REV-CONF 12.08.2004

Stadtformen

Centro Stefano Franscini, Monte Verità, 04.–09.07.2004

Bericht von Britta Hentschel

Workshop der Professur für Geschichte des Städtebaus. Institut gta, ETH Zürich

Im Zeichen der „Transdisziplinarität“ machte es sich der fünftägige Workshop des Graduiertenkollegs „Stadtformen. Bedingungen und Folgen“ der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich unter der Leitung von Vittorio Magnago Lampugnani und Matthias Noell zur Aufgabe, das „Forschungsobjekt Stadt“ aus verschiedenen Blickwinkeln zu untersuchen. Es wurde der Versuch unternommen, die Lücke zwischen der Stadtplanung und den wissenschaftlichen Disziplinen zu schließen. Theoretische und angewandte Forschungen sollten zusammengeführt und in den städtebaulichen und stadtplanerischen Diskurs eingebunden werden, da die heutige Stadtplanungsdiskussion oftmals Überlegungen zur konkreten Stadtform zugunsten ihrer technisch-quantifizierbaren Voraussetzungen übergeht. Die sukzessive thematische Verlagerung des Diskurses von der geisteswissenschaftlichen und historischen Stadt hin zur Denkmalpflege und zu weiteren angewandten Stadtplanungen wurde durch drei Exkursionen auf den Monte Verità (Harald Szeemann), nach Monte Carasso (Luigi Snozzi) und nach Ascona (Guido Tallone) auf äußerst anregende Weise komplementiert.

In seiner Begrüßung forderte Vittorio Magnago Lampugnani ein unbedingtes Interesse an der Form der Stadt und erweiterte den urbanistischen Forschungsradius auf die Architektur in allen Medien. Von dem Graduiertenkolleg, einem Pilotprojekt des Departements Architektur an der ETH Zürich als Veranstalter der Tagung erhoffe er sich eine gewisse Leitfunktion.

Eine Verortung des Workshops auf dem Monte Verità oberhalb des Lago Maggiore wurde einleitend von Bruno Maurer (ETH Zürich) unternommen, der die historischen und architektonischen Entwicklungen des Ortes kenntnisreich skizzierte. Ausgehend von einer Vegetarier- und Nudistenkolonie auf dem Monte Verità um 1900 kamen nach den Lebensreformern und Künstlern Ende der 20er Jahre moderne Architekten wie Emil Fahrenkamp und Carl Weidemeyer nach Ascona. Der Erfolg des Neuen Bauens manifestierte sich in Eduard Kellers berühmten „Ascona Bau-Buch“ (1934). Doch schon bald wurde Kritik an der städtebaulich regellosen Bautätigkeit laut, die die Grundlage für die heutige Zersiedelung des Gebiets bildet. Maurer ging auch der Frage nach der Legitimation der modernen Architektur im Tessin nach, da die klassischen Argumentationsketten des modernen Bauens in der Bergnatur nicht greifen. So wurde eine Parallelität zwischen traditioneller Tessiner Bauweise und dem Neuen Bauen behauptet, die - so Maurer - auch Sigfried Giedion vertreten haben mag.

Als erster Redner der Sektion „Die Stadt in den Medien“ lenkte Heinz Brüggemann (Universität Hannover) den Blick auf die Konstruktion urbaner Raumbilder in der europäischen Literatur von Clemens Brentano bis W.G. Sebald. Mittels synkretistischer Lizenz werden Phantasiearchitekturen und urbane Räume aus einem grotesken Chaos von Stilelementen entworfen. Eine Durchdringung und Überblendung verräumlichter Personen oder Zeiten wird literarisch in Szene gesetzt. Brüggemann schloss mit der Aufforderung an die Stadtplaner, sich auch der Literatur als Referenzpunkt zu widmen. Daran schloss der Beitrag von Hans-Georg von Arburg (Universität Zürich) an, der sich mit der literarisch-philosophischen Analyse von Innen- und Außenraum bei Walter Benjamin, Ernst Bloch und Siegfried Kracauer befasste. In den untersuchten Texten werde der traditionelle physiognomische Schluss vom Äußeren auf ein Inneres problematisiert, jedoch nicht als Methode aufgegeben. Arburg stellte heraus, dass es den drei Linksintellektuellen hierbei nicht um die Schaffung einer neuen Gesellschaft durch Architektur ging, obwohl sie der architektonischen Moderne nahe standen. Am Beispiel des Oeuvre des mittlerweile nur noch wenig rezipierten Avantgardeautors und Filmemachers Peter Weiss erläuterte Arnd Beise (Peter Weiss-Gesellschaft, Marburg) die Problematik der Fremdheit der Stadt und der Fremdheit in der Stadt - die beiden beherrschenden Themen für Weiss. Insbesondere der Film „Hägringen“ als kinematographische Umsetzung seines Texts „Der Fremde“ spiegelte dies wider und setzte sich mit dem Abriss des alten Zentrums von Stockholm in den 60er Jahren auseinander. Der Topos und Mythos der toten Stadt hingegen wurde von Matthias Noell (ETH Zürich) an Hand des Romans „Bruges-la-Morte“ (1892) von Georges Rodenbach untersucht. Bereits drei Jahrzehnte vor André Bretons „Nadja“ wurde die Erstausgabe von 35 Fotografien der Stadt Brüssel begleitet, die den Seelenzustand des Protagonisten illustrieren. Die Stadt avancierte durch ihre bildliche und sprachliche Präsenz im Roman Rodenbachs zur eigentlichen Hauptdarstellerin. Eine neue Sichtweise auf das Oeuvre Le Corbusiers eröffnete Christoph Schnoor (Auckland/Berlin), dem die Entdeckung großer Teile von Le Corbusiers frühestem Traktat „La construction des villes“ zu verdanken ist. Das unvollendete dreiteilige Manuskript, welches 1910/1911 in München entstand, offenbart die theoretischen Quellen des jungen Architekten und spiegelt eindrücklich seinen Konflikt zwischen dem Malerischen und Monumentalen wider. In einer vergleichenden Studie setzte sich Stephanie Warnke (ETH Zürich) mit der Wahrnehmung der Berliner Stadtwahrzeichen während des Kalten Krieges auseinander. Eindrucksvoll erläuterte sie die Genese der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche und ihres ostdeutschen Pendants, dem Fernsehturm am Alexanderplatz unter Berücksichtigung weiterer Hochhausprojekte, die die politischen Intentionen des jeweiligen Staates reflektierten.

Den langen Traditionsfaden der Analogie von Kunst und Natur aufgreifend, widmete sich Ole W. Fischer (ETH Zürich) unter dem Sektionsoberbegriff „Utopie und Planung“ der natürlich-organischen Architektursprache Henry van der Veldes. Der neue, individualistische Mensch im Sinne Nietzsches sollte in einem Haus als organische Einheit und einer neuen Stadt als einem Garten seine Entsprechung finden. Weiter ging jedoch Mascha Bisping (ETH Zürich) in ihrem Vortrag zur „bodenlosen Stadt“. Sie spannte einen weiten historischen Bogen vom Himmlischen Jerusalem über die Stadtutopien des 16. und 17. Jahrhunderts und den Beginn ins 20. Jahrhundert, als die Menschen begannen, den Luftraum zu erobern, bis hin zu den filmischen Stadtimaginationen des beginnenden 21. Jahrhunderts. Die spannende Thematik ließe sich auf Anregung der Workshopteilnehmer durch einen rezeptions- oder funktionsgeschichtlichen Ansatz noch konkretisieren. Mit der Frage nach der Rezeption der metabolistischen Architektur im Science-Fiction Manga der 80/90er Jahre fokussierte Diane Luther (ETH Zürich) Architektur als Handlungsträger in Comic und Animé. Insbesondere die im 20. Jahrhundert dreimal runderneuerte japanische Metropole Tokio entspricht dem asiatischen Vorstellungszyklus von Zerstörung und Neubeginn, der handlungsgenerierend für das Manga ist. Eine weitere Analogie von Realität und Utopie zeigte D.W. Dörrbecker (Universität Trier) in seinem Beitrag zum Maler und Ingenieur John Martin auf. Die Emphase Martins mahnender und Rettung projektierender, historischer Landschafts- und Architekturbilder schlug sich in einem praktischen Interesse für die Londoner Wasserversorgung nieder. Der finanzielle Erfolg seiner religiös motivierten apokalyptischen Gemälde ermöglichte ihm eine Konzentration auf praktikable hygienische Lösungsansätze für das London des späten 19. Jahrhunderts. Auf besonders amüsante und unterhaltsame Weise kulminierte die Sektion der architektonischen Utopien in Andreas Tönnesmanns (ETH Zürich) Vortrag zum erfolgreichen Gesellschaftsspiel Monopoly. In seinen jeweiligen Ländereditionen veranschauliche das Brettspiel gesellschaftliche Wunschsituationen und rekurriere dabei unbewusst auf die quadratischen Stadtentwürfe Dürers und Schickhardts.

Wirkung, Wahrnehmung und Lesbarkeit der Stadt von einem mobilen, d.h. motorisierten Betrachterstandpunkt aus zeigte Martino Stierli (ETH Zürich) als Hauptthemen der visuellen Stadtanalyse „Alameda Report“ (1977) von Robert Venturi und Denise Scott Brown auf. In einer detaillierten und scharfsichtigen Aufarbeitung des Textes stellte Stierli den visuell-kommunikativen Aspekt der Stadtform, die auch durch Werbetafeln generiert wird, heraus. Dahingegen plädierte Gerhard Ongyerth (Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege, München) für einen Bedingungszusammenhang zwischen Topografie und Stadterscheinung und stellte die denkmalpflegerische Methode der vorbereitenden Ortsanalyse wie Dorferhebungsbogen und Stadtinventar als staatliche Regulative des Städtebaus vor. Gabriela Barman-Krämer und Anne Pfeifer (ETH Zürich) gaben gemeinsam einen interessanten Einblick in das von Vittorio Magnano Lampugnani geleitete interdisziplinäre Forschungsprojekt „Netzwerk Stadt und Landschaft (NSL)“, das sich mit der Entwicklung und dem Wachstum von städtischen Agglomerationsräumen befasst. Sie formulierten als langfristiges Ziel ihrer Arbeit die Entwicklung eines vielversprechenden Manuals für den Umgang mit suburbanen Gebieten mittels eines Kanons an städtebaulichen Strategien.

Nach dieser Konzentration des Workshops auf die Planung und Analyse der Stadt setzte sich Sara Luzon (Madrid/ETH Zürich) mit der Form von Neudörfern im spanischen Landesinneren ab Mitte des 19. Jahrhunderts auseinander. Sie wies darauf hin, dass die innere Kolonisation bis zum Ende der Francodiktatur das beherrschende Thema der Städtebaupolitik Spaniens blieb und die Dorf- und Sozialstrukturen so nicht nur formal nachhaltig geprägt wurden. Auch Tiziana Ugolettis (Basel/ETH Zürich) Vortrag zum Riedtli-Quartier in Zürich setzte sich mit der Schaffung traditioneller Dorfbilder auseinander. Struktur und Architektur der Schweizer Dörfer wurden zum Leitideal des Heimatstils ab 1900. Ugoletti betonte, wie wichtig der Heimatstil gerade auch für die städtische Architektur gewesen sei. Marion Steiger (ETH Zürich) lenkte in ihrem Kongressbeitrag den Blick auf die Rolle der Architekten in der portugiesischen Architektur nach dem Militärputsch 1926. Daneben fokussierte sie an Hand einer Jahrzehnte schwelenden Denkmalsdebatte die Suche nach einem nationalen portugiesischen Stil, der zwischen ländlicher Wohnarchitektur und monumentalen Repräsentationsbauten zu suchen sei. Andres Janser (Museum für Gestaltung Zürich) präsentierte aufschlussreiche Einblicke in den Architekturfilm der italienischen Nachkriegszeit und verknüpfte damit die Frage nach der Form der Stadt mit der eingangs untersuchten Rolle und Darstellungsweise der Stadt in den Medien. Die Auffassung, dass Architekturdarstellung im Film der realen Raumerfahrung am nächsten käme, gipfelte in dem filmischen Städtebaukongress „Lo spazio visivo della città“ 1967, der vor allem die Sünden der Bauspekulation kritisch beleuchtete. Janser verwies dabei exemplarisch auf das Oeuvre von Tafuri und Rosi.

Unter dem Oberbegriff „Abnutzung und Deformation“ stellten Ines-U. Rudolph und Gabor Stark (tx-büro für temporäre architektur/Berlin) eigene und fremde Projekte und Lösungsansätze vor, die sich mit der perforierten Stadt auseinander setzen. Im Besonderen erklärten sie das Berliner „terrain vague“ als Chance zur Raumaneignung. Stadtentwicklung werde als urbane Freiraumnutzung und Transformation der Stadt begriffen. Ulrike Wendlands (Staatliches Konservatorenamt/Saarbrücken) Vortrag widmete sich der oftmals in der Öffentlichkeit angezweifelten Denkmalhaftigkeit der Architektur und der urbanen Räume der 60er und 70er Jahre. Da die Abrissspirale in Ost- und Westdeutschland bereits in vollem Gang sei, forderte Wendland eine dringende Diskussion über eine neue Ausweisepraxis, mit der die Denkmalpflege den Bauten und Bedürfnissen der Bewohner gerecht werden könne. Abschließend kam Arnold Bartetzky (Universität Leipzig) auf ein im Rahmen vieler den Workshop begleitenden Diskussionen erwähntes Phänomen zu sprechen: den Rückbau der deutschen Städte in beiden Teilen Deutschlands. Am Beispiel Leipzigs zeigte Bartetzky kenntnisreich die historischen Voraussetzungen, Problematiken und die unterschiedlichen Versuche zur Regulierung des Wohnungsleerstandes auf. Die heute angewandte Praxis des gnadenlosen Abrisses führe zur Auflösung der städtischen Strukturen, wohingegen ein sinnvoller Rückbau von außen nach innen erstmals seit der Industrialisierung ohne Erweiterungspanik zu den hochgelobten und viel beschworenen kompakten europäischen Städten führen könnte.

In der von Matthias Noell geleiteten Abschlussdiskussion wurde die alle Beiträge umspannende Frage nach den Stadtformen erneut aufgegriffen. Der schwer zu fassende Begriff scheint sich nur über Annäherungen aus vielen verschiedenen Richtungen bestimmen zu lassen. Eine nötige Differenzierung in Stadt- und Wahrnehmungsformen ergab sich im Zusammenspiel der transdisziplinären Vorträge. Insgesamt wurde der Workshop „Stadtformen“ von allen Teilnehmern sehr positiv, als anregend und erkenntnisreich bewertet. Da die angesprochenen Fragen und Problemstellungen weiterhin virulent bleiben werden und dieser Kongress den Diskussions- und Forschungsbedarf hinsichtlich der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unserer Städte gerade erst so inspirierend umrissen hat, kann man auf weitere Veranstaltungen und Projekte des Graduiertenkollegs „Stadtformen. Bedingungen und Folgen“ der ETH Zürich nur gespannt sein.

Empfohlene Zitation:
Britta Hentschel: [Tagungsbericht zu:] Stadtformen (Centro Stefano Franscini, Monte Verità, 04.–09.07.2004). In: ArtHist.net, 12.08.2004. Letzter Zugriff 28.03.2024. <https://arthist.net/reviews/441>.

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