt der Veranstaltung betrachtet werden, eine seltene Gelegenheit des intensiven Austausches, bevor die Gemälde - wie sie in dieser reichen Zusammenstellung wohl kaum je wieder zu sehen sein werden - in alle Richtungen an ihre Aufbewahrungsorte zurückgesandt wurden. Die Liebhaber der venezianischen Renaissancekunst seien gleichwohl auf die nächste große Ausstellung zur venezianischen Malerei im Wiener Kunsthistorischen Museum verwiesen, die ab Herbst 2006 und in Zusammenarbeit mit der National Gallery in Washington Werke von Bellini über Giorgione bis Tizian zeigen wird, und weitere intensive Auseinandersetzungen erwarten lässt.

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Anmerkungen:

[1] Ausstellung vom 23.3.-11.7.2004, unter Konzeption und wissenschaftlicher Leitung von Sylvia Ferino-Pagden und Giovanna Nepi Scirè. Als Tauschobjekte für das Gemälde der „Drei Philosophen“ und der „Laura“, welche das Kunsthistorische Museum über den Winter nach Venedig entliehen hatte, kamen die „Vecchia“ und das bislang nur in der Accademia in Venedig zu sehende Gemälde der „Tempesta“ nach Wien. Diese Leihgaben, aber auch die Erweiterung mit anderen Werken aus dem Umkreis Giorgiones machten die Wiener Ausstellung zu einem der schmäleren venezianischen Version kaum vergleichbaren Ereignis. Vgl. den Katalog Giorgione. Mythos und Enigma, hg. v. Sylvia Ferino-Pagden und Giovanna Nepi Scirè, Kunsthistorisches Museum Wien, 23. März bis 11. Juli 2004, Mailand 2004.

[2] Eine Zusammenstellung der bekannten Dokumente und Quellen über Giorgione findet sich bei Jaynie Anderson, Giorgione. The Painter of ‚Poetic Brevity'. Including catalogue raisonné, Paris und New York 1997 (frz. Ersterscheinung 1996), S. 361-377.

[3] Sylvia Ferino-Pagden, „Giorgione zugeschrieben, Porträt eines Ritters mit seinem Knappen“, in: Ausst.-Kat. Wien 2004 (wie Anm. 1), Kat. Nr. 11, S. 208-210.

[4] Francesca Del Torre Scheuch, „Giorgione da Castelfranco, Bildnis eines jungen Mannes (Giustiniani-Portrait)“, Ausst.-Kat. Wien 2004 (wie Anm. 1), Kat. Nr. 4, S. 176-178.

[5] Marianne Koos, „Giorgione da Castelfranco zugeschrieben, Bildnis eines jungen Mannes (gen. ‚Brocardo')“, in: Ausst.-Kat. Wien 2004 (wie Anm. 1), Kat. Nr. 16, S. 228-231.

[6] Anderson (wie Anm. 2). Die später erschienene Monographie von Enrico Guidoni, Giorgione. Opere e significati, Rom 1999 dürfte sich in ihren Ergebnissen nicht durchsetzen, jene der ausgewiesenen Giorgionekenner Terisio Pignatti und Filippo Pedrocco, Giorgione, München 1999, kaum neue Ergebnisse bringen.

[7] Vgl. die Zusammenfassung des Forschungstandes von Sandra Rossi, „Giorgione da Castelfranco, Nuda“, in: Ausst.-Kat. Wien 2004 (wie Anm. 1), Kat. Nr. 13, S. 215-218.

[8] „[...] un quadro de una Donna Vechia [...], il coperto del detto quadro depento con un'homo con una veste de pelle negra“. Vgl. Giovanna Nepi Scirè, „Giorgione da Castelfranco, La Vecchia (Alte Frau)“, in: Ausst.-Kat. Wien 2004 (wie Anm. 1), Kat. Nr. 14, S. 219-222, hier S. 219. Bernard Aikema, „Giorgione und seine Verbindung zum Norden. Neue Interpretationen zur Vecchia und zur Tempesta“, in: Ausst.-Kat. Wien 2004 (wie Anm. 1), S. 85-103, hier S. 89ff. Wie Aikema - über den Hinweis auf die Typologie des Porträts im 15. und 16. Jahrhunderts und einen Vergleich mit Dürers „Avaritia“ auf der Rückseite des Brustbildes eines Mannes im Wiener Kunsthistorischen Museum - vorschlägt, wäre der Inventarist einem Irrtum erlegen. Das Gemälde der Vecchia könnte hingegen ursprünglich das „timpano“ zu einer Hälfte eines verlorenen Doppelporträts gebildet haben.

[9] Vgl. Marianne Koos, „Giorgione da Castelfranco, Knabe mit Pfeil“, in: Ausst.-Kat. Wien 2004 (wie Anm. 1), Kat. Nr. 6, S. 184-187. Eine Interpretation des Bildnisses als „Knabe als Hl. Sebastian“ findet sich bereits bei Anderson (1999), wie Anm. 5, S. 300. Dort auch zum Bildnis der Sammlung Knoedler (als „Page mit einer Hand auf einem Helm“ tituliert) und einer weiteren Kopie dieses Knabenbildnisses in der Sammlung Suida-Manning in New York, S. 311. [10] Salvatore Settis, La „Tempesta“ interpretata. Giorgione, i committenti, il soggetto, Turin 1978.

[11] Ruggiero, Guido, The Boundaries of Eros. Sex Crime and Sexuality in Renaissance Venice, New York und Oxford 1989 (Ersterscheinung 1985). Michael Rocke, Forbidden friendship: Homosexuality and male Culture in Renaissance Florence, New York 1996.

[12] Dieses Feld ist Gegenstand meiner Dissertation über das lyrische Männerporträt in der venezianischen Malerei des frühen 16. Jahrhunderts (Frankfurt a.M. 2000/01), die demnächst in gedruckter Form erscheinen soll. Zudem sei auf meinen in Vorbereitung befindlichen Artikel über das ideale Knabenbildnis in der venezianischen Malerei des frühen 16. Jahrhunderts verwiesen, das diese Doppelbildnisse von einem älteren und einem jüngeren Mann mit untersucht.

[13] „[...] lo ritratto de esso M. Hieronimo armato, che mostra la schena, insino al cinto, et volta la testa, fo de mano de Zorzo da Castelfranco“. Vgl. Sylvia Ferino-Paden, „Giorgione da Castelfranco, Der Krieger“, in: Ausst.-Kat. Wien 2004 (wie Anm. 1), Kat. Nr. 12, S. 212-214, hier S. 212.

[14] Vgl. die Abb. des Röntgens im Ausst.-Kat. Wien 2004, S. 212. Zu diesem Ergebnis führte die Diskussion vor dem Original und dem ausgestellten Röntgenbild mit Bernard Aikema, Alessandro Nova und Beverly Louise Brown.

[15] Vgl. Elke Oberthaler im Ausst.-Kat. Wien 2004 (wie Anm. 1), S. 269f. [16] Vgl. auch den Beitrag von Augusto Gentili, „Giorgiones Spuren. Die jüdische Kultur und die astrologische Wissenschaft“ im Ausst.-Kat. Wien 2004 (wie Anm. 1), S. 57-69. Eine andere, im Katalog abgedruckte Interpretation hat Brigitte Borchhardt-Bierbaumer vorgelegt, „Zur Aktualität toleranter Dialoge: Giorgione und Ramon Lull“, in: Ausst.-Kat. Wien 2004 (wie Anm. 1), S. 71-77.

[17] Der Wiener Katalog (wie Anm. 1) druckt in gekürzter Form die Interpretation der „Tempesta“ von Jürgen Rapp 1998 ab, „Die ‚Favola' in Giorgiones Gewitter“, S. 119-123, der das Gemälde - wenn auch unter den Deutungen in Hinblick auf ein traditionelles Sujet noch am wahrscheinlichsten - letztlich doch unüberzeugend auf die Ikonographie von „Paris und Oenone“ festzumachen versucht.

[18] „[...] retrato della madre di Zorzon de man di Zorzon“. Vgl. Giovanna Nepi Scirè im Ausst.-Kat. Wien 2004 (wie Anm. 1), Kat. Nr. 14, S. 219.

Empfohlene Zitation:
Marianne Koos: [Tagungsbericht zu:] Giorgione Colloquium (Kunsthistorisches Museum, Wien, 11.07.2004). In: ArtHist.net, 27.07.2004. Letzter Zugriff 24.04.2024. <https://arthist.net/reviews/445>.

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